GeschichteWie ein polnischer Einwanderer Luxemburgs zum Shoah-Opfer konstruiert wurde

Geschichte / Wie ein polnischer Einwanderer Luxemburgs zum Shoah-Opfer konstruiert wurde
Aufmarsch der deutschen Truppen in der Grand’rue der Hauptstadt am 10. Mai 1940. Das schmale Haus links neben „Namur“ ist die Nr. 62. Foto: Tony Krier. Copyright: Photothèque de la Ville de Luxembourg

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Dies ist die Geschichte eines polnischen Einwanderers, der lange nach seinem Ableben von seiner luxemburgischen Urenkelin zu einem Shoah1-Opfer konstruiert wurde, das er nicht war. Es ist auch die Geschichte eines Versuches, den Staat um die Entschädigung eines Kriegsschadens zu prellen, den es nicht gegeben hat.

Eine Frau, nennen wir sie KM, behauptet, eine Jüdin zu sein, eine Nachkommin von Shoah-Überlebenden, deren Besitz angeblich unter der Nazi-Okkupation beschlagnahmt wurde. Sie sieht sich als zugehörig zur zweiten Shoah-Generation und glaubt berechtigt zu sein, Forderungen an den Staat zu richten und das neulich unterzeichnete Spoliations-Abkommen zwischen Staat und jüdischer Gemeinschaft anzufechten. Schauen wir uns die Faktenlage an und gehen wir zurück zum Tag der deutschen Invasion.

Am Tag des Einmarsches der Wehrmacht in Luxemburg, am 10. Mai 1940, verließ Großherzogin Charlotte mit ihrer Familie und der Regierung das Land. Danach führte eine sogenannte „Verwaltungskommission“ unter der Leitung des Generalsekretärs der Regierung, Albert Wehrer, provisorisch die Regierungsgeschäfte weiter. Die Verwaltungskommission bestand ausschließlich aus hohen Luxemburger Beamten. Im Juli 1940 wurde die deutsche Militärverwaltung durch eine Zivilverwaltung unter der Führung von Gauleiter Gustav Simon als Chef der Zivilverwaltung (CdZ) abgelöst. Die Verwaltungskommission wurde ab Oktober schrittweise entmachtet und Ende Dezember 1940 aufgelöst.

Am 11. September 1940 schrieb Dr. Münzel in Vertretung des CdZ an die Verwaltungskommission bezüglich der ausweispolizeilichen Behandlung der Reichsdeutschen in Luxemburg. Diese sollten nicht mehr als Ausländer behandelt werden, sondern in allen Hinsichten den luxemburgischen Staatsangehörigen gleichgestellt werden.2 Diese Deutschen sollten in Zukunft eine Luxemburger Identitätskarte erhalten mit dem Vermerk „Reichsdeutscher“. Alle Polizeistationen wurden angewiesen, so zu verfahren.

Erfassung „polnischer Juden“

Daraufhin richtete die Verwaltungskommission am 16. Oktober 1940 eine Anfrage an den Regierungsrat Emil Brisbois, zuständig für Justiz und Fremdenpolizei, wie denn die deutschen Juden mit einem staatenlosen Pass bzw. die deutschen Juden generell behandelt werden sollen. Die Polizei möchte dies geklärt sehen. Und schließlich, ob auch gegenüber den polnischen Juden in derselben Weise zu verfahren sei.

Woraufhin Brisbois am 17. Oktober 1940 antwortete, dass die staatenlosen Juden im Besitz einer Identitätskarte sein müssen. Was die deutschen Juden anbelangt, glaubte Brisbois zu verstehen, dass es nicht im Sinn der Verordnung des CdZ sei, „den deutschen Juden eine Vorzugsstellung zu erteilen“. Sie müssten weiter im Besitz einer Identitätskarte für Fremde sein.3

Am 31. Oktober 1940 reichte nun die Verwaltungskommission die aufgeworfenen Fragen an den CdZ weiter. Auch hier wurde erneut die Frage gestellt, wie denn mit den polnischen Juden zu verfahren sei. Nun wurden die Deutschen hellhörig und wollten am 9. November 1940 wissen „wieviel Juden polnischer Abstammung sich im Lande aufhalten“.4

Daraufhin wurde eine namentliche Liste der betroffenen Personen aufgestellt. Am 21. November 1940 teilte die Verwaltungskommission dem CdZ mit, dass „die Zahl der unabgemeldeten polnischen Juden gemäß der beiliegenden Liste 480 beträgt“. In diesem Schreiben erfährt man außerdem, wie die Liste zustande kam: „Die Liste wurde nach Durchsicht sämtlicher Akten der Fremdenpolizei auf Grund der Namen und Vornamen der Interessenten aufgestellt, da die Anmeldungen eine Rubrik über Religion oder Rassezugehörigkeit nicht enthalten.“5

In der entsprechenden Archivakte des Außenministeriums ist nur die oben zitierte Korrespondenz zu finden, aber nicht die Liste selbst. Diese befindet sich in einer Archivakte des CdZ und trägt den Titel: „Verzeichnis der hierzulande angemeldeten Juden polnischer Abstammung in alphabetischer Reihenfolge und nach Ortschaften geordnet“.6 Die Liste wurde integral vom Historiker Denis Scuto am 19. November 2015 im Tageblatt veröffentlicht.

