IrlandSinn Féin, wie eine Partei vom Sprachrohr der IRA zum Hoffnungsträger vieler Iren wurde

Irland / Sinn Féin, wie eine Partei vom Sprachrohr der IRA zum Hoffnungsträger vieler Iren wurde
„Ich denke, es wäre eine tolle Sache“: Mary Lou McDonald will Irlands erste Premierministerin werden Foto: AFP/Paul Faith

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Trotz ihres historischen Wahlsiegs in Irland ist die republikanische Sinn-Féin-Partei künftig nur zweitstärkste Kraft im neuen Parlament. Ein politisches Erdbeben ist das gleichwohl. Partei-Chefin Mary Lou McDonald spricht von „Revolution“ und will jetzt erste Premierministerin ihres Landes werden.

Am Sonntag, einen Tag nach der Wahl, spricht Mary Lou McDonald von einer „Revolution“. Ihre Anhänger jubeln. Sie wissen, ihre Parteichefin übertreibt nicht. Seit Dienstag sind die Ergebnisse der Parlamentswahl in Irland ganz ausgezählt. Jetzt ist auch die Gewissheit da: Zum ersten Mal seit dem Bürgerkrieg 1923 ist die Partei Sinn Féin meistgewählte Partei in der Republik. „Wir haben kein Zwei-Parteien-System mehr in Irland“, ruft McDonald. Nun will die 50-Jährige Regierungschefin werden. „Ich denke, es wäre doch eine tolle Sache, einen Sinn-Féin-Premier und auch noch eine Frau auf diesem Posten zu haben“, sagte McDonald am Dienstag in Dublin.

Sinn Féin kommt auf 24,5 Prozent der Stimmen, ein Zugewinn um mehr als zehn Prozentpunkte. Die beiden liberal-konservativen Parteien Fine Gael und Fianna Fáil schrumpfen auf 20,9 beziehungsweise 22,2 Prozent. Das Wahlergebnis ist auch eine Abstrafung der Sparpolitik der beiden Parteien, die sich seit 1923 die Macht teilen im Dáil, dem irischen Parlament.

Besonders die Partei des abgewählten Premiers Leo Varadkar bekam den Zorn der Iren über exorbitante Wohnpreise (Dublin ist teurer als Luxemburg) und ein marodes Gesundheitssystem mit elendig langen Wartezeiten auch bei wichtigen Operationen zu spüren. Irland wurde als erstes Land unter den EU-Rettungsschirm gestellt – und mauserte sich bald zum europäischen Musterschüler und zum Vorzeigeobjekt der Troika-Schuldner, ganz nach dem Motto, seht her, wenn ihr macht, was wir sagen, geht es euch besser.

„Revolution“ mit Hindernissen

Die Wirtschaft erholte sich, doch ging dieser Aufschwung zulasten des gesellschaftlichen Zusammenhaltes. Großkonzerne mit Sitz in Irland wie Apple oder Google zahlen kaum Steuern, niedrige Einkommen werden jedoch mit bis zu 34 Prozent besteuert. Obdachlosigkeit und Kinderarmut drücken auf das Land. Der soziale Wohnungsbau ist quasi inexistent. Nun senkten besonders die jungen Wähler ihren Daumen über dieser Politik. Außer bei den über 65-Jährigen war Sinn Féin in allen Altersklassen stärkste Partei. Varadkar kam in seinem eigenen Wahlkreis Dublin-West gerade mal auf 19,4 Prozent der Stimmen. Nie zuvor hat ein irischer Regierungschef so wenig Zustimmung bekommen.

Trotzdem wird das mit der Revolution nicht so einfach. Dafür kam sie auch zu unerwartet. Sinn Féin schnitt vergangenes Jahr bei den Europawahlen und den irischen Regionalwahlen schlecht ab und schickte jetzt nur 42 Kandidaten ins Rennen. Irland hat ein kompliziertes Wahlsystem, bei dem die Wähler die Kandidaten nach Präferenz reihen. Aus jedem der 39 Wahlkreise können dann bis zu fünf Gewählte ins Parlament einziehen. Nach der Auszählung aller Stimmen entfallen nun 37 Abgeordnetenmandate auf die Sinn Féin, 38 auf die Fianna Fáil, 35 auf die Fine Gael – und das Parlament umfasst 160 Sitze, eine Mehrheit ist auf den ersten Blick demnach nicht in Sicht.

McDonald sagte am Dienstag, sie wolle mit allen Parteien sprechen. Am liebsten wäre der Sinn-Féin-Chefin, die mit ihrer Partei vor allem auf linke Themen im Wahlkampf setzte und proeuropäisch orientiert ist, eine Koalition mit den Grünen (von drei auf zwölf Sitze verbessert) und anderen kleinen Linksparteien. Doch auch hierfür bräuchte es die Unterstützung einiger Unabhängiger (auf die rund 25 Prozent der Stimmen entfallen sind; auch eine Besonderheit des irischen Wahlsystems).

Vor 25 Jahren noch zensiert

Besonders Varadkar hatte im Wahlkampf eine mögliche Koalition seiner Fine Gael mit Sinn Féin vehement abgelehnt. Dass Fianna Fáil ihre Ausgrenzungspolitik gegenüber Sinn Féin überdenkt, ist da schon wahrscheinlicher. Parteichef Micheál Martin könnte an seine Karriere denken und hoffen, vielleicht doch einmal Taoiseach zu werden, wie die Premierminister in Irland heißen. Und in seiner Partei haben bereits ein paar Fürsprecher für eine Koalition mit Sinn Féin von sich hören gemacht.

Dass es überhaupt so weit kommen konnte, dass Sinn Féin zum dritten Machtfaktor in Irlands Politik wurde, ist bereits ein politisches Erdbeben an sich. Die Partei ist weiterhin der politische Arm der IRA, die immer noch existiert, aber inaktiv ist. Deswegen galt die Sinn Féin in der Republik lange Jahre als Schmuddelkind, das sozusagen Blut an den Händen hat – und damit für die allermeisten als unwählbar. Während des Nordirlandkonflikts gab es sogar eine Sendesperre für Sinn-Féin-Politiker im irischen Staatssender RTE. Eine Zensur, die erst wenige Monate vor dem Waffenstillstand der IRA im Jahr 1994 endete.

Ein Vierteljahrhundert später ist die Sinn Féin zu einer normalen Partei geworden. Auch wenn soziale Themen im Vordergrund standen und das ursprüngliche Ziel der Wiedervereinigung mit dem Norden im Wahlkampf in den Hintergrund rückte, wird dieses weiterverfolgt. McDonald möchte ein Referendum zu dieser Frage binnen der kommenden fünf Jahre. Als Sinn Féin 1918 bereits einmal stärkste Partei Irlands wurde, rief sie die Unabhängigkeit aus – die Folge war ein Krieg. Etwas mehr als 100 Jahre später droht kein Krieg mehr, dafür aber der Zerfall des Vereinigten Königreiches nach dem Brexit.