Archiv 2020Bettels Rede zur Lage der Nation: „Häufiger verzichten, um später genießen zu können“

Archiv 2020 / Bettels Rede zur Lage der Nation: „Häufiger verzichten, um später genießen zu können“
Die Krise habe ihn gelehrt, dass es wichtig sei, „Luucht dohinner ze bréngen, wou et däischter ass“, meinte Premierminister Xavier Bettel  Foto: Editpress/Julien Garroy

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Dieser Text erschien zuerst am 14. Oktober 2020 als Nachbericht zu Premierminister Xavier Bettels Rede zur Lage der Nation. Wir teilen ihn heute erneut, um unseren Lesern die Möglichkeit zu geben, die Inhalte der Rede aus dem vergangenen Jahr mit der am heutigen Dienstag, 12. Oktober 2021, zu vergleichen.

Umfassender als in der Vergangenheit ging Premierminister Xavier Bettel gestern auf die Lage des Landes ein. Über die Hälfte der fast zwei Stunden langen Rede war den Folgen der Corona-Pandemie und den Erfolgen der Regierung bei ihrer Bekämpfung gewidmet. Die Planung der großen Steuerreform soll erst einmal ausgesetzt werden. Wohnungsnot und steigende soziale Ungleichheiten kamen nur am Rande zur Sprache.

Mit einem emotionalen Einstieg inszenierte Premierminister Xavier Bettel (DP) sich gestern in seiner Rede zur Lage der Nation wie gewohnt als Politiker, der nah an den Menschen ist. Dazu diente ihm die tragische Geschichte eines 46-jährigen Mannes, der nach seiner Erkrankung an Covid-19 keinen Sport mehr treiben kann. „Dutzende Gespräche“ habe er mit sogenannten „Frontline-Workers“ wie Sozialarbeitern, Lehrern, Krankenpflegern, Vertretern der Sozialpartner, Soldaten, Rettungskräften, Polizisten und vielen anderen geführt, erzählte Bettel. Dabei gelangte er zu der Erkenntnis, dass Luxemburg die Corona-Krise gut gemeistert habe. Der Premierminister konnte aber auch Unsicherheit und Zukunftsängste bei den Menschen spüren: „D’Leit froen sech, wéi et weidergeet a wéi d’Perspektive fir déi nächst Méint ausgesinn. Mir hunn d’Aufgab, Äntwerten doropper ze ginn a weider voll engagéiert ze bleiwen“, sagte der Premierminister.

Die essenzielle Antwort lieferte er ganz am Ende seines fast zweistündigen Monologs: „Et ass elo wichteg, nach méi dacks ze verzichten, fir spéider kënnen ze genéissen.“ Dabei kann von Verzicht eigentlich erst einmal keine Rede sein. Zumindest nicht in finanzieller Hinsicht, denn dank seines überdimensionierten und weiterhin viel kritisierten Finanzplatzes geht es Luxemburg selbst in Coronazeiten vergleichsweise gut. Trotz eines historischen Defizits mit einem Rückgang der staatlichen Einnahmen um fast eine Milliarde Euro und einer Schuld von 16 Milliarden Euro oder 27,4% des Bruttoinlandsprodukts (PIB) hält die Regierung 2021 die staatlichen Investitionen weiter hoch, um die Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen. 4,3% des PIB, sprich 2,7 Milliarden Euro, will der Staat 2021 investieren.

In diesem Jahr sollten die Investitionen bei 2,6 Milliarden Euro liegen. Seit Beginn der Corona-Krise hat die Regierung 10,4 Milliarden Euro zur Stabilisierung der Wirtschaft ausgegeben. Für den wirtschaftlichen Neustart kamen weitere 800 Millionen Euro hinzu. Um die Wirtschaftssektoren, die weiterhin von der Krise besonders betroffen sind, zu unterstützen, wird der „Fonds de relance et de solidarité“ bis zum 31. März 2021 verlängert, verkündete Bettel am Dienstag. Dazu gehören auch Direkthilfen, mit denen Betriebe ihre Ausgaben decken können.

