InterviewDie autoritäre Wende: Ein Psychoanalytiker über die Gefahren der Krise für Demokratie und Rechtsstaat

Interview / Die autoritäre Wende: Ein Psychoanalytiker über die Gefahren der Krise für Demokratie und Rechtsstaat
Der 21. März war ein historischer Tag für Luxemburg: Das Parlament verlängerte einstimmig den am 18. März von der Regierung wegen der Corona-Krise verhängten Ausnahmezustand um die maximale Dauer von drei Monaten. Es war das erste Mal, dass der 2017 eingeführte Artikel 32.4 des Grundgesetzes in Luxemburg angewandt wurde. Editpress/Alain Rischard

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Die Notwendigkeit der Einschränkung von Grundrechten und individuellen Freiheiten in der Corona-Krise wird in Luxemburg kaum hinterfragt. Eine der wenigen Ausnahmen ist der Psychoanalytiker Thierry Simonelli, der regelmäßig in Radio- oder Zeitungsbeiträgen auf die Risiken der Coronamaßnahmen für den Rechtsstaat und die Demokratie hinweist. Im Interview, das wir am Mittwoch mit ihm über Messenger geführt haben, erklärt der promovierte Philosoph und Psychologe, welche Auswirkungen die paternalistische und moralisierende Haltung des Staats auf die Gesellschaft haben kann und wieso die sogenannte politische Mitte nicht vor autoritären Tendenzen gefeit ist.

Tageblatt: Sie gelten als einer der wenigen Kritiker der Corona-Politik in Luxemburg. Welche Aspekte oder konkreten Maßnahmen stören Sie am meisten?

Thierry Simonelli: Meine Kritiken galten weniger den konkreten Maßnahmen, über die ich besonders zu Beginn auch nicht zu entscheiden wusste, als der überstürzten Art und Weise, den Ausnahmezustand auszurufen und kurzerhand die Demokratie für ein schwer zu erschließendes Risiko auszuschalten. Meine Kritik galt also zuallererst dieser angeblichen Alternativlosigkeit, der sogar die politischen Gegner des Ausnahmezustandes plötzlich huldigten.

Der Ausnahmezustand ist seit Nationalfeiertag vorbei, das Parlament hat die Kontrolle zurück. Ist inzwischen alles wieder im Lot?

Keinesfalls. Es scheint noch immer so, dass es unmöglich zu unterscheiden bleibt zwischen wissenschaftlichen Informationen und Empfehlungen einerseits und deren politischer Umsetzung andererseits. Hier entsteht ein doppeltes Problem: Nur die wissenschaftliche Forschung kann uns nützliche Informationen über das Risiko geben, aber wir werden, wie es für Wissenschaft üblich und selbstverständlich ist, mit unzähligen, kontradiktorischen und kontinuierlich veränderlichen Resultaten konfrontiert. Daraus soll die Politik dann Entscheidungen ableiten, die noch weitaus komplexer als die rein wissenschaftlichen Fragen sind und die möglicherweise auf Entscheidungen über individuelle Menschenleben und über das Funktionieren der ganzen Gesellschaft hinauslaufen. Und als Antwort auf diese missliche Lage gibt es noch einmal vorrangig Paternalismus und Moralisierung als unterkomplexe Vereinfachungen sowie eine neue Zielsetzung – das Ausmerzen eines Virus –, die nur misslingen kann.

Moralisierung teilt die Welt in eine sehr einfache Alternative auf: gut und schlecht. Hinsichtlich der vermutlich „zweiten Welle“ bedarf es also keiner langen Analysen und Forschungen: Es waren die Verantwortungslosen! Diese Herangehensweise an komplizierte gesellschaftliche und wissenschaftliche Probleme ist aus dem autoritären Denken der Fremdenfeindlichkeit und des Antisemitismus wohlbekannt und gut analysiert.

Thierry Simonelli, Psychoanalytiker und Philosoph

Nach dem „Déconfinement“ haben offenbar vorrangig private Partys und Feiern zu einem erneuten Anstieg der Infektionszahlen geführt. Paternalismus und Moralisierung erscheinen als einzig wirksame Haltungen, um die Menschen zur Vorsicht und zur Einhaltung der Regeln zu bewegen. Was ist daran so schlimm?

Nun möchte ich glauben, dass diese Darstellung von verantwortungslosen Partys als simpelste Form einer Ursachenzuweisung selbst genau ein Ausdruck der Moralisierung ist, die ich beanstande. Ich möchte hier fast von der moralistischen Verschwörungstheorie der „Guten“ und „Verantwortungsvollen“ sprechen. Moralisierung teilt die Welt in eine sehr einfache Alternative auf: gut und schlecht. Hinsichtlich der mutmaßlichen „zweiten Welle“ bedarf es also keiner langen Analysen und Forschungen: Es waren die Verantwortungslosen! Diese Herangehensweise an komplizierte gesellschaftliche und wissenschaftliche Probleme ist aus dem autoritären Denken der Fremdenfeindlichkeit und des Antisemitismus wohlbekannt und gut analysiert. Hier passt auch der Paternalismus sehr gut dazu: Wir sind die Guten, diejenigen, die wissen, was zu tun ist, und wir dürfen diejenigen aburteilen und bestrafen, die dem widersprechen.

