ForumNicolas Schmit als Schmied eines sozialeren Europas

Forum / Nicolas Schmit als Schmied eines sozialeren Europas
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Die bevorstehenden Wahlen für das Europäische Parlament riskieren, die politische Gewichtung innerhalb der Europäischen Union aus der Balance zu bringen. In vielen Ländern des Staatenbundes erstarken nationalistische bis fremdenfeindliche Parteien. Die zu Hause meistens mit EU-feindlichen Parolen antreten.

„Ausländer raus.“ „Keine Immigranten mehr.“ „Der Euro ist ein Teuro.“ „Die EU ist ein bürokratisches Monster.“ „Brüssel verlangt Austerität.“ Und ähnliche Parolen, die den Bürgern suggerieren sollen, ohne die Brüsseler Bürokraten und den Euro gäbe es eine kurvenfreie Einbahnstraße ins Paradies der „nationalen Präferenzen“.

In Großbritannien kam es zum Brexit. Doch das versprochene Erstarken der ehemaligen imperialen Nation blieb aus. Seit dem Abschied von der EU geht die britische Wirtschaft den Krebsgang. Der Handel brach ein. Der Londoner Finanzplatz schrumpfte. Arbeitslosigkeit und soziale Probleme stiegen. Der Verzicht auf europäische Arbeitskräfte trocknete ganze Sektoren aus, angefangen mit der Landwirtschaft.

Vor allem platzten die nationalistischen Versprechen über mehr Sicherheit für die Bürger durch weniger Ausländer. Großbritannien war nie im Schengen-Raum. Behielt immer seine Grenzkontrollen. Litt dennoch unter hoher Kriminalität, unter Drogen-Schmuggel. Erlebte Terror-Anschläge, meistens ausgeführt von Briten. Massive illegale Einwanderung erfolgte trotz theoretischer Grenzhoheit.

Gerade letztes Problem spielte beim Brexit-Referendum eine große Rolle. Da sich bloß sieben von zehn Briten an der Schicksalswahl beteiligten, war es eigentlich eine Minorität, die gegen Europa stimmte. In der Hoffnung, die „Freizügigkeit“ der ungeliebten EU-Bürger zu beenden. Seitdem gibt es effektiv weniger Polen und Balten im Vereinigten Königreich. Dafür immer mehr illegale Einwanderer aus Asien, Afrika und selbst Südamerika.

Doppelter Diskurs

Der Brexit illustriert eigentlich die Gehaltlosigkeit der anti-europäischen Stimmungsmache. Eine Erklärung für die relative Zurückhaltung der anti-europäischen Parteien, einmal in der Verantwortung. Für diesen doppelten Diskurs gibt es viele Belege:

– In Italien setzten weder die rechtsextreme Lega Nord noch die linkspopulistische Cinque Stella während ihrer gemeinsamen Regierungszeit ihre anti-europäischen Programmpunkte um. Auch Ministerpräsidentin Georgia Meloni, Vorzeige-Dame der faschistoiden Fratelli d’Italia, hütete sich bislang vor frontalen Angriffen gegen die „Brüsseler“.

– Seit in Frankreich Marine Le Pen und ihr „Rassemblement National“ zur stärksten politischen Kraft heranwuchsen und damit mit Verantwortung im Elysée flirten können, geht keine Rede mehr von einem „Frexit“ oder der Rückkehr zum „Franc“.

– Nach den jüngsten Parlaments-Wahlen in Holland signalisierte der ultranationalistische Wahlsieger Gerd Wilders seine Bereitschaft, als Premierminister auf die meisten seiner anti-europäischen und ausländerfeindlichen Parolen zu verzichten.

– Auch in den skandinavischen Ländern, wo nationalistische Parteien in Koalitionsregierungen eintraten, kam es zu keinem Bruch mit der EU.

– In Griechenland organisierte der linksextreme Tsipras zwar ein erfolgreiches Referendum gegen die „Austerität-Politik“ der EU. Doch als sein Finanzminister Varoufakis den Ausstieg aus dem Euro betrieb, feuerte er diesen und beugte sich den Forderungen der Troika. Er realisierte, eine Rückkehr zur griechischen Drachme würde die Probleme Griechenlands bloß verschlimmern.

Euro als Schutzschild

Der manchmal verteufelte Euro ist ein gemeinsamer Schutzschild. Zweite internationale Währung nach dem Dollar, verhinderte der Euro in den letzten 20 Jahren ein Auseinanderbrechen des Binnenmarktes in Folge von Finanzkrisen, Kriegen, Pandemie. Island ist kein Mitglied der EU. Geriet dennoch in den Strudel der weltweiten Finanzkrise von 2008. Die isländische Krone wurde um 70% abgewertet. Mit der entsprechenden Verarmung aller Isländer. Es dauerte nahezu zehn Jahre, bis der kleine Inselstaat der Eskalation von Abwertung, Inflation und Wirtschaftsmisere entrann.