Steuerkredit als Ausgleich für CO2-Abgabe

Verzichten müssen erst einmal die Bürger. Zum Beispiel jene, die von Kurzarbeit betroffen sind und nur 80% ihres Gehalts bekommen. Die Kurzarbeit wird für bestimmte Sektoren über das Ende des Jahres hinaus verlängert. Bislang wurden Anfragen von 14.810 Unternehmen für Kurzarbeit angenommen und 807 Millionen Euro vom Staat ausbezahlt. Verzichten müssen auch viele Jugendliche. Ende August waren fast 4.000 der insgesamt 18.500 Arbeitslosen jünger als 30 Jahre. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Anstieg von 34,5%. Deshalb wurde der Zugang zu Sozialmaßnahmen wie „Aide à l’embauche“, „Stage à l’embauche“ oder „ Contrat de réinsertion“ nun auch für Jüngere geöffnet. Im öffentlichen Dienst sollen 2021 rund 1.000 neue Stellen geschaffen werden.

Verzichten sollen die Bürger zumindest gelegentlich auf ihr Auto. Deshalb wird die Regierung an der im Rahmen des nationalen Klima- und Energieplans vorgesehenen CO2-Steuer festhalten. Diesel und Benzin werden ab kommendem Jahr um 5 Cent pro Liter teurer werden. In den Folgejahren sind weitere Erhöhungen geplant. Als sozialer Ausgleich soll ein weiterer Steuerkredit eingeführt und die „Allocation de vie chère“ um 10% erhöht werden.

Verzichten müssen auch die großen Investoren, die ihre Grundstücke und Immobilien in Luxemburg in „Fonds d’investissement spécialisés“ (FIS) oder ähnlichen Fonds geparkt haben. Ab dem 1. Januar 2021 sollen direkte oder indirekte Gewinne aus in Luxemburg angesiedelten Immobilien mit 20% besteuert werden, kündigte der Premierminister an. Für Gewinne aus Immobilien im Ausland bleiben die Regeln unverändert. Bislang wird nur eine „Taxe d’abonnement“ von 0,01% verlangt. Unattraktiver soll auch die Praxis der „Share Deals“ werden, die es erlauben, mit Immobilien steuerbegünstigt über Gesellschaften zu handeln. Den „Sociétés de gestion de patrimoine familial“ (SPF) werde explizit verboten, über andere Gesellschaften indirekt Immobilien zu halten.

Anwerbungsprämie statt „Stock Options“

Verzichten müssen auch die reichen „High-net-worth individuals“ (HNWI). Zumindest vordergründig. Das Regime der „Stock Options“ und „Stock Warrants“ wird laut Bettel zum 1. Januar 2021 abgeschafft. Um die HNWI nicht zu vergraulen und neue „Talente“ nach Luxemburg zu locken, wird den Finanzunternehmen eine Alternative angeboten. Hohen Angestellten können sie acht Jahre lang eine steuerlich begünstigte Anwerbungsprämie („Prime d’impatriation“) ausbezahlen, die eine gesetzliche Grundlage erhalten soll. Ferner soll 2021 eine „Prime participative“ eingeführt werden, mit der Angestellte steuerbegünstigt am Gewinn ihres Unternehmens beteiligt werden können.

Steuern, die nicht im Koalitionsvertrag stehen, will die Regierung nicht einführen. Deshalb solle im Haushaltsjahr 2021 nicht an der angekündigten großen Steuerreform geplant werden, sagte Bettel. Die Einführung einer gerechten Steuerpolitik an sich war jedoch sehr wohl Teil des Koalitionsabkommens.

Auf soziale Nähe und häufige Kontakte müssen alle verzichten, die sich nicht mit Covid-19 anstecken wollen. Auch wenn Luxemburg das Virus vergleichsweise gut im Griff zu haben scheint, wie Bettel feststellte. Der Altersdurchschnitt der Infizierten ist kontinuierlich gesunken. Weil die Menschen sich an die in den Gesetzen vorgeschriebenen Maßnahmen hielten, seien einstweilen keine Verschärfungen geplant. Komplett ausschließen könne er die Wiedereinführungen strengerer Regeln zwar nicht, doch ein zweiter Lockdown sei eher unwahrscheinlich, sagte der Premierminister, bevor er erneut sämtliche sanitären Maßnahmen und logistischen Anstrengungen Revue passieren ließ, die die Regierung in den vergangenen Monaten ergriffen hat. Selbst wenn die Neuinfektionen noch einmal ein besorgniserregendes Niveau erreichen sollten, sei das Gesundheitswesen gerüstet. Sowohl im Krankenhaus auf dem Kirchberg als auch im Escher CHEM stünden fertige „Infrastrukturen“ bereit, in denen jederzeit Covid-19-Patienten behandelt werden könnten. Mit dem liberalen Ärzteverband AMMD habe die Regierung eine Konvention unterzeichnet, um ein Netzwerk an Ärzten aufzubauen, das die Entwicklung der Corona-Pandemie und der Grippe überwachen soll. Jede Atemwegserkrankung solle der Gesundheitsbehörde gemeldet werden. Die EU-Kommission verhandele mit zehn Pharmakonzernen, um schnellstmöglich eine Impfung gegen Sars-CoV-2 zu beschaffen. Bereits im Dezember könne der erste Impfstoff in limitierten Stückzahlen verfügbar sein, sagte Bettel.