Wissenschaftliche Berechnungen der Covid-19-Taskforce haben ergeben, dass die Einschränkung der privaten Zusammenkünfte (neben mehr Telearbeit und erhöhter Kontaktverfolgung) die Auslastung der Intensivbetten entscheidend entlasten könne. Ist das kein Argument, das vermehrte Polizeikontrollen rechtfertigt?

Sogar wenn es hier ein eindeutiges Resultat und einen wissenschaftlichen Konsens gäbe, von denen wir sehr weit entfernt sind: Wenn wir über den Tellerrand der doch überaus eigenartigen Modellierungen unserer nationalen Covid-19-Taskforce hinausblicken, würden wir bei der Beantwortung dieser scheinbar einfachen, konkreten Frage auf unglaubliche gesellschaftliche, politische und grundrechtliche Probleme stoßen, deren Konsequenzen in ihrer Tragweite nur schwer abzusehen sind. Nehmen wir nur einmal die Frage des Rechts auf Wahrung des Privat- und Familienlebens oder der Unantastbarkeit der Wohnstätte. Die konkret so scheinbar simple Antwort, die Polizei solle doch unsere Wohnungen nach überzähligen Partygästen absuchen dürfen, brächte nichts weniger mit sich als einen tiefen Einschnitt in den Begriff des liberalen Rechtsstaats, auf dem unsere Grundrechte und unser Grundgesetz stehen. Auch hier verdeckt die moralisierende Vereinfachung ein Problem, dessen Ausmaß weiter und tiefer greift als die Risiken dieses Virus.

Es tut mir leid, aber diese blinde Sicherheit des „bei uns kann so etwas doch nicht passieren“ oder die Verniedlichung des „bei uns war das alles anders, alles nur gut gemeint“ kann ich wirklich nicht teilen

Thierry Simonelli, Psychoanalytiker und Philosoph

Gefahren für Demokratie und Rechtsstaat gibt es vielleicht in protofaschistischen Staaten wie Ungarn, Brasilien oder den USA. Aber in Luxemburg hat immer noch das Parlament die Kontrolle und kann die Einschränkungen zu jedem Zeitpunkt wieder aufheben.

Gefahren für die Demokratie gehören zu jeder Demokratie. Ich möchte sagen: Demokratie ist kein Zustand, sondern ein andauernder und nie gewonnener Kampf gegen antidemokratische Kräfte. Leider bilden Parlamente allein hier keinen ausreichenden Schutzwall. Genau das wäre ja die Funktion eines Grundgesetzes: der Schutz der Bürger gegen den Staat. Konkret haben wir im März gesehen, wie schnell ein Parlament im Einvernehmen unsere Demokratie für drei Monate aus den Angeln gehoben hat und sich, nach dem treffenden Ausdruck des Staatsrechtlers Carl Schmitt, für eine kommissarische Diktatur entschieden hat. Es tut mir leid, aber diese blinde Sicherheit des „bei uns kann so etwas doch nicht passieren“ oder die Verniedlichung des „bei uns war das alles anders, alles nur gut gemeint“ kann ich wirklich nicht teilen.

Zu Beginn der Krise haben die meisten europäischen Staaten einen Lockdown verhängt. Länder, die dies nicht oder zu spät gemacht haben, verzeichneten eine Überbelastung der Intensivbetten und viele Tote. Wegen der hohen Infektionszahlen haben mehrere europäische Staaten inzwischen Quarantänemaßnahmen für Reisende aus Luxemburg verhängt. Hat die Regierung angesichts des internationalen Drucks überhaupt die Wahl, andere Entscheidungen zu treffen?

Diese Frage scheint mir äußerst interessant im Hinblick auf die Vielschichtigkeit der Faktoren und Informationen, die in solche politischen Entscheidungen einlaufen und die im öffentlichen Diskurs gerne heruntergespielt werden. Da gäbe es erst einmal den Einfluss der Medien – konkret der Bilder von Bergamo – und dessen Auswirkung auf die Bevölkerung. Wie ist innenpolitisch bei allgemeiner Panik zu reagieren, wenn man als Politiker nicht seine Glaubhaftigkeit riskieren möchte? Wie ist außenpolitisch auf eine allgemeine Tendenz zu antworten, wenn man sich, wie Schweden, entscheiden würde, keinen harten Lockdown zu fordern? Sie haben völlig recht: All dies hat Konsequenzen, die mit dem Virus nur sehr wenig zu tun haben, aber vorgetäuscht immer durch die Virus-Situation legitimiert werden. Wir sahen solche Abwägungen und Vortäuschungen ja sehr schön beim Hin und Her um die Maskenpflicht. Fast könnte man sogar von Verschwörungen reden: Keine Masken da? Also erzählen wir, diese seien unnötig. Transparenz wäre hier wohl nicht fehl am Platz und würde viel weniger Nahrung für unnötige Panik und sinnlose Verschwörungstheorien liefern.

