Ungarn / „Europa, aufwachen!“: Ex-Verfassungsrichter beklagt die Tatenlosigkeit der EU
Ungarns Regierung macht eifrig Gebrauch vom Corona-Notstandsgesetz, wobei fraglich ist, ob es immer um die Virenbekämpfung geht. Ein ehemaliger Verfassungsrichter prangert im Tageblatt-Gespräch die Tatenlosigkeit der EU an.
Es ist gefährlich, im Reich des Viktor Orban „Gerüchte“ zu verbreiten. Nach den neuen Bestimmungen des Strafgesetzbuches drohen dafür bis zu fünf Jahre Haft. Einige Journalisten wurden im Zusammenhang mit der Corona-Berichterstattung bereits angezeigt. Ob ihre Spekulationen etwa über den weiteren Verlauf des Schuljahres „Gerüchte“ waren, wird eine dem rechtskonservativen Regierungschef wohlgesonnene Justiz entscheiden.
Das Risiko einer Haftstrafe macht Kritiker der Ende März vom Parlament beschlossenen Selbstausschaltung vorsichtig. So wollte der ehemalige Verfassungsrichter Imre Vörös Anfang April nicht mehr mit Journalisten über die Notstandsgesetze sprechen: „Mit Hinblick auf die durchaus allgemeine Formulierung des neuen Gerüchtemacherei-Tatbestandes des StGB … fühle ich mich leider gezwungen, von weiteren Interviews Abstand nehmen zu müssen“, antwortete Vörös auf eine Tageblatt-Anfrage.
„Orwell’sche Zustände!“
Mittlerweile aber überwiegen seine Bedenken wegen exzessiver Einschränkungen von (Grund-)Freiheiten in Ungarn die Sorge um die eigene Freiheit. Vörös spricht nun offen und beklagt „Orwell’sche Zustände“ in seinem Land. „Regierungsverordnungen verfügen, dass der Minister für Technologie und Informatik alle persönlichen Daten einsehen kann, und alle staatlichen Organe, Unternehmen und Privatpersonen sind verpflichtet, sein Ersuchen zu erfüllen“, so das Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.
Dasselbe gelte für den sogenannten Operativen Stab unter Leitung von Premier Orban, der für den sogenannten Gefahrenzustand gegründet wurde und von niemandem kontrolliert werde. Vörös fehlt das Verständnis dafür, dass die Regierung Zugriff auf jegliche Personaldaten hat: „Der in unserem Grundgesetz festgeschriebene Datenschutz existiert nicht mehr.“
Militär übernimmt Unternehmen
Die Notstandsgesetze bekommen auch zahlreiche Unternehmen drastisch zu spüren. 184 Betriebe in den Bereichen Landwirtschaft, Gesundheitswesen, Verkehr, Energie, Kommunikation und Finanzwirtschaft wurden per Verordnung unter militärische Kontrolle gestellt. Unter dieser Zwangsverwaltung stehen nun auch zahlreiche Krankenhäuser, wo Soldaten nun abgesehen von medizinischen Belangen alle Entscheidungen treffen können.
Wird dadurch Ungarns Rechtsordnung generell in eine Notstandsrechtsordnung auf Dauer umgewandelt?ehemaliger Verfassungsrichter
Auch vor Privateigentum schreckt der staatliche Zugriff nicht zurück. In Debrecen hat vorigen Freitag Finanzstaatssekretärin Edit Juhasz in der Firma „Kartonpack“ als Regierungskommissarin alle Vollmachten übernommen und auch davon Gebrauch gemacht: Noch am selben Tag wurden alle Mitglieder des Verwaltungsrates der Aktiengesellschaft, die Aufsichtsräte und Mitglieder des Kontrollausschusses gefeuert. Der Staat ist an der Firma, die unter anderem Schachteln für Arzneimittel produziert, zwar zu 61 Prozent beteiligt, der Rest aber ist in Privatbesitz. „Dies alles ist möglich unter dem Deckmantel des Notstandsgesetzes, aber was hat dies zu tun mit der Pandemie?“, fragt sich nicht nur der Rechtsprofessor Vörös.
Schein und Sein des Parlaments
Die Regierung weist jegliche Kritik zurück. Justizministerin Judit Varga von Orbans Fidesz-Partei beteuert, Ungarn tue nur, „was alle in Europa tun“. Außerdem werde der „Ausnahmezustand keinen Tag früher und keinen Tag später als nötig“ aufgehoben. Dass der Notstand nicht zeitlich limitiert wurde, verkauft die Ministerin als besonders demokratisch, indem sie auf die Befugnis des Parlaments verweist, die Ermächtigung zum Regieren per Dekret jederzeit aufheben zu können. Angesichts der Zwei-Drittel-Mehrheit von Fidesz muss Viktor Orban freilich nicht fürchten, dass ihm das Parlament die Vollmachten gegen seinen Willen nimmt.
„Die Aufhebung des Notstandes terminlos der Willkür der Exekutive zu überlassen, verstößt gegen das ungarische Grundgesetz“, urteilt der ehemalige Höchstrichter Vörös und verweist auf den problematischen Paragrafen 8 des Notstandsgesetzes: „Über die Außerkraftsetzung dieses Gesetzes entscheidet das Parlament nach der Aufhebung des Gefahrenzustandes.“ Das heißt, das Parlament kann tatsächlich das Notstandsgesetz erst aufheben, nachdem Orban den Corona-Ausnahmezustand für beendet erklärt hat. Und selbst die in Paragraf 3 vorgesehene Möglichkeit des Parlamentes, einzelne Verordnungen aufzuheben, ist nur eine theoretische: Solange das Ermächtigungsgesetz in Kraft sei, könne die Regierung, so Vörös, eine vom Parlament annullierte Verordnung sofort mit demselben Text erneut erlassen.
Notstand ein Dauerzustand?
Alarmiert ist der Spitzenjurist auch wegen der von Justizministerin Varga angekündigten Möglichkeit, manche der jetzt erlassenen Notstandsverordnungen durch das Parlament als „reguläre“ Gesetze kodifizieren zu lassen. „Wird dadurch Ungarns Rechtsordnung generell in eine Notstandsrechtsordnung auf Dauer umgewandelt?“, fragt sich Vörös und wundert sich über Europa: „Dies alles geschieht trotz der im Vertrag über die Europäische Union (EUV) und im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankerten Grundwerte und vor den Augen der tatenlos zuschauenden EU und seiner Mitgliedstaaten? Guten Morgen, Europa, aufwachen bitte!“
Ob Viktor das „Ermächtigungsgesetz“ des Adolf übernehmen wird?