Weil die Liste nur aufgrund der Namen aufgestellt wurde, finden sich sowohl jüdische als auch nicht-jüdische Menschen darauf wieder, und nicht alle sind polnischer Herkunft. Diese Vorgehensweise ist natürlich problematisch, weil nicht alle Menschen, die einen jüdisch klingenden Namen tragen, auch tatsächlich jüdisch sind. So gab es beispielsweise einen SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei, der Walter Abraham hieß, und der Referent des CdZ für das höhere Schulwesen trug den Namen „Lippmann“.

Und so gelangte auch die fünfköpfige nicht-jüdische Familie des polnischen Einwanderers Majer Abramowicz, seine zwei Töchter Charlotte und Anneliese, sein Sohn Johann sowie seine deutsche Ehefrau Maria Isken auf diese Liste. (s. Abb. der ersten Seite der Liste). Auch im Rahmen einer Erfassung aller Juden Luxemburgs nach Straßen, die am 18. August 1940 von der Lokalpolizei durchgeführt wurde – mit hoher Sicherheit auch nur auf der Basis von Familiennamen –, erscheint die Familie Abramowicz in zwei Zeilen auf Blatt Nr. 1271 wie folgt:

1. „Abramovicz Mayer, Anstreicher, Grossstr. 62“. Unter Bemerkungen steht: „Mit Frau & 2 Kindern“.
2. „Abramovicz Johann, idem, idem 62.“ Keine Bemerkung.

Auf dem gleichen Blatt wird noch besonders erwähnt, dass die Familien Mayer-Reis Adolf und Mayer-Lieben Franz sowie die Familie Cerf Moritz seit dem 10. Mai 1940 flüchtig seien, was allerdings für die Familie Abramowicz nicht zutraf. Das Blatt wurde vom Polizeibrigadier Kayser unterzeichnet.7

Nachfolgend befassen wir uns nun näher mit der Familie Abramowicz. Nach seiner Auswanderung aus Polen nannte sich Majer Abramowicz mit dem Vornamen „Meier Martin“ Abramowicz, später nur noch Martin. Nachfolgend nennen wir ihn Martin A.

Wer war Martin Abramowicz?

Martin A. wurde in der polnischen Stadt Wieluń am 21. Oktober 1889 geboren. Er war laut eigenen Angaben von der israelitischen zur katholischen Religion übergetreten. In den Archivakten, in denen die Religionszugehörigkeit erwähnt wird, steht, er sei „katholischer Konfession“.8

Martin A. wanderte 1914 nach Deutschland aus, wo er sich in Westfalen niederließ und 1916 eine deutsche Frau evangelischer Konfession namens Maria Isken heiratete. Er arbeitete als Fuhrmann. Wann und wo er das später ausgeübte Anstreicherhandwerk erlernt hat, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden.

Das erste Kind Charlotte kam in Bochum am 12. September 1916 zur Welt. Dann folgte eine zweite Tochter, Anneliese, die in Hohenlimburg am 20. Februar 1918 das Licht der Welt erblickte, und 14 Monate später kam sein Sohn Johann ebenfalls in Hohenlimburg zur Welt. Nach der Geburt von Johann im Jahre 1919 ließ sich die Familie in Dortmund nieder.

Martin Abramowicz, 1944
Martin Abramowicz, 1944 ANLux J-108-0448050

Im Jahre 1926/27 zog die Familie nach Polen und wohnte im Dorf Raducyce im Bezirk Wieluń. Gegen Ende 1929 verließ Martin A. Polen und ließ dort seine Familie zurück. Auf der Suche nach besseren Lebensverhältnissen reiste er zunächst nach Metz, Frankreich, und von dort nach Luxemburg, wo er sich am 16. März 1930 bei der Fremdenpolizei anmeldete. Er wohnte für Kost und Logis bei der Familie Frank-Meyer in der rue d’Anvers und fand Arbeit als Anstreicher bei einem Malerbetrieb in Eich. Die Hälfte seines wöchentlichen Lohnes sandte er an seine Ehefrau nach Polen.9

Als er dachte, er könne seine Familie ernähren, unternahm Martin A. Anstrengungen, damit diese ihm nach Luxemburg folgen konnte, was dann Ende Dezember 1930 geschah.

