Stadtgeschichte / Vor 40 Jahren starb der Architekt und Urbanist Paul Retter
Nur selten blieb der Name eines Architekten so lange in Erinnerung, nur selten war die einheimische Architekturszene so gespalten. Die Rede geht von Paul Retter. 40 Jahre sind es am 17. Mai her, dass uns der Planer von 73 Bauprojekten in der Hauptstadt verlassen hat. Heute zeugen „Forum Royal“, „Centre Bourse“ oder „Puits Rouge“, Nr. 49 am Boulevard Royal oder das „Euroffice“ und „Centre Hermes“ am Bahnhof von seiner regen Tätigkeit.
In der Oberstadt hat Paul Retter 31 Bauprojekte durchgeführt, im Bahnhofsviertel zehn, in Belair 16 und in Hollerich zehn. Dabei ging sehr viel historisches Bauerbe der Hauptstadt verloren. Adelshäuser in der Innenstadt, das Mariendenkmal am Neutor und besonders Bauzeugen des 19. Jahrhunderts fielen der Spitzhacke zum Opfer. Doch es war erst der Anfang einer ganzen Abbruchserie, die nach seinem Tode regelrecht ausgebrochen war.
Wenn man heute 40 Jahre zurückschaut, kann man sich die Frage stellen, wieso solch ein gewaltiger Umbruch möglich war. Paul Retter wirkte in den Jahren 1955 bis 1980. Luxemburg war 1952 zur Hauptstadt der Montanunion geworden. Für 6.000 zusätzliche Haushalte mussten in den Jahren 1955 bis 1980 Wohnungen in der Hauptstadt geschaffen werden. Die neue Bevölkerung war international: 1947 verzeichnete Luxemburg 9,2 Prozent Nicht-Luxemburger; 1980 erreichte dieser Anteil an der städtischen Bevölkerung 25,4 Prozent. Die Ansprüche der neuen Einwohner waren hoch, denn sie kamen meist aus Großstädten. Hinzu kommt der Aufschwung des Finanzplatzes.
Zählte Luxemburg-Stadt 1950 nur 14 Bankhäuser, so waren es 1980 bereits 111, Tendenz damals steigend. Die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung änderte sich vollkommen mit einem neuen internationalen Beamtentum und einer steigenden Zahl an Gehaltsempfängern im Finanzbereich. Hinzu kam, dass Luxemburg nicht mehr ausschließlich „Landeshauptstadt“ war, sondern nun Europastadt. Ab nun musste sich unsere Hauptstadt im internationalen Städtevergleich behaupten. Europäische Behörden siedelten sich in Luxemburg an und mussten einen dauerhaften Sitz finden.
Den Hintergrund des Kalten Krieges darf man dabei nicht aus den Augen verlieren. Luxemburg gehörte zu den Kräften Westeuropas. Deutschland war noch getrennt. Bonn war Bundeshauptstadt. Geopolitisch nahm Luxemburg eine zentrale Position innerhalb des demokratischen und kapitalistischen Westens ein. Der Ausbruch eines Nuklearkrieges drohte in regelmäßigen Abständen. War es damals überhaupt möglich, zwischen Leistungsdruck und Vernichtungsgefahr eine anspruchsvolle Architektur zu bieten?
Die autogerechte Stadt
Als absolutes Credo im Städtebau galt die 1933 verabschiedete und 1943 veröffentlichte „Charte d’Athènes“. Sie bejahte das Automobil, das noch an seinen Anfängen stand. Es ermöglichte, die Stadt in Arbeits-, Wohn- und Freizeitzonen einzuteilen, die räumlich voneinander getrennt waren. Es erfüllte den Traum des Städters, im Grünen zu wohnen. Die Bevölkerung in der Innenstadt nahm daher zusehends ab. Doch auch die Geschwindigkeit ermöglichte ein neues Erleben des städtischen Raumes. Je schneller Distanzen überwunden wurden, umso größer und höher konnten die Gebäude errichtet werden. Die Stadt wurde nicht mehr in der Fußgängerperspektive erfahren. Zersiedlung und Verkehrschaos werden die Folgen dieser Entwicklung sein.
Universal und Funktional
Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges haben den Bruch mit der Vergangenheit gefördert. Architektur sollte nun universal, funktionalistisch, transparent sein und die neue Weltordnung der westlichen Welt darstellen. Sie nahm sich nun selbst als industrielles und technisches Produkt wahr. Ihre lokale und kulturelle Ausrichtung wurde durch einen bewusst neutralen, internationalen Charakter ersetzt. Man muss sich des Einflusses von Le Corbusier und seiner „machine à habiter“ für Wohnungen und Bürogebäude bewusst sein. 1967 gab sich die Stadt Luxemburg mit dem französischen Städteplaner Pierre Vago ein erstmals rechtlich verbindlicher „Plan d’aménagement général“. Die Dienststelle „Architektur und Urbanismus“ wurde auf- und ausgebaut. Der Einfluss der „Charte d’Athènes“ auf den Bebauungsplan der Stadt war groß. Die Altstadt, ab rue du Fossé in Richtung „Bock“ wurde als „secteur protégé“ ausgewiesen. Die Innenstadt bis zum Limpertsberg als „zone centrale“ der Entwicklung der Stadt freigegeben. Uneinigkeiten zur Bebauung des Kirchbergviertels und die Angst der Geschäftswelt vor „Aussiedlung“ von ertragreichen Kunden begrenzten die zur Verfügung stehenden Grundstücke. Der „Rush“ auf Boulevard Royal bis Limpertsberg war überwältigend.
