StandpunktWas ein missionsorientierter Staat leisten kann

Standpunkt / Was ein missionsorientierter Staat leisten kann
Ein Paradebeispiel für mutige Entscheidungsfindung ist die rasche Entwicklung und Anwendung des Covid-19-Impfstoffs Archivfoto: Moritz Frankenberg/dpa

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Covid-19-Pandemie, Inflation und Kriege haben den Staaten vor Augen geführt, was nötig ist, um massive Krisen zu bewältigen. In Ausnahmesituationen entdecken politische Entscheidungsträger oft wieder ihre Fähigkeit zur mutigen Entscheidungsfindung. Ein Paradebeispiel dafür ist die rasche Entwicklung und Anwendung des Covid-19-Impfstoffs.

Die Vorbereitung auf andere Herausforderungen erfordert jedoch nachhaltigere Bemühungen um einen „missionsorientierten Staat“. In Anlehnung an die erfolgreichen Erzählungen und Strategien aus der Zeit des Kalten Krieges rund um die geplante Mondlandung experimentieren Staaten weltweit mit ehrgeizigen politischen Programmen und öffentlich-privaten Partnerschaften, um bestimmte soziale, wirtschaftliche und ökologische Ziele zu erreichen. Im Vereinigten Königreich beispielsweise hat das Wahlprogramm der Labour-Partei mit den darin aufgeführten fünf Missionen eine lebhafte Debatte darüber ausgelöst, ob und wie eine „missionsorientierte Wirtschaft“ geschaffen werden soll.

In einem missionsorientierten Staat geht es nicht um das dogmatische Festkleben an einer Reihe ursprünglicher Ideen, sondern vielmehr darum, die zentralen Bestandteile einer Mission zu ermitteln und zu akzeptieren, dass unterschiedliche Länder auch unterschiedliche Ansätze benötigen könnten. Nach derzeitigem Stand der Dinge präsentiert sich die neu entstehende Landschaft öffentlicher Missionen als Umetikettierung oder Umfunktionierung bestehender Institutionen und Strategien, wobei man eher stotternde Anfänge als rasante Höhenflüge beobachtet. Aber das ist in Ordnung. Wir sollten nicht erwarten, dass sich ein radikaler Wandel der politischen Strategien über Nacht oder auch nur während eines Wahlzyklus vollzieht.

Experimentierfreudigkeit

Vor allem in liberalen Demokratien erfordert ein ambitionierter Wandel das Engagement einer Vielzahl von Gruppen, um die Zustimmung der Öffentlichkeit zu gewinnen und sicherzustellen, dass die Vorteile auf breiter Ebene spürbar werden. Das einem missionsorientierten Staat zugrundeliegende Paradoxon besteht darin, dass er ehrgeizige, klar formulierte politische Ziele durch eine Vielzahl auf Experimenten basierender Maßnahmen und Programme verfolgt.

Diese Experimentierfreudigkeit unterscheidet aktuelle Missionen von jenen aus der Zeit vor der Mondlandung (obwohl in den heutigen Missionen der experimentelle Ansatz der Regierung Roosevelt im Rahmen des New Deal der 1930er-Jahre nachhallt). Große gesellschaftliche Herausforderungen wie die dringende Notwendigkeit, gerechtere und nachhaltigere Ernährungssysteme zu schaffen, lassen sich nicht auf die gleiche Weise angehen wie eine Mondlandung. Diese Systeme bestehen aus mehreren technologischen Dimensionen (im Falle der Ernährung alles von Energie bis hin zur Abfallwirtschaft) und schließen eine Vielzahl, oftmals nicht miteinander verbundener Akteure sowie eine Reihe von kulturellen Normen, Werten und Gewohnheiten ein.

Die Umgestaltung derart komplexer Systeme erfordert ein Bündel von Programmen, die auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet sind, und nicht eine einzige Strategie, die vorschreibt, wie jeder Sektor oder jedes Unternehmen seinen jeweiligen Teil der Herausforderung zu lösen hat. Anstatt zu versuchen, diese Komplexität wegzudiskutieren, wird sie in den erfolgreichen Missionen von heute in den Mittelpunkt der politischen Entscheidungsfindung gestellt.

Der Erfolg hängt also von der Erkenntnis ab, was Missionen nicht sein sollen. Zunächst einmal handelt es sich bei Missionen nicht um von oben nach unten gesteuerte Planungen, die von allwissenden politischen Entscheidungsträgern geleitet werden. Der Prozess stützt sich vielmehr auf unternehmerische Erkenntnisse und den Wettbewerb im privaten Sektor, um jene Experimente voranzutreiben, deren Ergebnisse notwendig sind, um herauszufinden, welche Lösungen funktionieren.

Bedeutung der Missionen

Auch sind Missionen nicht gleichbedeutend mit Industriepolitik, wenngleich sie diese Strategien durchaus prägen können (und wohl auch sollten) und ihre Ziele oder Erfolgsmaßstäbe verdeutlichen. Was bedeutet es zum Beispiel, wenn eine politische Strategie die Wettbewerbsfähigkeit fördern soll? Geht es um die Steigerung von Produktivität, Exporten und BIP oder um Löhne und nachhaltigere Formen des Wachstums? Letzteres würde eine Missionsrichtlinie erfordern, da die Märkte allein nicht unbedingt die gewünschten Ergebnisse liefern würden.