Wahrscheinlich in Vorbereitung eines Umzugs ins „katholische Luxemburg“ wurde die zweite Tochter des Ehepaares Abramowicz-Isken in der Pfarrei Osjakow-Wieluń am 7. August 1930 getauft. Möglicherweise traten zu dem Zeitpunkt die drei Kinder vom evangelischen zum katholischen Glauben über. Da die Mutter evangelisch war, waren die Kinder bei der Geburt evangelisch getauft worden (s. Abb.). Die übersetzte Abschrift aus dem „Konvertitenbuch“ der Pfarrei Osjakow von der „Lossprechung von der Lutherischen Irrlehre“ der zweiten Tochter von Martin A. wurde am 10. August 1942 in Luxemburg-Stadt durch den Vikar Heinrich Wester, von der für die Grand’rue zuständigen Pfarrei, beglaubigt. Auch dies belegt, dass die Familie während des Kriegs in Luxemburg war.

Die Familie meldete sich am 2. April 1931 in Luxemburg an der rue Adolphe Fischer 106 an. Ab 1931/32 arbeitete Martin A. als selbstständiger Anstreichermeister. Im Juni 1933 zog die Familie in die Michel-Welterstraße und ab August 1934 mietete sie eine Fünfzimmerwohnung in der Grand’rue 62. Ab da befand sich die Familie in einem Aufwärtstrend.

Nicht deportiert

Die Lage änderte sich im Laufe des Jahres 1939. Alle verdienenden Mitglieder des Haushalts verloren ihre Beschäftigung. Hatte Martin A. polizeilichen Berichten zufolge noch im Jahr 1938 ein Einkommen von 12.450 Franken versteuert, was damals bei einer Monatsmiete von 250 Franken für einen selbstständigen Anstreichermeister eine gute Situation darstellte, so rutschte die Familie im Laufe des Jahres 1939 in die Armut ab. Martin A. selbst und der bei ihm als Anstreichergeselle arbeitende Sohn Johann waren ab September ohne Beschäftigung.10

Mitte November 1939 musste Martin A. außerdem seine Handwerkerkarte zur Erneuerung an die Handwerkerkammer einsenden. Weil er Ausländer war und zu der Zeit viele luxemburgische Anstreichermeister ohne Arbeit und Verdienst waren, standen die Chancen auf eine schnelle Erneuerung schlecht.

Maria Abramowicz-Isken, 1944
Maria Abramowicz-Isken, 1944 ANLux J-108-0448050

Am 8. Februar 1940 berichtete Polizeibrigadier Alff an die Fremdenpolizei, der Haushalt von Martin A. lebe in „sehr ärmlichen Verhältnissen“. „Das Essen bekommen sie täglich, unentgeltlich in der hiesigen Volksküche, während sie mit der Hausmiete jetzt 5 Monate im Rückstande sind“, schrieb Alff.11

Danach schien sich die Familienlage zu entspannen. Aus einem Bericht des Sicherheitsdienstes an die Generalstaatsanwaltschaft vom 20. März 1940 geht hervor, die Handwerkerkammer würde die Handwerkerkarte wieder erneuern. Die älteste Tochter sei seit dem 15. Februar 1940 wieder in Beschäftigung und sei nun die einzige Verdienerin des Haushalts. Es wird unterstrichen, dass die Notlage der Familie nicht auf ihr eigenes Verschulden zurückzuführen sei, sondern wegen der Arbeitslosigkeit, die „auf allen Schichten der Bevölkerung“ laste, entstanden sei. In ihrem zehnjährigen Aufenthalt in Luxemburg habe die Familie nie die öffentliche Fürsorge in Anspruch genommen.12

Dann kam der Krieg. Die Eltern verbrachten zusammen mit ihren beiden Töchtern die Kriegsjahre in der Grand’rue. Sie schienen sich von den Vorkriegsschwierigkeiten gut zu erholen. Der Sohn fand Arbeit im nahen Lothringen und wohnte in Bouzonville. Dort wurde er im Juni 1943 zwangsweise in die Wehrmacht eingezogen und kam als Soldat an die Ostfront. Er hatte noch vorher in Bouzonville eine Familie gegründet.

