GeschichteÜber Luxemburg nach Auschwitz: Letzte Stationen im Leben des Buchhändlers Richard Hellmann

Geschichte / Über Luxemburg nach Auschwitz: Letzte Stationen im Leben des Buchhändlers Richard Hellmann
Die Grand-rue der Hauptstadt Luxemburg unter dem Hakenkreuz Foto: Marcel Duffau/Photothèque de la Ville de Luxembourg

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Dies ist die Geschichte eines gebürtigen deutschen Juden, der mit seiner Familie nach Luxemburg zog, um der Judenverfolgung im Reich zu entgehen. Um seine Kinder nach dem deutschen Einmarsch vor der Verfolgung zu schützen, trennte er sich zunächst von seiner „arischen“ Ehefrau und seinen Kindern. Mit der Scheidung wurde schließlich sein Todesurteil gefällt.

Richard Hellmann wurde am 22.6.1890 in Würzburg als zweiter von drei Söhnen des Ehepaares Max Hellmann und Betty Uhlmann geboren. Beide Eltern waren jüdisch, aber die Familie war nicht praktizierend. Der Vater betrieb einen Weinhandel in Würzburg. Die Familie war sehr darauf bedacht, nicht Anlass für antisemitische Anrempelungen zu geben.

So wuchs Richard Hellmann in der Auffassung heran, deutsche Juden sollten sich vollkommen assimilieren. Nur so könnte man dem Antisemitismus beikommen. Deshalb scheute er auch nicht davor zurück, als deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg zu dienen. Allerdings wurde Hellmann nach nur kurzem Fronteinsatz schwer verwundet und verlor dabei das rechte Auge. Er trug zeitlebens ein Glasauge, das er durch eine dunkle Brille zu kaschieren versuchte. Für seine Kriegsverletzungen wurde ihm das Eiserne Kreuz 2. Klasse verliehen.

Nach dem Krieg studierte Hellmann an mehreren deutschen Universitäten und entschied sich für den Buchhandel. Er interessierte sich insbesondere für akademische Werke und fürs Antiquariat. Berufliche Erfahrungen sammelte Hellmann u.a. in Straßburg und Oxford. Er ließ sich schließlich als Buchhändler in Freiburg im Breisgau nieder. Die „Richard Hellmann Buchhandlung und Antiquariat“ war von Anfang an international ausgerichtet und ihre Hauptkunden waren Universitätsbibliotheken in verschiedenen europäischen Ländern.

Richard Hellmann um 1939. Im Ersten Weltkrieg verlor Hellmann sein rechtes Auge. Am 30.9.1944 wurde er in Auschwitz durch Gas ermordet.
Richard Hellmann um 1939. Im Ersten Weltkrieg verlor Hellmann sein rechtes Auge. Am 30.9.1944 wurde er in Auschwitz durch Gas ermordet. Foto: ANLux, J-108-0459604

Am 8.2.1923 heiratete Hellmann die Katholikin Theresia Theodora Sauter, genannt Thea. Hellmann soll bereits 1918 zum Katholizismus übergetreten sein.1 Dieser Ehe entsprangen zwei Kinder, Margot Lisbeth (1927) und René Rainer (1930), die katholisch erzogen wurden.2

Richard Hellmanns ältester Bruder Otto wanderte im Jahre 1928 nach Argentinien aus und etablierte sich in Buenos Aires.

Der Rasse nach jüdisch

Als nun im Jahre 1933 Hitler und die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen und es sofort zu antijüdischen Maßnahmen kam, wurde es Richard und seinem jüngeren Bruder Ernst bewusst, dass die Nazis sie nach wie vor als Juden ansahen. Im NS-Staat galt nur die biologische Abstammung. Wenn man „der Rasse nach“ von volljüdischen Großeltern abstammte, galt man als „Volljude“, auch wenn man sich zum Katholizismus hatte konvertieren lassen. Im Judentum selbst gilt: Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat oder sich zur jüdischen Religion hat konvertieren lassen.