Reform der beschleunigten Steuerabschreibung

In seiner im Vergleich zum vergangenen Jahr deutlich längeren Rede ging Bettel auf fast sämtliche ministeriellen Ressorts ein. Trotz der rezenten Proteste kam der Wohnungsnot in der Ansprache erneut nur eine untergeordnete Rolle zu. Immerhin soll das Budget des Wohnungsbauministeriums 2021 gegenüber zum Vorjahr um 11% erhöht werden. Ferner soll das „Amortissement accélére“ für Anleger in Mietobjekte reformiert werden. Statt der beschleunigten Steuerabschreibung von 6% für die ersten sechs Jahre sollen künftig nur noch 5% für die ersten fünf Jahre möglich sein. Für Investoren, die Immobilien mit einem Wert von über einer Million Euro halten, wird die Rate auf 4% gesenkt. Die neuen Regelungen gelten nur für Immobilien, die nach dem 1. Januar 2021 gekauft werden.

Gegen Ende seiner Ende wurde Bettel wieder pathetisch. Er gedachte denen, die es schwieriger haben, in unserer Gesellschaft Fuß zu fassen. „Da mierkt een, dass déi kleng Suerge fir anerer ganz grouss kënne sinn, an déi eege grouss Suergen eigentlech dacks ganz kleng sinn“, meinte der Premierminister. Die Krise habe ihn gelehrt, dass es wichtig sei, „Luucht dohinner ze bréngen, wou et däischter ass“. Diese Aufgabe habe die Presse in den vergangenen Monaten auf exemplarische Art und Weise erfüllt. Im Zuge der Reform der Pressehilfe ging Bettel besonders auf Radio ARA ein, das unter dem aktuell vorliegenden Entwurf wohl am meisten leiden würde und das wegen des Einbruchs von Werbeeinnahmen bereits eine Crowdfunding-Aktion gestartet hat. Am Dienstag zeigte Bettel sich zuversichtlich, dass eine Lösung für die Rettung des Community-Radiosenders gefunden werden könne.

Eigentlich sollte die Rede zur Lage der Nation dieses Jahr wieder im Frühjahr stattfinden, nachdem sie vergangenes Jahr wegen der späten Regierungsbildung in den Herbst verlegt worden war. Doch wegen der Corona-Pandemie musste sie dieses Jahr zweimal verschoben werden und wurde gestern zum Auftakt der neuen Kammersession gehalten. Am heutigen Mittwoch und am morgigen Donnerstag werden die einzelnen Fraktionen und politischen Gruppierungen im Parlament Stellung zu Bettels Rede beziehen.

Jangeli
14. Oktober 2020 - 17.07

Diese politischen Bonzen geniessen weiter wie vorher, Verzichten ist für die alle ein Fremdwort. All das Gelaaber und Getue wird immer mehr erbärmlicher und unerträglich.

Luciliburhuc
14. Oktober 2020 - 15.58

Pfarrer Bettel predigt eher wie Diener Gottes. Trotzdem ist er besser wie jeder andere Poltiker im Zwergenland...

Reinhard Pogutke
14. Oktober 2020 - 14.31

Die Zuständigkeiten und Vorschriften zur Bekämpfung der Corona Pandemie sind ein Spiegelbild der beklagenswerten Situation in der gesamten EU.

Engel Albert
14. Oktober 2020 - 11.45

Der Herr drehte sich um und weinte bitterlich ...

Guy
14. Oktober 2020 - 9.17

An keen Wuert doriwwer,wien an wei dat alles soll bezuelt gi.

Harry
14. Oktober 2020 - 9.10

Ech hat an menger Carrière een Chef deen sôt am Enn vum Joer, wann et rem neischt an der Pai beigouf: Mieux vaut reculer pour avancer par après. Et war mol emmer gud gesôt mee "après" as och neischt geschitt. An esou waert et och bei eisem Xav sen.