Menschen im Krieg„Mein Smartphone ist meine Waffe“ – Maria Avdeeva dokumentiert die Zerstörung ihrer Heimatstadt Charkiw

Menschen im Krieg / „Mein Smartphone ist meine Waffe“ – Maria Avdeeva dokumentiert die Zerstörung ihrer Heimatstadt Charkiw
„Das historische Zentrum Charkiws ist zerstört“: Maria Avdeeva im Video-Gespräch mit dem Tageblatt Foto: Screenshot

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Die Politologin Maria Avdeeva fotografiert und filmt die Zerstörung ihrer Heimatstadt Charkiw. Sie sagt, das sei ihr „Beitrag zum ukrainischen Kampf“.

„Mein Smartphone“, sagt Maria Avdeeva, „ist meine Waffe.“ In einer Stadt, die seit drei Wochen unter Beschuss steht, wird sich die blonde Frau damit nicht verteidigen können. Doch darum geht es der wissenschaftlichen Leiterin des ukrainischen Thinktanks „European Experts Association“ auch nicht.

Avdeeva lebt in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Keine 40 Kilometer sind es von hier bis zur russischen Grenze. Mehr als 600.000 Einwohner haben die Stadt mit 1,5 Millionen Einwohnern bereits verlassen, seit die russische Armee sie unter Beschuss genommen hat. Familien mit Kindern sieht man dieser Tage kaum mehr. Avdeeva ist geblieben. In einer belagerten Stadt.

„Ich will der Welt zeigen, wie es wirklich ist“, sagt sie im Videogespräch mit dem Tageblatt. Ihre Tage verbringt Avdeeva jetzt damit, die Spuren der Verwüstung zu dokumentieren und die Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte aufzuzeigen. „Wenn die Menschen sehen, was wirklich geschieht, wird das der russischen Propaganda schaden.“

Seit Kriegsbeginn feuert die russische Armee aus allen Rohren auf Charkiw – mit Panzern, Artillerie, Mehrfachraketenwerfern, zuletzt auch mit Bombern aus der Luft. Die Leute haben kaum Wasser, kaum Essen, kaum Strom. Beschossen würden sie schon lange, sagt Avdeeva, „doch in der Nacht auf Montag wurde es heftiger – seither sind die ganze Zeit Detonationen zu hören“.

In der Nacht, sagt Maria Avdeeva, sei es besonders schlimm. Mit jedem Sonnenuntergang wird es in Charkiw stockfinster. Von sechs Uhr abends bis sechs Uhr in der Früh gilt eine strenge Ausgangssperre, kein Licht darf dann mehr brennen. Avdeeva nennt die Stimmung „gruselig“. Sie traue sich nicht einmal mehr, nachts aus ihrem Fenster heraus zu filmen. „Man könnte das Licht des Handys sehen“, sagt sie. Und unnötig auf sich aufmerksam machen, das will in einer umkämpften Stadt niemand.

Immer flink sein, nie unnötige Risiken 

Bevor der Krieg nach Charkiw kam, befasste sich die Politologin mit russischer Desinformation. Jetzt fotografiert sie zerbombte Häuser und lädt sie auf Twitter hoch. Morgens schaut sie auf den Social Media nach, von wo Einschläge gemeldet wurden. Dann zieht sie los, zückt ihre „Waffe“ und filmt die Zerstörung. Rund zweieinhalb Kilometer sind es von ihrer Wohnung im Südwesten der Stadt bis ins Zentrum, zum historischen Kern, der jetzt in Schutt und Asche liegt.

Avdeeva erzählt, dass sie sich draußen schnell bewegt. Es gelte, keine unnötigen Risiken einzugehen, nicht zu lange draußen zu bleiben. „Die Stadt ist in diesen Tagen menschenleer“, sagt Avdeeva. Oft treffe sie lange auf überhaupt keine Menschen. Die Vororte im Norden und Osten seien schon zu Beginn der Invasion dem Erdboden quasi gleichgemacht worden, sagt Avdeeva. „Das Zentrum der Stadt und der Osten sind zerstört.“ Oft gibt es weder Strom noch Gas. Die Menschen können nicht mehr kochen und heizen. In den Nächten sanken die Temperaturen zuletzt auf bis zu minus 15 Grad.

Wo Avdeeva wohnt, sei es vergleichsweise sicher, sagt sie. Ihre Wohnung liege weit weg von den Stellungen der Russen im Norden und Nordosten. Wenn die Einschläge näherkommen, verschanzt sie sich im Inneren der Wohnung, wo es keine Fenster gibt. „Ich hoffe, dass ich dort sicher bin“, sagt sie, „aber ich werde wohl früher oder später in die Metro gehen.“ In der Nähe sei eine Station. Bereits seit Tagen verharren Zehntausende Menschen in Charkiw die meiste Zeit in Kellern und U-Bahn-Stationen. Freiwillige versorgen die Alten und bringen warmes Essen in die Schutzräume.

Offiziellen Angaben zufolge wurden seit der russischen Invasion mindestens 500 Einwohner Charkiws getötet. