BildungVertrauen ins System: Laurent Dura verteidigt die Inklusionsmaßnahmen des Ministeriums

Bildung / Vertrauen ins System: Laurent Dura verteidigt die Inklusionsmaßnahmen des Ministeriums
„Es sind jetzt mehr Leute da, die die Kinder betreuen können“, sagt Laurent Dura zu den stark gestiegenen Zahlen von Schülern, die eine Hilfe der ESEB in Anspruch nehmen Foto: Pixabay

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Die Zahl der Kinder, die wegen besonderen Förderbedarfs betreut werden, ist in den vergangenen Jahren rasant gestiegen. Laurent Dura, Direktor des „Service national de l’éducation inclusive“, erklärt im Gespräch mit dem Tageblatt die Sicht des Ministeriums auf die Lage an Luxemburgs Schulen.

Die Zahl von Kindern mit besonderem Förderbedarf ist regelrecht explodiert. Innerhalb von fünf Jahren wuchs die Anzahl der Schüler, die eine Hilfe des Unterstützungsteams für Schüler mit besonderem Förderbedarf (ESEB) in Luxemburgs Grundschulen erhalten, von 702 auf 2.574. Die Schulen sind überfordert, Kinder erhalten keine Hilfe und Lehrer brechen zusammen, sagt Joëlle Damé vom SEW zur aktuellen Situation. 

Was sind Schüler mit besonderem Förderbedarf?

Bildungsministerium: „Als Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf gelten Kinder oder Jugendliche, die nach internationalen Klassifikationen Defizite oder Schwierigkeiten aufweisen bzw. deutlich größere Lernprobleme haben als die Mehrheit der gleichaltrigen Kinder oder Jugendlichen. Der sonderpädagogische Förderbedarf eines Schülers kann motorische, visuelle, sprachliche, auditive, intellektuelle oder sozioemotionale Bereiche betreffen.“

Das Tageblatt hat mit Laurent Dura gesprochen, dem Direktor des „Service national de l’éducation inclusive“, und erfahren, wie das Ministerium die Situation einordnet. Laut Dura müsse man die Schülerzahlen in Zusammenhang mit den Reformen der vergangenen sechs bis sieben Jahre sehen: „Es ist richtig, dass die Zahl gewachsen ist – aber es sind jetzt auch mehr Leute da, die die Kinder betreuen können.“ Die Mittel seien in dieser Zeit enorm gewachsen. „Ich würde nicht daraus schließen, dass es viel mehr Fälle gibt, sondern dass viel mehr von einer Betreuung profitieren“, sagt Dura. Eine Reihe von Schülern mit besonderem Förderbedarf, die jetzt von den Maßnahmen profitieren, habe es auch schon früher gegeben, nur konnten sie bis jetzt nicht betreut werden – weil keine Ressourcen da waren.

Es gibt auch Schüler, die eine Betreuung bräuchten, aber keine erhalten – weil das System noch wachsen müsse. „Der Bedarf ist nach wie vor groß und wird auch nicht nachlassen“, sagt Dura. Das Ministerium selbst erhebt aber keine Daten über die Zahl von Kindern mit besonderem Förderbedarf. „Das ist eher eine Aufgabe der Wissenschaft“, sagt Dura. Das System in Luxemburg sei nicht auf die Diagnose und das Label „besondere Bedürfnisse“ angewiesen. „Es geht eher darum, zu erkennen, dass ein Kind Bedürfnisse hat und Hilfe braucht – und diese bereitzustellen“, sagt Dura.

Die aktuelle CSV-DP-Regierung habe sich dafür ausgesprochen, mehr evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen. „Welche Zahlen benötigt man, um gute Entscheidungen treffen zu können?“, fragt Dura. Seine Antwort: „Natürlich muss man die Maßnahmen zählen, aber es ist nie eine rein quantitative Herangehensweise, sondern immer auch eine qualitative.“ Beides müsse parallel weiterentwickelt werden. „Viel oder wenig sagt jedoch nichts über gut oder schlecht aus.“ Das Ministerium habe begonnen, alles systematischer zu dokumentieren. „Wenn die Forscher sagen, die Datenlage in Luxemburg sei eher bescheiden, dann nehmen wir das auch ernst“, sagt Dura.

Mehr als verdoppelt: Die Personalentwicklung

Glossar

Die Abkürzung I-EBS steht für „Instituteurs spécialisés dans la scolarisation des élèves à besoins éducatifs spécifiques“. Die spezialisierten Lehrer unterstützen die betroffenen Schüler in ihrer Klasse.
Die „Assistants pour élèves à besoins éducatifs spécifiques“ (A-EBS) unterstützen die I-EBS bei ihren Aufgaben – etwa bei den Handlungen des täglichen Lebens.
ESEB steht für „Equipe de soutien des élèves à besoins spécifiques“. Die Erzieher unterstützen die Schüler und beraten die Eltern und die Lehrkräfte.
Die CI, „Commissions d’inclusion“, legen die Betreuungsmaßnahmen fest, die den Schülern angeboten werden.
Die letzte Instanz ist die „Commission nationale d’inclusion“, kurz CNI. Diese kann mit Anträgen auf eine spezialisierte Diagnose oder Betreuung kontaktiert werden.