Bei Missionen geht es nicht nur um Wissenschafts-, Technologie- und Innovationspolitik. Investitionen in hochwertige Bildung und Grundlagenforschung erfordern keine Mission. Wir wissen bereits, dass dies weitreichende soziale und wirtschaftliche Vorteile mit sich bringt. Aber wenn wir wollen, dass Bildung und Forschung uns bei der Bewältigung einer bestimmten Herausforderung helfen, brauchen wir eine Mission. Wenn man beispielsweise im Vereinigten Königreich hofft, unter Einsatz des dortigen Innovationssystems die Ungleichheit in den Griff zu bekommen, wird man sicherstellen müssen, dass die Finanzierung zur Vielfalt dessen beiträgt, was man untersuchen, erforschen oder entwickeln will.

Ebenso wenig ist Gesamtwachstum eine Mission. Freilich können Missionen sektorübergreifende Zusammenarbeit, Innovation und Investitionen zur Erreichung eines einzigen Ziels fördern und so technologische Spillover-Effekte hervorrufen sowie zur Produktivität und zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen und letztlich Wirtschaftswachstum erzeugen. Doch Wechselseitigkeit muss in Vereinbarungen verankert werden: Subventionen, Darlehen und Garantien sollten an die Bedingung geknüpft werden, dass der Unternehmenssektor in Innovationen investiert, die zu besseren (integrativeren und nachhaltigeren) Produktions- und Vertriebssystemen führen.

So verpflichtet beispielsweise das US-amerikanische Bundesgesetz Chips and Science Act Halbleiterunternehmen, die öffentliche Mittel erhalten, dazu, ihre Gewinne in bessere Arbeitsbedingungen und energieeffiziente Lieferketten zu reinvestieren (anstatt ihre eigenen Aktien aufzukaufen). Bei entsprechender Strukturierung können Missionen einen Multiplikatoreffekt erzielen, der zu höheren unternehmerischen Investitionen führt und letztlich das BIP pro investiertem Dollar stärker ansteigen lässt.

Neue Methoden

Es reicht nicht aus, sich einfach auf ehrgeizige, gesellschaftlich relevante Ziele zu einigen. Missionen erfordern ein grundlegendes Umdenken hinsichtlich der Instrumente und Prozesse der Politikgestaltung. Ja, die Vorgabe spezifischer Lösungen, die Erstellung von Gantt-Diagrammen (Projektmanagement) und die Festlegung umfangreicher Berichtspflichten werden kaum jemanden in Begeisterung versetzen. Ebenso trifft aber auch zu, dass die unbefristete, an keinerlei Bedingungen geknüpfte Subventionierung von Unternehmen weder die Art von Wachstum hervorbringen wird, die wir wollen, noch dem Gemeinwohl dient.

Missionen erfordern erhebliche Investitionen in die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Sektors. Andernfalls werden wir immer hören, dass ein missionsorientierter Staat ein frommer Wunsch sei – also genau das Argument, mit dem jahrelang Auslagerungen an private Berater gerechtfertigt wurden.

Je weniger wir glauben, dass der Staat etwas anderes tun kann als Marktversagen zu beheben, desto weniger werden wir in das umfassendere Potenzial des öffentlichen Sektors investieren. Es ist zwar nicht einfach, Innovation durch ergebnisorientierte Politik, sektorübergreifende Bottom-up-Innovation und interministerielle Prozesse zu steuern, aber es ist möglich. Das Problem besteht darin, dass wir nur in Kriegs- oder Krisensituationen daran denken. Ein Grund, warum wir das UCL Institute for Innovation and Public Purpose geschaffen haben, war die Absicht, die Wahrnehmung eines ergebnisorientierten öffentlichen Dienstes zu verändern und das „neue wirtschaftliche Denken“ über marktgestaltende Maßnahmen in die Praxis umzusetzen.

Von Australien und Schweden bis Brasilien finden sich großartige Beispiele für Innovationsagenturen, die mit neuen Methoden experimentieren: Sie testen Lösungen in Pilotprojekten und integrieren erfolgreiche Programme in größere Maßnahmen-Portfolios. Diese Bemühungen erfordern auch organisatorische Innovationen, von der Schaffung neuer Rollen bis zur Förderung neuer Managementkulturen.

Ein missionsorientierter Staat ist entscheidend für nachhaltiges und integratives Wirtschaftswachstum und für die Bewältigung der großen Herausforderungen, vor denen die Länder stehen. Der Weg dorthin muss nicht zwangsläufig vorgegeben sein. Aber er erfordert grundlegende Veränderungen in der Arbeitsweise der Regierungen und größere Investitionen in die Kapazitäten des öffentlichen Sektors.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier.

Mariana Mazzucato ist Gründungsdirektorin des UCL Institute for Innovation and Public Purpose und Vorsitzende des Rates der Weltgesundheitsorganisation für die Ökonomie der Gesundheit für alle. Rainer Kattel ist stellvertretender Direktor und Professor für Innovation und Public Governance am UCL Institute for Innovation and Public Purpose.

Copyright: Project Syndicate, 2024. www.project-syndicate.org

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Rainer Kattel ist stellvertretender Direktor und Professor für Innovation und Public Governance am UCL Institute for Innovation and Public Purpose
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