Für Hitler allerdings waren die Juden „immer ein Volk mit bestimmten rassischen Eigenarten und niemals Religion“. So hatte er es bereits 1925, in Band I seines Werkes „Mein Kampf“, das zur „Bibel“ der Nationalsozialisten werden sollte, festgeschrieben. Und diese sogenannte Rasse wurde zu einer parasitären, das Blut der deutsch-arischen Rasse gefährdenden minderwertigen Rasse dekretiert. Deshalb wurden auch Kinder, die aus sogenannten „Mischehen“ hervorgingen, als minderwertig angesehen. Als „arisch“ bzw. „deutschblütig“ konnte nur gelten, wer überhaupt keine jüdischen Großeltern hatte. Demzufolge galten die zwei Kinder von Hellmann im Deutschen Reich als „Mischlinge ersten Grades“.

In der NS-Propaganda wurden die Juden als „Untermenschen“ dargestellt, die zuerst aus dem deutschen und später aus dem europäischen „Volkskörper“ zu entfernen waren. Im Jahre 1935 hatte der „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler, der ab 1939 auch zuständig war für die „Festigung des deutschen Volkstums“, behauptet, der Führer aller „Untermenschen“ sei der „ewige Jude“, der „das Grauen über die Menschheit“ kommen ließ.

Zunächst sollten die Juden zur legalen, später auch zur illegalen Emigration gedrängt werden. Diejenigen, die nicht emigrieren konnten oder wollten, gingen während des Kriegs in allen von Nazi-Deutschland besetzten europäischen Gebieten in die „Hitlerfalle“. Die osteuropäischen Juden wurden vor Ort ermordet und die Juden aus den besetzten Westgebieten wurden „nach dem Osten evakuiert“ oder „ausgesiedelt“, wie es in der Tarnsprache der Nazis hieß, was aber bedeutete, nach Osten deportiert, um dort ermordet zu werden.

Auswanderung nach Luxemburg

Nach einer Auseinandersetzung mit einem Gauleiter wanderte Richards jüngster Bruder Ernst 1936 ebenfalls nach Argentinien aus. Obwohl über Richard Hellmann in seiner ganzen Zeit in Freiburg i. Br. in politischer Hinsicht nichts Nachteiliges bekannt geworden war3, und er zum katholischen Glauben übergetreten war, wurde auch er nun Opfer zunehmender antijüdischer Schikanen. Er wurde indirekt zur Emigration gedrängt, indem ihm der NS-Staat seine Lebensgrundlage entzog. Im Sommer 1936 musste er nämlich auf Veranlassung der Reichsschrifttumskammer sein Geschäft schließen.4

Betty Uhlmann um 1940. Die Mutter von Richard Hellmann kam am 10.11.1941 ins  Sammellager für Juden nach Fünfbrunnen. Sie starb dort am 14.1.1942.
Betty Uhlmann um 1940. Die Mutter von Richard Hellmann kam am 10.11.1941 ins  Sammellager für Juden nach Fünfbrunnen. Sie starb dort am 14.1.1942. Foto: Private Sammlung Familie Ruijs (NL)

Hellmann entschloss sich nun, Deutschland zu verlassen und seine Familie in einem freien Land in Sicherheit zu bringen. Zu dem Zeitpunkt kamen für ihn noch mehrere Länder infrage. Ein Schweizer Freund, der Universitätsprofessor Dr. Isele, wollte ihm die Einreise in die Alpenrepublik ermöglichen. Da er aber dort seinen Beruf nicht hätte ausüben dürfen, um keinem Schweizer das „Brot“ wegzunehmen, wandte sich Hellmann an die Einwanderungsbehörden in Luxemburg und beantragte im Jahre 1936 eine Aufenthaltsgenehmigung für sich und seine Familie. Diese wurde ihm zunächst verwehrt. Am 6.10.1936 teilte der Generalstaatsanwalt Luxemburgs der Polizei-Direktion in Freiburg i. Br. mit, dass Hellmann Richard „eine Aufenthaltsgenehmigung für das Großherzogtum nicht erteilt werden kann“.5