„Durch konsequente Entwicklung und Investitionen hat sich das Personal seit 2017 mehr als verdoppelt“, sagt Dura. Es sei ein Erfolg, dass heute mehr Kinder von einer Betreuung profitieren können. Das Vorgängersystem stammte aus den 1970er Jahren. Die Betreuungsstrukturen wurden dann 2017 mit der Einführung der ESEB, der Kompetenzzentren und der anderen Akteure konsequent verändert. „Das ist ein Prozess“, sagt Dura. Wenn man als junge Verwaltung in kürzester Zeit so viele Leute einstelle, müssen diese integriert werden – und das gehe nicht von heute auf morgen. Nach einem konsequenten Wandel „dauert es einen Augenblick, bis das System zur Ruhe findet“, sagt Dura. 

„Mehr Personal führt dazu, dass mehr Kinder betreut werden – und mehr betreute Kinder erfordern mehr Personal“, sagt Dura. Hier müsse man eine Entscheidung treffen: Man könne entweder in die Breite oder in die Tiefe gehen – also mehr Kinder betreuen oder die betreuten Kinder intensiver begleiten. Auf jeden Fall müsse weiterhin in die Inklusion investiert werden. „Inklusion ist nicht umsonst, das ist ganz klar“, sagt Dura. „Wir brauchen mehr Ressourcen“, sagt Dura. Aber man müsse nicht einfach nur mehr, sondern auch qualifiziertes Personal einstellen. Für den Bildungsauftrag bräuchte es einen sehr breit aufgestellten Apparat – der zusammen im Sinn der Inklusion arbeite. 

Große Hürde: Anträge und ihre Dauer

37 Prozent des Lehrpersonals in den Grundschulen haben laut dem Bericht des „Observatoire national de l’enfance, de la jeunesse et de la qualité scolaire“ bereits gezögert, einen Antrag zu stellen – weil sie das Verfahren als zu kompliziert, zu wenig effizient und zu langwierig empfinden. Der Gesetzgeber habe deswegen vergangenen Sommer neue Fristen für Diagnosen festgelegt, sagt Dura: „Wenn ein ESEB den Auftrag von der CI (‚Commission d’inclusion’, Anm. der Red.) für eine Diagnose kriegt, soll innerhalb von vier Wochen ein erster Bericht fertig sein – bei den Kompetenzzentren ist diese Frist auf drei Monate festgelegt.“ Wenn eine Evaluierung acht bis zehn Monate dauert, dann sei das zu lang.

Laurent Dura, der Direktor des „Service national de l’éducation inclusive“
Laurent Dura, der Direktor des „Service national de l’éducation inclusive“ Foto: Editpress/Hervé Montaigu

„Wenn man nie anfängt, kann man auch nicht beginnen“, sagt Dura zum Zögern des Lehrpersonals: „Für mich ist es die falsche Entscheidung, keinen Antrag zu stellen.“ Dura schlägt Folgendes vor: „Schnell reagieren und die Initiative ergreifen“. Im Luxemburger Schulsystem gebe es die Tendenz, viel auszuhalten und erst dann um Hilfe zu bitten, wenn es eskaliert sei. „Vielleicht muss man sich die Frage stellen, ob man manchmal nicht früher nach Hilfe fragt – und sich damit Vorlaufzeit gibt“, sagt Dura. Wenn man sich bereits in der Krise befinde, seien drei Monate natürlich lang. „Das System soll sich nicht schämen, frühzeitig Hilfe zu beantragen“, sagt Dura. Den anderen Beteiligten müsse die Möglichkeit gegeben werden, ihre Arbeit zu machen.

„Ich will nicht sagen, dass das Lehrpersonal schuld ist“, sagt Dura. Eine Krise komme selten von einem Tag auf den anderen. Deswegen sei eine frühe Reaktion umso wichtiger. „Die I-EBS sind deswegen sehr wichtig“, sagt Dura. Dieses Modell funktioniere sehr gut, weil die Lehrer vor Ort seien und den Schulbetrieb sehr genau kennen. Zusammen mit den „Instituteurs spécialisés dans la scolarisation des élèves à besoins éducatifs spécifiques“ (I-EBS) könne sich das Lehrpersonal zu einem frühen Zeitpunkt besprechen und mit einem geschärften Blick das weitere Vorgehen entscheiden.

Die Zukunft: Neuer Masterstudiengang

Die Uni Luxemburg startet im Herbst mit einem neuen Masterprogramm in der inklusiven Bildung, der sich auch an das bestehende Lehrpersonal richtet. Diese können sich so als I-EBS spezialisieren. „Die Voraussetzungen werden also geschaffen, dass das System weiterentwickelt werden kann“, sagt Dura.

Gerade sei auch ein neues Personalgesetz auf dem Weg, in dem der „Assistants pour élèves à besoins éducatifs spécifiques“ (A-EBS) im Vordergrund stehe. Ab nächstem Schuljahr sollen die ersten A-EBS eingestellt werden, um die Teams zu vervollständigen. „Bei der letzten Evaluierung hat sich gezeigt, dass vieles richtig ist und wir uns weiter in diese Richtung bewegen müssen“, sagt Dura. Jetzt stehe vor allem die Entwicklung des Apparats in der Sekundarstufe an. Und in den Grundschulen sei es sicherlich interessant, die I-EBS und A-EBS konsequent weiterzuentwickeln.

„Wir haben jetzt mehr Kinder, die von einer Betreuung profitieren“, sagt Dura. Aber vielleicht seien noch welche dabei, denen eine intensivere Betreuung nützen würde. „In den nächsten Jahren wird deswegen sicherlich mehr Personal gebraucht werden.“