Paternalismus, Moralisierung, das Ausfindigmachen von Sündenböcken, Bewältigungsstrategien, die vornehmlich aus Kontrollen und Bestrafungen bestehen, das Bedürfnis nach starken und entscheidungsfreudigen Führerpersönlichkeiten, vorauseilender Gehorsam und Blockwart-Mentalität: Sie alle zeugen als Symptome von einer autoritären Wende in den Köpfen und in der Gesellschaft, die nicht den Rechtsradikalen oder Linkspopulisten zuzuschreiben ist.

Thierry Simonelli, Psychoanalytiker und Philosoph

Wirtschaftliche Prognosen gibt es inzwischen viele. Doch welche mittel- bis langfristigen Folgen könnten Lockdown und Freiheitsbeschränkungen für das gesellschaftliche Leben haben?

Auf Voraussagen möchte ich mich nicht einlassen. Wir hatten in den letzten Monaten genügend Gelegenheiten, um uns vom Nutzen und Nachteil der auch scheinbar wissenschaftlichsten Voraussagen zu überzeugen. Was mir jedoch zu denken gibt, ist die überraschende und nicht zu erwartende Bestätigung der Autoritarismus-Studien, die in Deutschland seit zwei Jahrzehnten in regelmäßigen Abständen veröffentlicht werden. Bei der letzten Ausgabe der Leipziger Autoritarismus-Studie von 2018 zum Beispiel zeigten diese Untersuchungen noch immer einen sehr hohen Empfänglichkeitsgrad für autoritäres Denken und Handeln in der Bevölkerung. Ein Anstieg dieser Tendenz ist seit einigen Jahren besonders aus der politischen Mitte der Gesellschaft zu verzeichnen. Der Begriff des autoritären Charakters bleibt also sehr aktuell und drückt sich, meines Erachtens, auch sehr stark in der augenblicklichen Krise aus. Paternalismus, Moralisierung, das Ausfindigmachen von Sündenböcken, Bewältigungsstrategien, die vornehmlich aus Kontrollen und Bestrafungen bestehen, das Bedürfnis nach starken und entscheidungsfreudigen Führerpersönlichkeiten, vorauseilender Gehorsam und Blockwart-Mentalität: Sie alle zeugen als Symptome von einer autoritären Wende in den Köpfen und in der Gesellschaft, die nicht den Rechtsradikalen oder Linkspopulisten zuzuschreiben ist. Das bereitet mir persönlich schon Sorgen. Hier bieten sich auch in Zukunft erschreckende machtstrategische Chancen für opportunistische und populistische Politik, die solche gesellschaftlichen und psychologischen Änderungen zu funktionalisieren weiß.

Zur Person

Thierry Simonelli hat in Paris Sozialwissenschaften, Philosophie und Psychologie studiert und in den beiden letzten promoviert. In Paris hat er auch seine Ausbildung zum Psychoanalytiker abgeschlossen. Er hat an verschiedenen Universitäten in Frankreich und Luxemburg Philosophie und Psychologie und am Saarländischen Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Psychoanalyse gelehrt. Er ist Autor mehrerer Bücher und wissenschaftlicher Aufsätze und hat als Mitherausgeber bei mehreren wissenschaftlicher Zeitschriften, darunter „Frontiers in Psychoanalysis and Neuropsychoanalysis“, mitgearbeitet. Seit 2002 arbeitet er hauptberuflich als Psychoanalytiker in Luxemburg.

Seit einigen Jahren ist der Empfänglichkeitsgrad für autoritäres Denken und Handeln besonders in der politischen Mitte der Gesellschaft angestiegen, sagt der Psychoanalytiker und Philosoph Thierry Simonelli (l.)
Seit einigen Jahren ist der Empfänglichkeitsgrad für autoritäres Denken und Handeln besonders in der politischen Mitte der Gesellschaft angestiegen, sagt der Psychoanalytiker und Philosoph Thierry Simonelli (l.) Foto: Thierry Simonelli

Nicolas B.
27. Juli 2020 - 12.22

Wow! WOW! Ech kréien den Glawen un glaichdenkender zeréck! Hien schwätzt daat aus, wat mech bedréckt awer ech net a Wierder gefaasst kréien! MERCI

J.Scholer
23. Juli 2020 - 18.47

Dem Zarathustra -Mythos , der Lehre von Licht und Schatten , gleich , das Gute und Böse , wird die Weltgemeinschaft wohl immer funktionieren, wie auch auf Zeitepochen von Liberalisierung der Gesellschaftsformen, politischen Umwälzungen der Ruf nach Autorität stärker wird.

roland kolber
23. Juli 2020 - 16.40

merci dem här simonelli fir seng oneegennëtzeg, offen, kritesch awer dach konstruktiv ( fir deen, deen wëll liesen ), nodenklech an intelligent, besonnen an iwerluegten aussoen zu där dach liicht absurder an e bëssen angscht machender heideger situatioun an all hiren akteuren ... ëtt kann een just hoffen, dass e puer vun hinnen dat liesen an driwer nodenken, an dobäi schléissen ech d'gesamt lëtzebuerger press ma an ...