Die Zukunftsvision von Paul Retter
Paul Retter wurde 1928 in Bettemburg geboren. Er hatte in Paris an der „Ecole supérieure d’architecture“ studiert und nach seinem Diplom als Architekt auch ein erfolgreiches Studium in Städteplanung absolviert. „Les types d’aménagement fonctionnel du territoire luxembourgeois“ war der Titel seiner Diplomarbeit. Hier legte er seine Zukunftsvisionen dar. Er warnte vor Zersiedlung des Landes und dem dadurch bedingten Verlust des ländlichen Charakters. Ihm schwebte ein zentraler Siedlungsraum zwischen Diekirch und Rodange vor. Ihm ging es um Nahverdichtung der zentrumsperipheren Stadtteile, wo jedes über sein eigenes Nahversorgungsangebot verfügen sollte.
Dies erklärt, weshalb sich Retters Bauprojekte nur auf sieben der 24 Stadtteile der Hauptstadt konzentrieren und weshalb er bewusst auf Wohnung- und Bürodichte setzte. Die Eigentümer, die Wohnungen für Bürozwecke umnutzten, schlugen dieser Planung ein Schnippchen. In seinen Augen sollte sich die Innenstadt zum Oberzentrum des Landes mit Verwaltungssitzen und als Reiseziel für Touristen entwickeln. Sie sollte zum „quartier des magasins de luxe werden“**. Das „Forum Royal“ und „Centre Bourse“ waren zehn Jahre vor der Einrichtung der Fußgängerzone bereits von Retter für „Flaneurs“ gestaltet worden. Die zusätzlichen Geschäfte in der Innenstadt sollten den Großkaufhäusern „auf der grünen Wiese“, welche zeitgleich im Bau waren, entgegenwirken.
Bedrohung schafft Bewusstsein
Selbstverständlich riefen die ungebremst tosenden Bulldozer Entrüstung bei Denkmalschützern hervor. Die Zerstörungswut, welche europaweit in den Städten herrschte, führte den bis dahin verkrusteten Denkmalschutz, welcher sich nahezu ausschließlich mit Archäologie, Burgen, Kirchen, Klöster und Landarchitektur beschäftigte, zum Umdenken.
Erst 1972 wurde die Unesco-Konvention zum Schutz von Kultur- und Naturerbe ins Leben gerufen; 1975 folgte der Europarat mit dem „Heritage Year“ und seiner eigenen Schutzcharta zur Architektur. In Luxemburg wurde man sich dieser neuen Werte bewusst, doch Sanierungen historischer Bauten standen nun im Mittelpunkt. Dies erklärt auch die offene Haltung zu Entkernung und „Fassadismus“.
Ehemalige Festungsbauten oder Bauerbe aus dem 19. Jahrhundert fanden damals nur wenig Verständnis bei den Behörden. Von Industrieerbe ging im Zeitalter einer sterbenden Industrie keine Rede. Das von einem Bauprojekt Paul Retters bedrohte „Hôtel de Paris“ am Place de Paris wurde 1978 als Denkmal geschützt. Ein Novum, das Haus war damals erst 66 Jahre jung. Erst die Bedrohung hatte zum Bewusstsein neuer Kategorien von Bauerbe geführt.
* RETTER, Paul, Les types d’aménagement fonctionnel du territoire luxembourgeois, Paris, 1955, p. 165
** Ibidem, p.165.
- Rodrigo Moreno: „Sie hassen die Kultur“ - 29. März 2024.
- Der Ursprung des Kastensystems: „Origin“ von Ava DuVernay - 29. März 2024.
- Schade, dass der Film nicht länger ist: „Los delincuentes“ von Rodrigo Moreno - 29. März 2024.
De Verschampléierungsspezialist aus der Stad. De waert wuel an der déifster Architektenhell brooden. Iwwer Goût kann e streide, mais do muss et e mol fir d’alleréischt do sin.
Et misst en sech drugi, fir Photoë vun denen Horreurën ze mache an se an engem Sammelband zesummendroën. Als Warnung u kommend Generatiounen!
Virum Retter hate mer eng schéi Stad. Wéi de Retter fäerdeg war, war se op ville Plazen total banal.