Der Verfasser konnte noch mehrere Enkel und einen Urenkel von Martin A. ausfindig machen. Sie sind alle formell: Über eine jüdische Herkunft wurde in der Familie nie geredet. Die Eltern und Großeltern waren gläubige Christen. Sie waren während des Kriegs weder Opfer von antijüdischen Maßnahmen noch von Enteignungen, noch wurden sie irgendwohin deportiert.13

Es stimmt, dass die Familie auf der oben erwähnten Liste „polnischer Juden“ von November 1940 aufgeführt wird sowie auf der generellen polizeilichen Erfassung von Juden vom 18. August 1940 vorkam. Allerdings sind ihre Namen auf keiner späteren Liste von Juden, die Opfer von antijüdischen Maßnahmen bzw. deportiert wurden, zu finden. Auch ein enteignetes „arisiertes“ Geschäft, das den Namen Abramowicz trug, ist auf der Liste der beschlagnahmten jüdischen Betriebe und Geschäfte nicht zu finden.14 Dies kann nur bedeuten, dass Martin A. die Deutschen erfolgreich davon überzeugen konnte, dass er und seine Familie fälschlicherweise auf die oben erwähnten Listen gelangt waren.

Grand’rue 62

Des weiteren Verständnisses wegen ist es notwendig, sich mit der Immobilie in der Grand’rue 62 zu beschäftigen. In der Regel waren die Häuser in der Großgasse so angelegt, dass sich hinter dem von der Straße aus sichtbaren Haus, mit im Erdgeschoss einem Geschäft, noch ein zweites Haus befand. Das Fronthaus und das Hinterhaus trugen allerdings die gleiche Hausnummer.

Martin A. wohnte mit seiner Familie seit August 1934 bis nach dem Zweiten Weltkrieg in der Grand’rue 62 in einem solchen Hinterhaus. Als Martin A. und seine Ehefrau zum ersten Mal nach der Befreiung Luxemburgs am 20. Oktober 1944 einen Antrag auf Erneuerung der Fremdenkarte stellten, gaben sie als Wohnort und Straße an: „Luxemburg, Grossstrasse 62“.15

Aus der Volkszählung vom 20. August 1945 ist ersichtlich, dass zu dem Zeitpunkt das Ehepaar Abramowicz-Isken sowie der aus dem Krieg heimgekehrte Sohn Johann mit Ehefrau und Tochter dort wohnten.16 Die beiden Töchter waren bereits im Dezember 1944 ausgezogen, da sie im gleichen Monat geheiratet hatten.

Nach der Grand’rue wohnte das Ehepaar Abramowicz-Isken noch eine kurze Zeit in der Beaumontstraße. Am 14. August 1950 meldete es sich in der rue Bender 6 an. Dort wohnte Martin A. in einer Mietwohnung bis zu seinem Tode am 9. April 1960. Er wurde am 12. April 1960 auf dem „katholischen“ Friedhof Notre-Dame in Luxemburg-Limpertsberg begraben.17

Für den Zweck dieses Beitrags war es wichtig, die Besitzverhältnisse der in der Grand’rue 62 gelegenen Liegenschaft zu untersuchen. Diese Immobilie wurde 1919 von einem Luxemburger Schuhhändler ersteigert, der 1927 verstarb. Sie blieb danach im Besitz seiner Witwe, bis diese sie 1953 verkaufte. Sie selbst wohnte im Vorderhaus. Das Anwesen war zu keinem Zeitpunkt ganz oder teilweise im Besitz der Familie Abramowicz.

Legendenbildung

Die am Anfang dieses Beitrags geschilderte Vorgehensweise der Luxemburger Beamten, die unaufgefordert Fragen zu den Einwohnern Luxemburgs jüdischer Konfession aufwarfen bzw. diese Einwohner auf Listen erfassten, wurde in dem sogenannten Artuso-Bericht behandelt.18 Dieser hat dazu geführt, dass 2015 die Regierung und das Parlament anerkennen mussten, dass der Luxemburger Staat eine Mitschuld an der Erfassung der jüdischen Bevölkerung unter der Nazi-Okkupation trage. Dies führte dazu, dass sich Regierung und Parlament am 9. Juni 2015 für diese administrative Mitverantwortung an der Judenverfolgung gegenüber der jüdischen Gemeinschaft formell entschuldigte. Das Thema war nun in aller Munde und füllte die Zeitungsseiten.

Dann wurde einige Monate später die Liste „polnischer Juden“, auf der sich fälschlicherweise die Namen der Familie Abramowicz befanden, veröffentlicht. Dies alles muss nun KM, die Urenkelin von Martin A. – die er selbst nie kennengelernt hatte, da er bereits vor ihrer Geburt verstorben war –, in der Idee bestärkt haben, sie sei die Nachkommin eines polnischen Juden, der als Shoah-Opfer zu betrachten sei.