In der Zwischenzeit, oder gleichzeitig, hatte Hellmann in Luxemburg einen Antrag auf Ausstellung einer Handelsermächtigung für einen Buchhandel eingereicht. Diese wurde ihm vom Handels- und Industrieminister in der Branche „Antiquaire-librairie“ am 16.10.1936 gewährt, allerdings mit der Einschränkung, dass er keine Bücher in Luxemburg verkaufen dürfe („La vente à des bibliothèques ou à des personnes établies dans le Grand-Duché est interdite.“). Daraufhin teilte der Justizminister dem Generalstaatsanwalt am 19.10.1936 mit, die Verweigerung der Aufenthaltsgenehmigung könne nun nicht mehr aufrechterhalten werden.6

Hellmann suchte sich eine Wohnung und zog mit der Familie nach Luxemburg-Stadt. Er meldete sich am 5.12.1936 bei der Fremdenpolizei an. Seine Frau meldete sich mit den zwei Kindern Margot und René am 18.1.1937 an. Die Familie wohnte zunächst in der Poincaré-Straße 8, später in der Escherstrasse 16.7

Da Hellmann keinen Buchladen betreiben durfte, mietete er für seinen Buchhandel ein Lokal in der Semois-Straße 88 (während der Besatzung „Hermann Lönsstraße“ genannt), also im Petrusstal. Seine Firma war am 4.11.1936 im Handelsregister eingetragen worden.8

Später im Jahr 1937 zog auch noch die verwitwete Mutter von Hellmann, Betty Uhlmann (*1865 in Fürth), nach Luxemburg. Sie meldete sich am 29.10.1937 bei der Fremdenpolizei an. Sie war mithilfe der finanziellen Unterstützung durch ihren wohlhabenden Bruder Fred, der in den USA einen Getreidehandel betrieb, von ihrem Sohn unabhängig. Betty Uhlmann bezog im Hotel Continental in der Grand-rue Nr. 86 Quartier, wo sie 50 Franken pro Tag für Vollpension zahlte. Nach dem Ableben ihres Bruders Fred im Oktober 1938 erhielt sie von diesem eine monatliche Rente von 225 US-Dollar (3.000 Franken), was für die monatlichen 1.500 Franken, die sie für Kost und Logis an das Hotel entrichten musste, mehr als ausreichte.9 In diesem Hotel wohnten auch noch andere jüdische Emigranten.

Antisemitischer Aktivismus

Kaum hatte sich Hellmann in Luxemburg etabliert, wurden die Luxemburger Antisemiten auf ihn aufmerksam. In der Ausgabe vom 23.1.1937 wurde ein sehr auffälliges Inserat in der Pro-Nazi- und antisemitischen Zeitung National-Echo mit der Überschrift „Offene Anfrage an die Behörden!“ veröffentlicht (s. Abb.). Man wollte wissen, wie „der Jude R. H.“ (Richard Hellmann) zu einer Handelserlaubnis nebst Niederlassungsrecht als Buchhändler kam, „trotz dem gegenteiligen Avis der Handelskammer, des Buchhändlervereins und der zuständigen Kommission“.10

Thea Hellmann-Sauter um 1939. Die Ehefrau von Richard Hellmann wurde von der Gestapo gezwungen, sich scheiden zu lassen<br />
Thea Hellmann-Sauter um 1939. Die Ehefrau von Richard Hellmann wurde von der Gestapo gezwungen, sich scheiden zu lassen
 Foto: ANLux, J-108-0459604