Für die Staaten Europas gibt es keine Alternative zu einer immer stärkeren Integration. Selbst frühere „Großmächte“ wie Frankreich und das Vereinigte Königreich wiegen immer weniger gegenüber den USA, China, Indien. Andere aufsteigende Nationen wie Indonesien, Brasilien, Saudi-Arabien, Südafrika, oder alte Imperien wie Russland oder Iran, sehen die Europäer vor allem aus historischer und kultureller Perspektive. Der Krieg in der Ukraine, der Krieg in Gaza, die Konflikte im Sahel, im Sudan und anderswo belegen den schwindenden Einfluss Europas. Nur zusammen haben die Europäer Gewicht in der Welt. Dank des Euros. Dank der europäischen Außenhandels-Politik. Dank des kaufkräftigsten Binnenmarktes, Magnet für alle Exportnationen.

Immer weniger Europäer

Um 1900, zu Beginn des langen und qualvollen 20. Jahrhunderts, stellten die Völker Europas rund ein Viertel der Weltbevölkerung. 1950 waren es noch 22%. Im Jahr 2000 einige 12%. Heute liegt Europas Anteil bei 9% der globalen Bevölkerung von acht Milliarden Menschen. In Teilen Asiens und vor allem in Afrika weiterhin ansteigend. 2050 werden die Völker Europas noch um die 5% auf die globale Waage bringen. Aber nur bei Stabilisierung ihrer rückläufigen Demografie durch Immigration.

In Luxemburg wird der Eine-Million-Staat befürchtet. Die Wahrheit ist, dass unser kleines Schlaraffenland seinen Wohlstand fast ausschließlich den – ungeliebten – Ausländern verdankt. Die als Zuwanderer oder als Grenzgänger unsere Wirtschaft in Schwung halten. Von den 485.000 Arbeitnehmern sind 48% Grenzgänger, aber bloß ein Viertel, genau 126.000, Luxemburger Staatsbürger.

Laut Statec werden hierzulande die meisten Kinder von ausländischen Eltern gezeugt. Es sterben jedoch jedes Jahr mehr Luxemburger als Ausländer. Weil immer mehr Ausländer unsere Nationalität erwerben. Und als Luxemburger das Zeitliche segnen. 2022 gab es 10.500 neue Luxemburger. 2023 sogar 12.000. Darunter 1.200 ehemalige Portugiesen, 1.100 Franzosen, 900 Amerikaner, 500 Belgier, je 300 Italiener oder Deutsche, über 200 Russen und selbst 173 Syrer. Seit dem Brexit erhielten über 4.000 Briten einen großherzoglichen Pass. Ein Bekenntnis zur Europäischen Union.

Für die kommenden Europawahlen schrieben sich bloß 15% der wahlberechtigten ausländischen Mitbürger ein. Nicht gerade überwältigend. Für Luxemburger besteht bekanntlich Wahlpflicht. Dennoch werden zirka ein Viertel der alten wie neuen „Lëtzebuerger“ eine Stimmabgabe verweigern, weiß oder ungültig wählen.

Wer nicht wählt, lässt andere über sein Schicksal entscheiden. Entgegen einer zu verbreiteten Meinung dienen demokratische Wahlen der politischen Richtungsbestimmung. Moderne Staaten sind zwar riesige Tanker, nicht einfach zu manövrieren. Doch ein Kurswechsel um wenige Grade nach links oder rechts genügt schon, um völlig andere Ziele zu erreichen.

Die Europäische Union ist wie alle politischen Schöpfungen nicht perfekt. Aber unentbehrlich. Bei den Wahlen vom 6. bis 9. Juni gilt es, eine aktionsfähige Mehrheit im EU-Parlament zu bestimmen. Aus der eine neue Kommission hervorgehen wird. Zu den Merkwürdigkeiten der europäischen Institutionen gehört, dass die Aspiranten für die Kommissions-Spitze nicht zur Wahl antreten müssen.

Weder die ausscheidende Präsidentin, Ursula von der Leyen, noch der Spitzenkandidat der europäischen Sozialisten, Nicolas Schmit, stehen auf einer Liste. Wer von der Leyen will, muss hierzulande CSV wählen. Wer ein sozialeres Europa mit Nicolas Schmit will, muss die vom Vize-Präsidenten des Parlaments, Marc Angel, geführte LSAP-Liste wählen.

Die Europäische Union war eine Schöpfung der Christdemokraten, der Sozialisten und der Liberalen. Die seit der ersten Direktwahl des EU-Parlaments im Jahr 1979 die gesetzgeberische Mehrheit stellten. Manchmal verstärkt durch die Grünen. Die jedoch zu oft bei der Gestaltung der europäischen Regelwerke mitverhandelten, aber letztlich dem Endkompromiss ihre Zustimmung verweigerten. Somit zu unsicheren Kantonisten wurden.

An der Spitze der Kommission wechselten sich Christdemokraten, Liberale, zu selten Sozialisten ab. Wobei heute anerkannt ist, dass der französische Sozialist Jacques Delors, der von 1984 bis 1994 wirkte, der mit Abstand erfolgreichste Präsident der EU-Kommission war.

Meinungsforscher sagen einen Rechtsruck im Europäischen Parlament voraus. Wer dies nicht will, muss in Luxemburg die LSAP-Liste mit Marc Angel, Danielle Filbig, Mars di Bartolomeo, Liz Braz, Franz Fayot und Michaela Morrisova wählen. Um Nicolas Schmit zu bekommen.

Robert Goebbels ist ein ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter
Robert Goebbels ist ein ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter Foto: Editpress/Didier Sylvestre