Offensichtlich nicht wissend, wie man jüdisch wird, war sie nun davon überzeugt – und dies bis heute –, sie sei eine Jüdin, die als Nachkommin eines Shoah-Opfers berechtigt sei, Anspruch auf eine staatliche Entschädigung für erlittenes Leid ihrer „jüdischen“ Familie und für die nie stattgefundene Plünderung (Spoliation) eines nie bestandenen Vermögens, insbesondere des Hauses in der Grand’rue 62, erheben zu können.

Auszug aus dem Taufregister der zweiten Tochter von Martin A. Seine Religionszugehörigkeit: katholisch, nicht jüdisch.
Auszug aus dem Taufregister der zweiten Tochter von Martin A. Seine Religionszugehörigkeit: katholisch, nicht jüdisch. Foto: private Sammlung

An dieser Stelle des Artikels muss nun erklärt werden, wie eine Person jüdisch wird. Im Judentum gilt: Jude ist nur, wer eine jüdische Mutter hat. Der Vater, Großvater, Urgroßvater oder Ur-Ur-Großvater spielen dabei keine Rolle. Wenn Kinder einen jüdischen Vater haben und eine nicht-jüdische Mutter und sie jüdisch sein möchten, dann müssen sie sich zur jüdischen Religion konvertieren lassen. Dies ist ein sehr aufwendiger und mehrere Jahre dauernder Vorgang, bei dem u.a. die hebräische Sprache erlernt werden muss. Bei der angeblichen „Jüdin“ KM handelt es sich mitnichten um eine Jüdin, sondern um eine getaufte Katholikin, an deren Erstkommunion ihre Verwandten sich noch gut erinnern können. Weder ihre Mutter noch ihre Großmutter, noch ihre Urgroßmutter waren jüdisch. In der jüdischen Gemeinde ist sie völlig unbekannt.

Da aber in der Familie Abramowicz nichts über eine Zugehörigkeit zum Judentum bzw. über eine erlittene Verfolgung der Familie als Juden während des Kriegs zu erfahren war, wurde eine solche erfunden.

KM stellte nun Nachforschungen an, mit dem Zweck, eine Verbindung zum Völkermord an den europäischen Juden herzustellen. Internationale Online-Holocaust-Datenbanken (DB) konnten ihr dabei helfen, wie z.B. die „Central Database of Shoah Victims‘ Names“ der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.

Personenverwechslung

Auf dieser Internetseite kann man den Namen, den Vornamen und das Land eines Shoah-Opfers eintippen. Tippt man „Abramowicz Martin Luxembourg“ ein, kommt kein Resultat. Tippt man aber nur den Familiennamen „Abramowicz“ und das Land „Luxembourg“ ein, erscheint gleich eine ganze Liste, an erster Stelle ein „Mayer Maurice“ A., dann „Johann A.“, dann drei Personen ohne Vorname und noch zwei Personen aus Luxemburg, Belgien. Bei zwei Personen ohne Vorname steht, dass es sich um ein Kind von „Mayer“ handelt und bei der dritten Person um seine Frau. Bei Johann steht als „Fate“ (Schicksal) „murdered“ (ermordet) und bei allen anderen „not stated“ (nicht angegeben). Bei „Mayer Maurice“ und bei „Johann“ steht als Beruf Anstreicher und die angegebene Adresse ist „Grossstr. 62, Luxembourg“.

„Mayer Maurice“ A. ist die einzige der fünf Personen, bei der ein Geburtsdatum und ein Geburtsort angegeben ist, nämlich: geboren in Sieradz, Polen, am 6.1.1895, sowie eine Deportationsangabe. Er soll am 6. März 1943 mit dem Transport Nr. 51 von Drancy, Frankreich, ins KZ Majdanek deportiert worden sein. Tatsächlich wurde Martin A. am 21. Oktober 1889 in Wieluń geboren und er ist nirgendwohin deportiert worden, wie wir oben gesehen haben.

Hier sind die Geburts- und Deportationsdaten einer völlig anderen Person mit derjenigen von Martin A. verknüpft worden, nämlich mit den Daten des wahrhaftigen Shoah-Opfers Maurice Abramowicz aus Frankreich. Dieser Mann wohnte vor dem Krieg mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Hayange. Er war von Beruf Schneider. Er verließ Hayange, möglicherweise bei Kriegsanfang, und wurde 1943 im Rahmen der Judenverfolgung in Beaulieu (Corrèze) aufgegriffen und über das KZ Gurs schließlich ins Sammellager Drancy deportiert. Von dort wurde er am 6. März 1943 mit dem Transport Nr. 51 offiziell nach Majdanek19, aber in Wirklichkeit ins Vernichtungslager Sobibor deportiert, wo er ermordet wurde. Sein Name wurde in die Mauer der Shoah-Opfer, die „Mur des noms“ des „Mémorial de la Shoah“ in Paris, eingraviert (s. Abb.).20 Gibt man in der Yad-Vashem-Datenbank „Abramowicz Maurice France“ ein, erhält man die richtigen Angaben mit dem Hinweis „murdered“.

Die falschen Angaben über Martin A. und seine Familie in der Yad-Vashem-Datenbank kamen aus Luxemburg. Sie sind aufgrund von Missverständnissen entstanden, auf die wir in diesem Beitrag nicht eingehen können. Diese Daten sind teilweise mit Fragezeichen versehen vom „Centre de documentation et de recherche sur la Résistance“ u.a. an Yad Vashem Anfang der 2000er Jahre gesandt worden. Dort wurden die Luxemburger Bedenken ignoriert und falsche Daten sind zu „Fakten“ geworden.

Anfänglich unterstützt durch ihre Schwester, nutzt KM diese Personenverwechslung aus. So füllte ihre Schwester am 10. Januar 2015 auf der Internetseite des Mémorial in Paris ein Formular aus, um Informationen über ihren Urgroßvater zu erhalten. Dabei gab sie die Geburtsdaten von Maurice A. aus Hayange an. Als Sterbedaten gab sie an: 21.3.1943 in Lublin, obwohl ihr Urgroßvater Martin A. in Luxemburg am 9. April 1960 verstorben ist.21 KM schreibt seitdem, ihr Urgroßvater sei mit dem Transport 51 von Drancy nach Majdanek deportiert worden.22 Es ist eigentlich nicht zu verstehen, dass sie nicht „gemerkt hat“, dass es sich bei dem einzigen „Abramowicz“ auf diesem Transport nicht um ihren Urgroßvater handeln kann. An anderen Stellen hat sie nämlich das richtige Geburtsjahr und den richtigen Geburtsort ihres Urgroßvaters angegeben. So zum Beispiel gegenüber einem Tageblatt-Journalisten im Juli 2018.

KM weiß natürlich auch, dass ihr Großvater Johann kein Shoah-Opfer war, sondern ein Wehrmachtsoldat. Johann A. hat den Krieg als Kriegsversehrter überlebt. Nach einer Verwundung am Ellbogen an der Ostfront im Sommer 1944 wurde ihm in einem Lazarett der Wehrmacht der rechte Vorderarm amputiert. Nach vielen Monaten Genesung kehrte er erst am 14. Mai 1945 nach Luxemburg zu seinen Eltern zurück. Bei der Gemeinde Luxemburg meldete er sich am 15. Mai 1945 wieder in der Grand’rue 62 an. Er gab als Herkunftsort „Wehrmacht“ an.23

Geschichte wird erweitert

Am 27. Januar 2021 unterzeichnete die Regierung mit der jüdischen Gemeinschaft eine Vergleichsvereinbarung betreffend die Zwangsenteignung von Juden durch den Nazi-Okkupanten. Es ging dabei um jüdische Menschen, die am Tag des deutschen Einmarsches in Luxemburg wohnten, aber nicht die luxemburgische Staatsangehörigkeit besaßen. Sie waren von dem Gesetz über Kriegsentschädigung von 1950 ausgeschlossen worden, da dieses ausschließlich geschädigte Luxemburger Staatsbürger betraf. In diesem Beitrag kann nicht auf dieses Abkommen eingegangen werden.

Dies rief KM mit neuem Elan auf den Plan. Unterstützt durch ihren Ehemann, ging sie nun eigenhändig gegen dieses Abkommen vor. Sie verfasste (oder ließ verfassen) eine Analyse des Abkommens, die sie an Organisationen, Ministerien und die Presse versandte.

Ihr Ehemann ist bemüht, seine Frau an die Spitze eines Kollektivs „kritischer Juden“ zu stellen, welches das Abkommen angeblich anfechten möchte. Er verbreitet die Legende der geschädigten „jüdischen“ Familie der KM, die zwar das Glück hatte, die Shoah zu überleben, aber bis heute „ihren geklauten Besitz nicht zurückbekommen hat“. So kann man es auf seinem Blog lesen.

Bereits im Juli 2018 hatte das Ehepaar einen Tageblatt-Journalisten in der Hauptstadt getroffen, um ihm das Haus in der Grand’rue 62 zu zeigen und zu erklären, dort sei der Malerbetrieb Abramowicz gewesen, bevor die Nazis ihn weggenommen hätten. Der Ehemann behauptet in den sozialen Medien, das Haus sei durch Schenkungsakt einem Versicherungsagenten zugewiesen worden.