Nachdem festgestellt wurde, dass sich Hellmann keiner Zuwiderhandlung im Rahmen seiner Handlungsermächtigung schuldig gemacht hatte, konnte dieser seiner geschäftlichen Betätigung ungehindert nachgehen. Anlässlich seines Antrags auf Erneuerung der Fremdenkarte stellte Polizei-Kommissar Reuter am 19.10.1937 fest, dass Hellmann ausschließlich mit Belgien und Frankreich arbeite, „wo er seine Bücher hauptsächlich an Bibliotheken absetzt“.11 Allerdings musste Hellmann jedes Jahr seine Handelsermächtigung erneuern, wobei die strikte Einhaltung der Auflagen überprüft wurde. Es durfte nämlich nicht vorkommen, dass ein jüdischer Emigrant, der sich und seine Familie in Luxemburg vor der Judenverfolgung im Reich in Schutz gebracht hatte, in irgendeiner Weise auf staatliche Hilfe angewiesen war. Einem Luxemburger „sein Brot“ wegnehmen, sei es als Geschäftsmann oder Arbeiter, wurde nicht toleriert.

In dieser unruhigen Vorkriegsperiode, während der die Überfremdungsängste hochgespielt und insbesondere auf die kleine jüdische Minderheit projiziert wurden, gab es auch in Luxemburg einige dezidierte Anhänger des Nationalsozialismus, ergo dezidierte Antisemiten.

Bereits 1934 hatte sich u.a. der junge Limpertsberger Albert Kreins (*1916 in Luxemburg) ganz offen zur Nazisache bekannt. Er wollte der luxemburgischen Sektion der Hitler-Jugend beitreten, die von deutschen Einwohnern Luxemburgs gegründet worden war. Allerdings nahmen diese keine Ausländer auf.

Zusammen mit den Brüdern Colling aus Luxemburg-Stadt sowie Adolf Winandy aus Berschbach-Mersch nahm Kreins vom 8. bis 14.9.1936 auf Einladung der Hitler-Jugend am Reichsparteitag der Nazi-Partei (NSDAP) in Nürnberg teil. Stark beeindruckt von der grandiosen wagnerianischen Inszenierung kamen die jungen Luxemburger mit dem glühenden Wunsch nach Hause, die Nazi-Ideen auch im Großherzogtum zu propagieren und umzusetzen.12

Diese vier Hitler-Verehrer waren maßgeblich an der Gründung der „Luxemburger Volksjugend“ (LVJ) beteiligt, die sich am 18.9.1936 vollzog.13 Die LVJ war eine Jugendorganisation nationalsozialistischen Geistes, die sich in den Vorkriegsjahren besonders durch antisemitischen Aktivismus hervortat. Später, nach der deutschen Invasion, waren Kreins und andere LVJ-Führer zusammen mit dem Athenäums-Professor Damian Kratzenberg entscheidend an der Gründung der nationalsozialistischen Volksdeutschen Bewegung (VdB) beteiligt. Die Heimholung des Großherzogtums ins Deutsche Reich, in die deutsche Volksgemeinschaft, also die Auflösung Luxemburgs als souveräner Staat, war ihr fanatisch verfolgtes Ziel. Deshalb wurde Albert Kreins und Damian Kratzenberg nach dem Krieg zum Tode verurteilt. Kreins gleich dreimal, allerdings in Abwesenheit.14 Kratzenberg wurde am 11.10.1946 auf dem Schießstand der Heilig-Geist-Kaserne erschossen. Kreins konnte als einer der schlimmsten Luxemburger Kollaborateure in Deutschland unbehelligt bis zu seinem Tode im Jahr 2001 leben.

