AfghanistanRette sich, wer kann: Taliban in Kabul, krachende Niederlage für den Westen

Afghanistan / Rette sich, wer kann: Taliban in Kabul, krachende Niederlage für den Westen
Schwer bewaffnete Taliban-Kämpfer fahren in der Provinz Laghman: Die Radikal-Islamisten haben nun auch Kabul eingenommen Str/XinHua/dpa

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Die radikal-islamischen Taliban rücken bei ihrer Offensive in Afghanistan immer weiter vor und sind nun auch in Kabul eingedrungen. Westliche Staaten versuchten überstürzt, ihre Bürger zu evakuieren. Die Einwohner der afghanischen Hauptstadt standen vor einer ungewissen und gefährlichen Nacht.

Offiziell wollten die USA und ihre westlichen Verbündeten Afghanistan in einem geordneten Rückzug verlassen und die Macht an die afghanische Regierung übergeben. Die Taliban haben diese Hoffnung zu Staub zerstoßen. Viel schneller als von den meisten Beobachtern und Regierungen angenommen sind die Radikal-Islamisten nach massiven Landgewinnen während der vergangenen zehn Tage am Sonntag in Kabul eingezogen.

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Der Fall Kabuls ist eine Bankrotterklärung des transatlantischen Bündnisses

Westliche Staaten mussten in überstürzten Aktionen versuchen, ihre Staatsbürger und für ihre Länder tätige Ortskräfte noch außer Landes zu bringen. Unter anderem Frankreich, die Niederlande und Italien verlegten ihre Botschaften in die Nähe des Flughafens, um den Betrieb möglichst lange aufrechterhalten zu können. Die Evakuierungen taugen zum Bild, wie krachend die Niederlage des Westens nach mehr als 20 Jahren Einsatz ausfällt. 

So haben US-Soldaten am Flughafen von Kabul Schüsse in die Luft abgegeben, um eine riesige Menschenmenge auf dem Rollfeld unter Kontrolle zu bringen. „Ich habe sehr viel Angst. Sie feuern viele Schüsse in die Luft“, sagte ein Zeuge der Nachrichtenagentur AFP am Montag (16.8.).

Auch die USA, Deutschland und weitere westliche Staaten haben Staatsbürger und Botschaftspersonal an den Flughafen gebracht, um sie von dort auszufliegen. 67 Länder, darunter auch Deutschland, forderten die Taliban in einer Erklärung auf, alle ausreisewilligen Afghanen und Ausländer ausreisen zu lassen.

Am Montagmorgen teilte das deutsche Verteidigungsministerium mit, dass ein erstes A400M-Transportflugzeug der Bundeswehr aus Wunstorf nach Kabul gestartet sei, um „die zu Schützenden aus Afghanistan in Sicherheit“ zu bringen. „Fest steht: Es ist ein gefährlicher Einsatz für unsere Soldatinnen und Soldaten“, erklärte das Ministerium beim Onlinedienst Twitter.

Hektische Evakuierungen

Nach ihrem zehntägigen Eroberungsfeldzug durch Afghanistan stand der baldige Fall der Hauptstadt am Sonntagabend kurz bevor. Der afghanische Präsident Aschraf Ghani flüchtete bereits am Nachmittag, nach eigenen Aussagen, „um ein Blutvergießen zu verhindern“. Angesichts des raschen Vorrückens der radikal-islamischen Miliz hatte Ghani am Samstag im Fernsehen seinen Landsleuten noch Mut zugesprochen. Ein weiteres Blutvergießen werde er nicht zulassen, sagte er. Die „Remobilisierung“ der afghanischen Streitkräfte habe oberste Priorität.

Panische Flucht: Ein Hubschrauber der USA überfliegt am Sonntag Kabul
Panische Flucht: Ein Hubschrauber der USA überfliegt am Sonntag Kabul Rahmat Gul/AP/dpa

Keine 24 Stunden später waren die Taliban nach eigenen Angaben in mehrere Bezirke Kabuls vorgerückt. Um dort „die Sicherheit zu gewährleisten“, teilte die Miliz mit. Nach Aussage von drei ranghohen Taliban-Vertretern übernahmen die Islamisten sogar die Kontrolle über den Präsidentenpalast – eine Aussage, die sich später bewahrheiten sollte.

Am Sonntagabend dann hat Ghani die militärische Niederlage gegen die radikalislamischen Taliban eingestanden. „Die Taliban haben gesiegt“, schrieb der geflüchtete Präsident auf Facebook. Die Islamisten seien nun verantwortlich für „die Ehre, das Eigentum und die Selbsterhaltung ihrer Landsleute“. Mit der Aufgabe der afghanischen Regierung und ihrer Bereiterklärung zur Machtübergabe hatte sich die Lage in Kabul dann noch einmal zugespitzt.

Kurz davor hatte die US-Botschaft in der Hauptstadt vor einer sich rasch verändernden Sicherheitslage auch am Flughafen von Kabul gewarnt. Es gebe Berichte über Schüsse am Airport, hieß es um kurz nach 18.00 Uhr. Über den Flughafen laufen Evakuierungseinsätze. Um 20.10 Uhr meldete die Nachrichtenagentur Reuters, dass sich afghanischen Medienberichten zufolge in Kabul mehrere Explosionen ereignet haben. Nähere Informationen lagen zu dem Zeitpunkt nicht vor.

Unser Land wurde befreit und die Mudschaheddin haben in Afghanistan gesiegt

Ein Taliban im Präsidentenpalast in Kabul am Sonntagabend gegenüber dem TV-Sender Al-Dschasira

Zwei Jahrzehnte nach ihrem Sturz stehen die Taliban in Afghanistan demnach kurz davor, die Macht am Hindukusch wieder an sich zu reißen. Unter den Bewohnern von Kabul breitete sich Panik aus, vor den Banken bildeten sich lange Schlangen. Vielerorts herrschte Angst davor, dass die Hauptstadt im Chaos versinken könnte. Wie Journalisten auf Twitter berichteten, waren viele Bankautomaten schnell leer und die Flugpreise stiegen rasch in astronomische Höhen. Später am Tag wurde nach NATO-Angaben die zivile Luftfahrt eingestellt. Es seien nur noch Militärflüge erlaubt, sagte ein NATO-Vertreter am frühen Abend.

Wie die Deutsche Presseagentur schreibt, gab es Prügeleien und Schießereien um die Reihenfolge in der Schlange vor den Bankautomaten. Andere Einwohner Kabuls begannen demnach, mit den Fingernägeln Konterfeis von Ahmad Schah Massud, dem legendären verstorbenen Kämpfer gegen die Taliban aus dem Pandschir-Tal, von ihren Autoscheiben zu kratzen. Wieder andernorts wurden rasch Maler herbeigerufen, um allzu freizügige Reklamebilder an Geschäften, die Frauen zeigten, rasch zu übermalen. Auch Musiker ließen ihre Banner entfernen.

Kaum fielen irgendwo Schüsse – und es ist keine Seltenheit, dass in Kabul jemand völlig grundlos in die Luft feuert – begannen die Menschen, in alle Richtungen zu rennen. Manche rannten offenbar auch nur vor Männern mit schwarzem Turban davon. Diese werden gerne von Taliban getragen. Die Hubschrauber, die alle paar Minuten extrem knapp über die Dächer im Zentrum der Stadt donnerten, wohl Ausländer ausflogen und dabei die Glasscheiben zum Vibrieren brachten, trugen nicht zur Beruhigung bei.

Ein Rennen gegen die Zeit: Wie Washington schickte London am Sonntag Verstärkung für die Evakuiierungseinsätze
Ein Rennen gegen die Zeit: Wie Washington schickte London am Sonntag Verstärkung für die Evakuiierungseinsätze Foto: AFP/Crown Copyright 2021/MOD

Die USA reagierten auf den Taliban-Vorstoß, indem sie ihre Truppen in Afghanistan weiter auf nun insgesamt 6.000 Soldaten verstärkten. Das Pentagon habe die Entsendung weiterer 1.000 Soldaten nach Kabul genehmigt, sagt ein US-Vertreter der Nachrichtenagentur Reuters am Abend. Dort sollen sie bei den Evakuierungen helfen.

Sieg verkündet  

Die Vereinten Nationen forderten am Abend die Taliban noch dazu auf, ihre Offensive zu beenden. Da hatten einige Militärflieger westlicher Staaten bereits eiligst abgehoben, um die Evakuierungen doch noch zu meistern. Ob sie alle gelingen werden, stand gestern bei Redaktionsschluss in den Sternen. Die großen Verlierer aber werden die Afghanen sein. Sie haben sich lange auf den Westen verlassen. Nach dessen Truppenrückzug schlugen die Taliban zu. 

Am späten Abend dann haben die Taliban im Präsidentenpalast in Kabul ihren „Sieg“ verkündet. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie sich dutzende bewaffnete Kämpfer der Miliz in dem Gebäude aufhielten. „Unser Land wurde befreit und die Mudschaheddin haben in Afghanistan gesiegt“, sagte einer von ihnen dem TV-Sender Al-Dschasira.

Schade
17. August 2021 - 20.30

NATO und EU haben ihre Schwäche gezeigt. Tut mir leid (((

grenzgegner
17. August 2021 - 16.10

@Wieder Mann: Denkfehler, noch dazu mehrere: Sie differenzieren nicht, was die Anwendung des Islam angeht. Die Türkei, trotz vieler Schwächen, ist wohl kaum mit Saudi-Arabien oder dem Afghanistan zu vergleichen, das die Taliban jetzt wohl wieder prägen werden. Das wiederum ganz anders ist, als das bisherige Afghanistan. Die Existenz unterschiedlicher Stämme ist kein Argument für den Sieg der Taliban, auch wenn Tradition und Religion besonders in ländlichen Regionen stark ausgeprägt sind, und man dort den Taliban vermutlich geneigter ist. Mein Beispiel mit dem Drogenabbau bezog sich auf die wirtschaftliche Situation vieler Afghanis. Die sie ja offensichtlich ähnlich sehen, sonst hätten sie nicht den - allerdings geschmacklosen - Einwand gebracht, die Menschen flohen, um bei uns Milch und Honig zu geniessen. Nochmal: Es geht nicht um Kolonisation. Oder haben die Entsendestaaten Land und Leute ausgebeutet, wie das in den Kolonien üblich war?

Wieder Mann
16. August 2021 - 16.07

@Grenzgegner: Den Islam respektieren ist auch nicht versuchen unsere westlichen Werte ihm aufzuzwingen . Den Islam kann man nicht liberalisieren wie die katholische Glaubenslehre im Zuge der Zeitgeschichte . Die Sure al-Baqara ( Sure 2) gibt einen guten Gesamteindruck wie sich die vom Islam geprägte Kultur und die unserer Kultur sich unterscheidet. Ihr Exkurs über den Anbau von Drogen ist ein minimales Problem , das wahre politische Problem in Afghanistan sind die unterschiedlichen Stämme.Natürlich versuchen jetzt auch Menschen zu fliehen , die entweder den Besatzungsmächten der Westlichen Allianz gedient oder glauben im Westen würde Honig und Milch im Überfluss fließen. Die Russen haben ihr Lehrgeld in Afghanistan bezahlt, die West Allianz wird nach einiger Zeit auch einsehen müssen , welch Irrsinn sie aufgesessen waren. Ich persönlich bin sicher nicht einer Meinung mit der islamistischen Denkweise, doch realistisch genug zu wissen wir manche Völker nicht nach unserer Denkweise kolonialisieren können.

Mensch
16. August 2021 - 15.38

Die westliche Aussenpolitik Politik hat dem westlichen Steuerzahler sehr viel Geld gekostet, den Bankiers und Waffenproduzenten sehr viel Geld eingebracht auf das sie kaum Steuern zahlen. So funktionniert Demokratie. Alles legal im Respekt der Rechtsstaatlichkeit. Die Taliban können da wohl nur lachen. Aber, auf die Zukunft Afghanistans darf man gespannt sein.

Observer
16. August 2021 - 15.27

Die Flüchtlingswelle rollt!

grenzgegner
16. August 2021 - 14.47

Im Stile der Kolonialmächte? Das ist eine schrille Beschreibung. Frauen von der Burka zu befreien, ihnen Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt zu verschaffen, Schulunterricht für Mädchen einzuführen - daneben ein Rechtssystem zu etablieren, das sich von der zuvor geltenden der Scharia unterschied - alles Kolonialpolitik? Die kann man dann nur begrüßen. Richtiger ist wohl, dass es den Entsendestaaten nicht gelungen ist, die Lebensbedingungen vieler Afghanen zu verbessern. Beispiel Drogenhandel: Für viele Bauern war der Anbau entsprechender Pflanzen Haupteinnahmequelle. Das wollten die USA unterbinden, was sie viele Sympathien gekostet hatte. Die Bilder vom Flughafen Kabul sprechen Bilder. Die Menschen wollen weg. Obwohl die "Kolonialmächte" abziehen.

Wieder Mann
16. August 2021 - 8.38

Unsere westliche Politik hat über einen längeren Zeitraum im Style der Kolonialmächte versucht den Afghanen die westliche Wertvorstellung, die westliche Kultur aufzuzwingen . Sie wurde eines Besseren belehrt und hört man aktuell die Kommentare der Politiker scheinen sie keine Lehren daraus zuziehen.“ Kabul ass net Letzebuerg, Demokratieverständnis ass och een net der selwechter Meenong ass , denen hir Relioun, hir Kultur unzeerkennen, soss si mir haut net besser wéi déi deemoleg Kolonialherren.“