KM selbst stellt sich in ihrer Analyse des Abkommens wiederum als Jüdin dar. Sie schreibt: „Als Jüdin, deren Familie ihr Heimatland Polen 1929 verließ und nach Luxemburg flüchtete, um dann hier verfolgt, enteignet, verschleppt und, zum Teil, ermordet zu werden, sehe ich die Dinge differenzierter als die Presse, wo das Abkommen begrüßt wurde.“

Der Name des wirklichen Shoah-Opfers Maurice Abramowicz steht auf der Mauer der Shoah-Opfer von 1943 in Paris (18. Zeile v. oben)
Der Name des wirklichen Shoah-Opfers Maurice Abramowicz steht auf der Mauer der Shoah-Opfer von 1943 in Paris (18. Zeile v. oben) Foto: Elena Lorang, Paris, 02/2021

Die Legende wurde neulich um eine Dimension erweitert. Nun geht es nicht mehr nur um das angeblich von Drancy nach Majdanek deportierte „Shoah-Opfer“ Martin A., also um den Urgroßvater, jetzt ist fast die ganze Familie betroffen. Nun erfährt man, dass im Jahre 1943 die Mutter von KM, „damals 3 Monate alt“, und ihre Großmutter „in ein Arbeitslager kamen“. Ihre Urgroßmutter soll in den Reichsarbeitsdienst eingezogen worden sein. Dann sollen all diese angeblichen „Shoah-Überlebenden“ bis 1951 in einem DP-Lager (DP steht für „displaced persons“, Anm. d. Red.) bei Leipzig zurückbehalten worden sein, bevor sie nach Luxemburg zurückkehren durften.

Wie sieht nun für die Erweiterung der Geschichte die Faktenlage aus? Wie bereits oben erwähnt, war das Ehepaar Abramowicz-Isken mit seinen zwei Töchtern während des Kriegs in Luxemburg. Der Sohn arbeitete und lebte im nahen Lothringen in Bouzonville. Er hatte dort am 3. Februar 1943 die Französin Marie-Louise Welter geheiratet und sie hatten eine gemeinsame Tochter. Nachdem Johann, Jahrgang 1919, im Juni 1943 zwangsweise zur Wehrmacht eingezogen worden war (in Lothringen wurden auch frühere Jahrgänge eingezogen; in Luxemburg erst ab 1920, Anm. d. Red.), lebte seine Frau mit Tochter in Bouzonville.

Nach der Schlacht um Metz zogen sich die Deutschen im November 1944 aus dem Département Moselle zurück. Dies gab nun Anlass für die Frau von Johann A., sich mit ihrem Kind ebenfalls nach Deutschland abzusetzen, vielleicht aus Angst, sie könne als Ehefrau eines Wehrmachtsoldaten Schwierigkeiten bekommen. Sie lebte nun bis Kriegsende in Thüringen und kehrte kurz nach ihrem Ehemann nach Luxemburg zurück.

Während die Frau von Johann A. mit ihrer kleinen Tochter, KM zufolge, in einem DP-Camp bei Leipzig festsaß, brachte sie am 10. Januar 1947 in Bouzonville einen Jungen zur Welt, der leider bereits am 29. Januar 1947 verstarb. Die Eltern gaben an, in Luxemburg zu wohnen. Am 7. Juli 1948 meldete sich Johann A. mit Frau und Kind an der Adresse Grand’rue 62 ab und am 16. August 1948 in der Gemeinde Bartringen an.24 All dies geschah also in der Zeitspanne, wo die Familie angeblich in einem Flüchtlingslager bei Leipzig festgehalten wurde.

Aus Platzmangel wird auf eine Schlussfolgerung der hier beschriebenen Tatsachen verzichtet. Der Leser kann sich darüber selbst seine Gedanken machen.