Kommunistischer Agent

Der Vater von Albert Kreins, Peter Kreins (*1881 in Lieler-Clervaux; † 1941 in Luxemburg), betrieb in der Grand-rue in der Nähe des Hotel Continental einen Tabak- und Zeitungsladen. Sein Sohn Albert war zuständig für die Buchführung und den Schriftverkehr. Die Kreins-Familie war den Behörden bereits seit mehreren Jahren als besonders „deutschfreundlich“ bekannt. Am 5.4.1938 konnte man in einem Gendarmerie-Bericht lesen, dass die Familie keinen Hehl aus ihrer Deutschfreundlichkeit machte. In ihrem Wohnzimmer befände sich ein großformatiges Porträt des Führers.15 Nicht nur Albert Kreins wurde nach dem Krieg der Prozess gemacht, auch seiner Mutter, der Witwe Kreins, geb. Anna Heinen, und seiner Schwester Maria Kreins.16

Peter Kreins streute nun im Dezember 1939 auf perfide Weise ein Gerücht, im Hotel Continental befände sich eine kommunistische Geheimzentrale und Richard Hellmann sei ihr Kurier.

Der Öffentliche Sicherheitsdienst leitete eine Untersuchung ein und vernahm mehrere Zeugen, u.a. Hellmann, den Hotelbesitzer Wies, Kreins sowie den Buchführer von Hellmann, Michel. Aus dem Bericht über diese Ermittlung, der am 31.1.1940 vom Brigadier Huberty an das Justizministerium gesandt wurde, geht hervor, dass das Gerücht daher rührte, dass jeden Morgen eine Mannsperson, „welche eine Brille mit dunklen Augengläsern tragen würde, in der Post eine umfangreiche Korrespondenz abholen und sich dann zum Hotel Continental begeben“ würde.

Hellmann gab zu Protokoll, er habe im Hauptpostamt ein Postfach und würde beim Abholen der Korrespondenz in der Regel seiner betagten alleinstehenden Mutter, die im Hotel Continental wohne, einen Besuch abstatten. Der Buchführer gab an, Hellmann interessiere sich nicht für kommunistische Literatur und habe noch nie kommunistische Publikationen vertrieben.17 Die Sache wurde als unbegründet ad acta gelegt.

Inserat gegen Hellmann in der Pro-Nazi- und antisemitischen Zeitung „National-Echo“ am 23.1.1937
Inserat gegen Hellmann in der Pro-Nazi- und antisemitischen Zeitung „National-Echo“ am 23.1.1937 Foto: ANLux, J-108-0459604

Trotzdem musste bei Hellmann nun das Gefühl aufkommen, in Luxemburg auch nicht sicher zu sein. Judenhetze war in den Vorkriegsjahren nicht nur das Werk von in Luxemburg wohnenden Deutschen und deutschfreundlich gesinnten Studenten, dahinter standen auch interessierte Luxemburger Geschäftsleute, wie aus einem Bericht des Öffentlichen Sicherheitsdienstes an die Generalstaatsanwaltschaft vom 23.3.1938 hervorgeht.18

Antijüdische Maßnahmen

Nach der Invasion vom 10.5.1940 begann für die Juden, die sich in Luxemburg in Sicherheit glaubten, eine Phase des reinen Überlebens. Wurden sie vorher vom Staat gegen antisemitische Angriffe geschützt, waren sie nun diesen schutzlos ausgeliefert. Bald nach der Okkupation wurde sie von Staatswegen betrieben.

Am ersten Tag der Invasion hatten bereits ca. 1.800 jüdische Einwohner Luxemburgs (von rund 4.000) das Land fluchtartig in Richtung Frankreich und Belgien verlassen. Nicht aber Richard Hellmann. Bis zu dem Zeitpunkt war ihm nämlich die Brutalität der deutschen Judenverfolgung noch erspart geblieben. Er hatte Deutschland ja bereits vor der sogenannten „Kristallnacht“, also den Novemberpogromen von 1938, verlassen.

Als auch in Luxemburg die deutschen Rassengesetze (die ausschließlich die Juden betrafen) eingeführt sowie andere antijüdischen Maßnahmen ergriffen wurden, und diese am 5.9.1940 in der Tagespresse veröffentlicht wurden, wurde es auch für Hellmann klar, dass er schnell handeln müsse, um seine Familie zu schützen. Er dachte, wenn er sein Geschäft auf seine „arische“ Frau übertragen und sich von Frau und Kindern trennen würde, könne er die Kinder vor der Verfolgung retten. Gleichzeitig wandte er sich an seinen Vetter Richard Uhlmann in den USA mit der Bitte um Affidavits19 für seine Mutter Betty Uhlmann und sich selbst. Der Vetter Richard besorgte zwar ein Affidavit für seine Tante Betty, aber nicht für seinen Vetter Richard, mit der Begründung, es sei schwierig, in den USA eine Arbeitsstelle zu finden. Hellmann äußerte sich zu dieser traurigen Situation in einem Brief datiert auf den 22.6.1941 an einen anderen Vetter in den USA:

„Ich hatte mich in 4 Jahren gut hier eingelebt und konnte bis zum Kriegsausbruch von meiner Exportbuchhandlung leben und meine Familie ernähren. Im September letzten Jahres musste ich mein Geschäft [an meine Frau] verkaufen und lebe nun getrennt von Frau und Kindern ohne jede Beschäftigung. Ich habe meinen Vetter Richard, der seit Onkel Freds Ableben in rührender Weise für die liebe Mutter besorgt ist, gebeten, mir Affidavits für uns beide zu verschaffen. Leider hat mein Vetter für meine Lage wenig Verständnis und kann er sich in unsere Verhältnisse nicht hineinfinden. Er sandte nun der l. (Anm. d. Red. „lieben“) Mutter das gewünschte Affidavit, doch wirst Du verstehen, dass sie nicht allein mit ihren 76 Jahren […] nach USA auswandern will und kann.“20

Hellmann unternahm die nötigen Schritte, um das Geschäft auf seine Frau zu übertragen und bezog wahrscheinlich zum 1.4.1941 in einer Pension in der Pulvermühlestraße Nr. 2 ein Zimmer. Seine Frau Thea blieb mit den Kindern in der gemeinsamen Wohnung in der Escherstrasse. Sie soll das Geschäft bis 1942 weitergeführt haben. Dann wurde es von den Besatzungsbehörden geschlossen. In einem Brief an Ernst Hellmann in Argentinien schrieb Thea Sauter nach dem Krieg, das Geschäft sei vom „Propagandaamt“ geschlossen worden. Hellmann bemühte sich weiterhin, um für sich selbst und seine Mutter Auswanderungspapiere für die USA zu erhalten.

Die Hitler-Falle schnappt zu

Mit einem Affidavit war es natürlich noch nicht getan. Darüber hinaus musste das Aufnahmeland auch noch ein Einwanderungsvisum ausstellen. Es konnte nicht geklärt werden, ob ein solches Betty Uhlmann vor dem formalen Ausreiseverbot für Juden, das Himmler am 18.10.1941 anordnete, erreichte. Der letzte Brief in dieser Sache wurde von Richard Uhlmann an Richard Hellman am 6.10.1941 in Chicago abgesandt. Dort ist zu lesen, dass sich in den USA noch immer um ein Visum für beide bemüht werde. Allerdings hätte auch ein Visum allein für Richard Hellmann nichts genutzt. Ohne Affidavit hätte er seine Mutter nicht begleiten können und der letzte Transport in Richtung Übersee via Portugal verließ Luxemburg am 15.10.1941. Die Deportationen nach Osten in die Vernichtung begannen am Tag darauf. Die Hitler-Falle begann für Richard Hellmann und Betty Uhlmann zuzuschnappen.

Betty Uhlmann, die nun nicht mehr im Hotel Continental wohnte, sondern in einer Pension in der Leipziger Straße (heute rue Albert 1er), wurde am 10.11.1941 nach Fünfbrunnen bei Ulflingen in das sogenannte „Jüdische Altersheim“ umgesiedelt. Hier wurden ab August 1941 hauptsächlich ältere jüdische Menschen, die aus ihren Wohnungen getrieben worden waren, unter schlechten Bedingungen so lange festgehalten, bis sie zwecks Vernichtung nach Osten deportiert werden konnten. Betty Uhlmann starb dort am 14.1.1942. In der Familie erzählte man nach dem Krieg, sie habe sich verhungern lassen.

