Kalt, aber denkwürdig

Kalt, aber denkwürdig
(Tageblatt/Isabella Finzi)

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Während in der Rockhal Prince sein Funk- und Rock-Feuerwerk abbrannte, standen zeitgleich die Polly-Jean-Harvey-Fans im Innenhof der Abtei Neumünster und froren und bangten.

Der Wettergott hatte ein Einsehen und ließ tatsächlich Gnade walten. Ein paar Nieseltropfen kamen vom Himmel herunter. Ansonsten zogen die dunklen, bedrohlichen Wolken vom Wind getrieben über den Grund Luxemburgs hinweg, ohne sich über dem einzigartigen Open-Air-Schauplatz zu ergießen. Ein erster Trost.

Weiteren spendete die Musik von Polly Jean Harvey. Die 41-jährige Musikerin aus dem südenglischen Küstenort Bridport kam nicht allein. Sie hatte John Parish, der Keyboard und Gitarre spielte, Bassist, Gitarrist und Keyboarder Mick Harvey und Schlagzeuger Jean-Marc Butty mitgebracht. Eine famose Liveband mit Indierock-Veteranen, die sich trotz ihres Ruhms und ihres Könnens dezent im Hintergrund hielten und ihrer Kapellmeisterin die Bühne überließen.
Das hieß konkret, dass sich die Herren auf der rechten Bühnenseite im Halbkreis formierten und Harvey die linke Seite überließen. Von dort aus erhob sie ihre Stimme und schlug in die Saiten ihrer Gitarre, meistens aber die ihrer Autoharp, eines der Zither ähnlichen Instruments. Sie klingt nicht nach den Alpen, sondern wie eine Twang-Gitarre.

Eine der Großen im Indierock-Segment
Harvey ist von ihrer Physiognomie her eine zierliche Erscheinung. Doch als Künstlerin ist sie eine der Großen im Indierock-Segment. Im Alter von 17 Jahren verließ sie die Schule, kaufte sich eine Gitarre und schrieb erste eigene Songs. Kurz darauf gründete sie eine Band und wurde bei einem ihrer frühen Auftritte von John Parish, seinerzeit Frontmann von Automatic Dlamini, entdeckt. Sie schloss sich dessen Band an, suchte sich aber 1991 wieder eine eigene, mit der sie ein Jahr später das Debütalbum „Dry“ veröffentlichte. Damals wurde sie bereits als vielversprechende Newcomerin gehandelt. Ihre Single „Dress“ hatte sich zuvor schon wochenlang in den britischen Indie-Charts gehalten und war im britischen Musikszene-Organ New Musical Express (NME) von Gastkritiker John Peel (BBC-Radio-1-Legende) zur „Single der Woche“ ernannt worden.

Ihre exzentrische, energiegeladene, gar recht wilde Musik sorgte frühzeitig für Aufsehen. Der Rolling Stone kürte Harvey 1992 gar zur besten Songschreiberin und besten Sängerin des Jahres. Anfang dieses Jahres wurde sie erneut ausgezeichnet – diesmal im Rahmen der Verleihung der „NME Awards“ für ihr Lebenswerk. 22 Jahre ist ihre Solokarriere nunmehr alt und in all diesen hat Harvey nichts an Reiz und Ausstrahlung eingebüßt.
Wie sie schon am Mittwochabend auf die Bühne kam: in Schwarz gekleidet, mit einer Art Federboa/Flügel-Konstruktion auf dem Kopf. Sie wirkte nicht divenhaft, sondern elegant und strahlte Selbstbewusstsein aus. Die Blicke waren auf sie gerichtet, als sie ihren Set mit dem Titelsong ihres aktuellen Studioalbums „Let England Shake“ eröffnete, gefolgt von „The Words That Maketh Murder“ und dem brillanten „C’mon Billy“ (von „To Bring You My Love“, 1995).
Gegenüber ihren Konzerten im Frühjahr spielte sie zu Beginn nicht nur die Songs von „Let England Shake“.

Energisch und wütend

Sie griff auch auf ältere zurück, in denen sie passenderweise energisch und wütend sang. Die von „Let England Shake“ intonierte sie wiederum mit einer kindlich-naiven Stimme, die einen interessanten Gegenpol zu den Texten über Krieg und Gewalt bildete. Bestens dargeboten übrigens in „The Glorious Land“, einem der besten Stücke auf dem Album. In dem heißt es: „How is our glorious country ploughed?/Not by iron ploughs/Our lands is ploughed by tanks and feet/Feet marching/Oh, America/Oh, England.“

„England“ sang sie „Eng-e-land“ und ließ dazu Trompeten wie zum Aufgalopp der attackierenden Truppen vom Band einspielen. Brillant. Umwerfend auch der Klassiker „Down By The Water“, das treibende, perkussive „Pocket Knife“ und die erste Zugabe „Big Exit“ – um nur einige der Höhepunkte zu nennen. Am Ende standen die zwei Harveys, Parish und Butty in Reih und Glied in der Bühnenmitte und ließen sich standesgemäß vom Publikum feiern. Es war ein kalter, aber denkwürdiger Abend.