1„Shoah“ steht für die Ermordung der europäischen Juden durch Nazi-Deutschland.
2ANLux AE-03834.
3Ebd.
4Ebd.
5Ebd.
6ANLux CdZ-A-3020.
7ANLux, FD 083, 88.
8ANLux, J-108-0448050.
9Ebd.
10Ebd.
11Ebd.
12Ebd.
13Zu diesem Schluss kam auch der Historiker Paul Dostert, der nach dem ersten an den Premierminister gerichteten Brief im Jahre 2015 in dessen Auftrag den Fall gründlich untersucht hatte.
14Bestätigt durch den Verwalter des jüdischen Archivs.
15ANLux, J-108-0448050.
16Alle Angaben über Anmeldung und Abmeldung sowie Angaben aus den Volkszählungen erhalten vom Archiv der Stadt Luxemburg.
17Information erhalten vom „Etat civil“ der Stadt Luxemburg.
18Artuso, V., La «question juive» au Luxembourg (1933-1941) …, 9.2.2015. https://bit.ly/3qiI4Rp
19Gemäß dem aktuellen Forschungsstand gingen die mit Majdanek angegebenen Drancy-Transporte zuerst ins Vernichtungslager Sobibor. Dort wurde eine kleine Zahl von gesunden Deportierten für Zwangsarbeit selektioniert, die ins KZ Majdanek kamen. Alle anderen wurden in Sobibor durch Gas ermordet.
20Informationen über Maurice A. hier: https://bit.ly/2OuE0jU
21Informationen erhalten vom „Mémorial de la Shoah“ in Paris; das KZ Majdanek hieß offiziell „Konzentrationslager Lublin“.
22Brief an die „Fondation luxembourgeoise pour la Mémoire de la Shoah“ vom 11.2.2019. Eine Kopie des Briefes liegt dem Verfasser vor, wurde ihm allerdings nicht von der Stiftung selbst zugesandt.
23Angaben telefonisch erhalten vom Archiv der Stadt Luxemburg.
24Alle Daten bzg. Bouzonville, Luxemburg und Bartringen wurden bei den jeweiligen Gemeinden überprüft.

Marie-Jo
15. März 2021 - 10.52

@monopol scholer "Die wirklichen Helden haben sich nie nach vorne gedraengt." WIE WAHR !! Es gab Kz Insassen welche ausgemachte Nichtsnutze waren. Es gab Resistenzler die draufgaengerisch andere in Gefahl brachten. Und es gab wirkliche Helden von denen bis heute niemand weiss.

Till Eule vor dem Spiegel
14. März 2021 - 12.21

@Marci: Ihr Kommentar hat einen unterschwelligen Geruch ,so als wären hier geborene Immigrantenkinder ,Fremde im Geburtsland , im Heimatland.

marci
13. März 2021 - 19.09

Ich kann nur schwer verstehen, wieso die Historiker Scuto und Artuso nicht mit dem gleichen Eifer über das Leiden der Juden im faschistischen Italien recherchieren...

monopol scholer
13. März 2021 - 16.21

Vergleichen wir bitte nicht Deutschland mit Luxemburg. Und machen wir uns nicht schlechter als wir sind. Was soll dieser späte Rachefeldzug? Die wirklichen Opfer und Geschädigten haben nie nach Rache geschrien, zu recht oder zu unrecht. Die wirklichen Helden haben sich nie nach vorne gedrängt. Schliesslich hat jeder Mensch ein Gewissen und muss zusehen wie er mit seinen Schandtaten, falls er welche begangen hat, zurechtkommt.

Blücher
13. März 2021 - 13.12

Herr Lorang in vielen Punkten stimme ich mit Ihnen überein, allerdings bemängele ich die Zeitgeschichte , die Historiker ein weiteres Verbrechen des Zweiten Weltkrieges nie thematisieren, oft ignorieren oder verharmlosen. Ich meine das Verbrechen der Nachkriegszeit an den Opfern eine geringere Anzahl der Täter , Mörder mit lapidaren Strafen abgeurteilt wurden , die Mehrzahl straffrei in der Gesellschaft, Politik,Wissenschaft,Wirtschaft,Justiz, hohe Ämter inne haben konnten.Ebenso die Firmen die die Häftlinge ausbeuteten, bis heute sich oft ihrer Verantwortung entzogen haben.Ich kann auch Herrn Juda nur beipflichten die Tabus zu brechen, die Thematik der Zwangsrekrutierten , der offenen wie stillen Kollaboration in Luxemburg neu zu beleuchten, die Geschichtsverfälschung zu revidieren. Nicht dass ich heute einer Verurteilung noch lebender , teils alt und krank , Mitläufer oder Mittäter negativ gegenüber stehe, absolut nicht.Allerdings finde ich es heuchlerisch, heute ein Gewissen entdeckt wird, das über Jahre zu schlummern schien, nun schnell des guten Willen wegen , diese abzuurteilen. Wir brauchen uns nicht zu wundern in Deutschland noch immer Nazis agieren. Diese heutigen Nazis sind Resultat einer verfehlten Nachkriegspolitik der Aufklärung und Erziehung, wo Kameradenverbände von SS,Wehrmacht,.....,der Heimatvertriebenen, der Familien die sich als Opfer der Allierten sahen ,ihre Version der Geschichte übermittelten konnten.Vergessen wir nicht die Widerstandskämpfer lange Zeit als Nestbeschmutzer tituliert wurden, die Arbeit von F.Bauer u.a. von Politik, Justiz behindert wurde.

titi
13. März 2021 - 10.56

Wozu Menschen aus finanziellen Gründen nicht bereit sind alles zu tun. Lug und Trug. Schäbig und schändlich. Traurig allemal.