Ankunft eines Judentransportes in Auschwitz-Birkenau. SS-Lagerärzte nahmen die  Selektion vor. Durch bloßen Anblick entschieden sie über Leben und Tod.
Ankunft eines Judentransportes in Auschwitz-Birkenau. SS-Lagerärzte nahmen die  Selektion vor. Durch bloßen Anblick entschieden sie über Leben und Tod. Foto: Public Domain

Nun wurde auch Richard zunehmend unter Druck gesetzt. Die physische Trennung des Ehepaares reichte offensichtlich der Gestapo nicht aus, um die Kinder vor der Deportation zu schützen. Thea Sauter wurde gezwungen, eine Scheidungsurkunde zu unterzeichnen. Als sie versuchte, den Ehescheidungstermin hinauszuzögern, in der Hoffnung, der Krieg ginge zu Ende, wurde ihr Mann kurzerhand verhaftet und kam ins Grund-Gefängnis.21 Das soll am 23.5.1942 geschehen sein.22

Die Gestapo drohte damit, die Kinder als Volljuden zu betrachten und sie nach Polen zu deportieren. Unter diesem für eine Mutter unerträglichen Druck unterzeichnete Thea Sauter die Scheidungsurkunde.

Daraufhin wurde Hellmann am 12.6.194223 aus dem Gefängnis entlassen, wurde allerdings 18 Tage später, am 30.6.1942, nach Fünfbrunnen umgesiedelt und von dort am 28.7.1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert.24 Dort blieb er bis Ende September 1944 am Leben. Von hier schrieb er zahlreiche Karten nach Luxemburg, insbesondere an seinen Sohn René. Die letzten Karten sandte er am 29.7.1944 an seine Tochter Margot und am 2.8.1944 an einen Herrn Heiter, Tapeziermeister. Auf beiden Karten lautete die Anschrift „Escherstrasse 16“ in Luxemburg-Stadt, die Adresse also, wo sich auch die Wohnung seiner Frau befand. In beiden Fällen handelte es sich lediglich um einen Vordruck, auf dem Hellmann durch seine Unterschrift den Empfang eines Päckchens bestätigte.

Am 29.9.1944 wurde Richard Hellmann mit dem Transport El nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Auf der Transportliste hatte er die Nummer 1444.25 Dieser Transport kam mit 1.500 jüdischen Männern, Frauen und Kindern in Auschwitz am 30.9.1944 an. Nach der Selektion wurden die Jungen und Gesunden in das Durchgangslager eingewiesen und die übrigen Menschen in den Gaskammern ermordet.26 Von diesem Transport überlebten 76 Personen den Holocaust.27 Leider nicht Richard Hellmann.

Noch im Sommer 1945 wartete Thea Sauter auf ihren Mann. Am 15.6.1945 schrieb sie an amerikanische Verwandte: „Ihr könnt Euch denken wie verzweifelt wir sind und wie sich die Kinder um den guten Vater grämen und dies nun schon 3 Jahre lang. […] Alle meine Bemühungen, Richard nicht wegzunehmen, waren nutzlos, es war eine entmenschte Bande, die sich durch nichts rühren ließ. […] Wir leben ganz eingezogen und warten auf unsern Papa.“28

Richard Hellmann wurde am 12.12.1947 in Luxemburg per Gerichtsbeschluss für tot erklärt und als Todestag für Auschwitz wurde der 30.9.1944 festgesetzt.29

Beenden wir diesen Beitrag mit einem Zitat von Raul Hilberg: „In gewöhnlichen Zeiten ist eine Scheidung eine Scheidung. Unter den gegebenen Umständen bedeutete sie ein Todesurteil.“30

