Virologe Muller„Wenn die Menschen Verantwortung übernehmen sollen, müssen sie auch informiert werden“

Virologe Muller / „Wenn die Menschen Verantwortung übernehmen sollen, müssen sie auch informiert werden“
„Klar wissen, in welchen Bereichen es keine weiteren Lockerungen geben darf“: Virologe Muller kritisiert auch die Regierungsarbeit Foto: Editpress/Didier Sylvestre

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In Luxemburg steigt die Zahl der Ansteckungen mit dem Coronavirus wieder stark an. Die Regierung will reagieren. Der Virologe Claude Muller vom Luxembourg Institute of Health hält das ebenfalls für unabdingbar – fragt sich allerdings auch, wieso es so weit kommen musste. 

Tageblatt: Diese vielen neuen Fälle in Luxemburg, ist das bereits die befürchtete „zweite Welle“?

Claude Muller: Nach dem Lockdown gab es erst wenige Fälle, jetzt werden es mehr. Zurzeit liegen wir mit teils mehr als 40 Fällen am Tag weit über den zwei, drei, die wir in den ersten Wochen nach dem Lockdown täglich hatten. Der Ausdruck „zweite Welle“ ist nichts Definiertes: Eine Welle kann klein oder auch sehr groß sein.

Hat dieser Anstieg mit den Feierlichkeiten der vergangenen Wochen und Tage und demnach auch mit dem von vielen privat gefeierten Nationalfeiertag zu tun?

Ganz sicher, und ich plädiere für radikale Maßnahmen gegen Leute, die alles im Lockdown von der Allgemeinheit erkämpfte so leichtfertig und gewissenlos aufs Spiel setzen. Zu einer Party mit 40 oder 50 Gästen kommt es nicht aus Versehen – die wird mit Absicht organisiert. Wenn das der Beginn einer „zweiten Welle“ ist, sind wir sehr schnell bei Schäden in Millionenhöhe!

Wenn die Leute Eigenverantwortung übernehmen sollen, müssen sie auch informiert werden

Wiegen sich die Menschen durch die Lockerungen nicht auch in falscher Sicherheit?

Am Samstag war ich in der Stadt, mit Maske natürlich. Auf der place d’Armes waren viele Menschen, keiner trug einen Mund-Nasen-Schutz. Da kann einem schon schwindelig werden. Wir haben ein Vorgehen angewandt, das richtig ist: Nacheinander verschiedene Bereiche öffnen und vor jeder weiteren Lockerung beurteilen, wie sich die Infektionen entwickelt haben. Man muss aber ganz klar wissen, in welchen Bereichen man wann keine weiteren Lockerungen zulassen darf. Sonst besteht die Gefahr, dass man so lange weitermacht, bis die Zahlen wieder hochschnellen. Da die Menschen sich vor allem außerhalb der Berufswelt anstecken, muss der private Bereich strenger reglementiert werden, wo es zwar unangenehm ist, aber wirtschaftlich weniger weh tut. Der beruflich-wirtschaftliche Sektor ist bereits so reglementiert, dass er funktionieren kann, ohne dass es zu großen Infektionsketten kommt. Im privaten Bereich muss die Regierung eindeutig nachbessern, und das muss auch der Staatsrat mittragen.

Viel Diskussion gab es zur Schulpolitik, jetzt kommen diese ganzen neuen Fälle hinzu – war es voreilig, die Kinder noch einmal zwei Wochen lang zusammen in die Schule zu schicken?

Für diese Entscheidung gibt es vielleicht politische Argumente. Dass es ein möglicher Testlauf für die „Rentrée“ im Herbst ist, kann ich nicht unbedingt nachvollziehen, da die epidemiologische Situation bis dahin wieder eine ganz andere sein kann. Gesunde Kinder werden fast nie schwer krank und scheinen auch in den Übertragungsketten eine untergeordnete Rolle zu spielen. Mit steigenden Fallzahlen wird ihre Rolle bei den Übertragungen aber zunehmen. Da ist es natürlich unglücklich, dass die steigenden Fallzahlen mit dieser zweiwöchigen „Rentrée“ zusammenfallen. Einige Fallbeispiele sind ja schon in Luxemburg bekannt geworden. Ganz überraschend ist dies also nicht. Aber nachher ist man immer klüger.

Können Sie nachvollziehen, wieso in Luxemburg weiterhin so wenig über die Neuinfektionen und Cluster öffentlich mitgeteilt wird?

Nein, und ich halte das für einen Fehler. Wenn die Leute Eigenverantwortung übernehmen sollen, müssen sie auch informiert werden. Es ist wichtig zu wissen, wie sich die Zahlen an positiv Getesteten zusammensetzen. Sind es Personen mit wenig oder keinen Symptomen, die im Large Scale Testing aufgefallen sind, oder solche, die sich wegen Symptomen haben testen lassen, oder solche, die durch Tracing erfasst wurden? Viele symptomatisch-positiv Getestete sprechen für eine größere Verbreitung des Virus, als viele asymptomatisch Positive, die im Large Scale Testing erfasst werden, dies tun. Auch macht es für das Tracing einen großen Unterschied, ob sich alle auf derselben Party infiziert haben oder eben Einzelfälle ohne bekannte Kontakte. Diese sind am problematischsten. Sie sind es, die eigentlich die gefürchtete zweite Welle auslösen. Hier ist es auch meiner Meinung nach unbedingt notwendig, dass eine Tracing-App bereitsteht. Es ist falsch zu sagen, wir brauchen keine Tracing-App, weil wir so viel testen. Den vollen Nutzen des Large Scale Testing haben wir nur, solange die Tracing-Kapazität ausreicht. Die kann durch eine App wesentlich ausgeweitet werden. Es wäre sträflich, diese nicht bereitzuhalten, wenn die Zahlen weiter steigen, z.B. die vom Robert-Koch-Institut, die man auch in Luxemburg herunterladen kann. Das könnte schon morgen notwendig sein. Der Lockdown war relativ leicht umzusetzen, der Rollback ist ungleich schwieriger.

Pipa
6. Juli 2020 - 11.12

Sou et geht lo duer e zweeten Lockdown ass secher net Leisung an hoechst verantwortungslos.

Manrique
4. Juli 2020 - 8.20

Luxemburg steht am traurigen 17. Platz (von insgesamt 130) Ländern was die Sterblichkeitsrate betrifft (gerechnet auf 1 Millionen Einwohner). Das hat die Welgesundheitsorganisation gestern veröffentlicht: https://www.lemonde.fr/les-decodeurs/article/2020/05/05/coronavirus-age-mortalite-departements-pays-suivez-l-evolution-de-l-epidemie-en-cartes-et-graphiques_6038751_4355770.html