Dreifaches Todesurteil von Albert Kreins, einem der schlimmsten Luxemburger Antisemiten und Nazi-Kollaborateure, bekannt gegeben im „Luxemburger Wort“ am 5.5.1949
Dreifaches Todesurteil von Albert Kreins, einem der schlimmsten Luxemburger Antisemiten und Nazi-Kollaborateure, bekannt gegeben im „Luxemburger Wort“ am 5.5.1949

1ANLux, J-108-0459604, Akte Richard Hellmann, Bericht des Öffentlichen Dienstes an das Justizministerium vom 31.1.1940.
2Ebd.
3Ebd., Auskunft der Polizeidirektion Freiburg i. Br. an den Luxemburger Generalstaatsanwalt vom 6.1.1937.
4Bescheid des Landesamtes für Wiedergutmachung Freiburg vom 7.10.1958. Archiv Familie Ruijs (NL).
5ANLux, J-108-0459604.
6Ebd.
7Ebd.
8Geht aus einem Brief an das Handelsregister vom 23.10.1940 hervor. Archiv Familie Ruijs (NL). Siehe auch Anm. 20.
9ANLux, J-108-0394530.
10ANLux, J-108-0459604.
11ANLux, J-108-0459604.
12Cerf, P., De l’épuration au Grand-Duché de Luxembourg après la Seconde Guerre mondiale, Luxembourg 1980, S. 56.
13Ebd.
14Luxemburger Wort, 5.5.1949, Vor dem Spezialgericht, S. 4. www.eluxemburgensia.lu.
15Blau, L., Histoire de l’extrême droite au Grand-Duché de Luxembourg au XXe siècle, Esch-sur-Alzette 1998, S. 405.
16Escher Tageblatt, 30.7.1946, Politische Prozesse, S. 5. www.eluxemburgensia.lu. 
17ANLux, J-108-0459604.
18ANLux, J-073-46.
19Ein Affidavit ist eine Bürgschaft, die von einem Bürger des Aufnahmelandes für einen Einwanderer ausgestellt wird. 
20Ein Entwurf dieses Briefes ist in dem reichhaltigen Familienarchiv, das von Richard Hellmanns niederländischem Enkel, Rob Ruijs, verwaltet wird, erhalten. Herr Ruijs hat dem Verfasser freundlicherweise Zugang zu zahlreichen Dokumenten des Familienarchivs ermöglicht. Ihm sei herzlich gedankt.
21Brief von Thea Sauter an den Justizminister v. 5.2.1946. Archiv Familie Ruijs (NL).
22Eintrag in „Ecrous“ de la prison du Grund. Überprüft und mitgeteilt von Paul Dostert am 25.1.2021.
23Ebd.
24Karteikarte Richard Hellmann im Archiv der ehemaligen Gemeinde Asselborn, zu der Fünfbrunnen gehörte (heute Wintger).
25https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/14713-richard-hellmann/
26Czech, D., Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945, Hamburg 2008, S. 891.
27Adler, H.G., Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Göttingen 2018, S. 700.
28Brief von Thea Sauter an Carl und Alice abgesandt in Luxemburg am 15.6.1945. Archiv Familie Ruijs (NL).
29Überschreibung des Gerichtsbeschlusses gemäß Auszug aus dem Sterberegister der Stadt Luxemburg. État civil, VdL, n° 385/1947.
30Hilberg, R., Die Vernichtung der europäischen Juden, Band 2, Frankfurt am Main 2016, S. 448.

de Schéifermisch
1. Februar 2021 - 23.08

Schreckliche Zeiten, schon allein das obige Foto von der "Groussgaass" mit den Naziflaggen lässt einem übel werden, dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Die braune Saat ist wieder am Keimen. Wehret den Anfängen

Tarzan
1. Februar 2021 - 13.49

Nun kann Tarzan das TB nicht oft loben, aber dieser Artikel.. sehr interessant. weiter so.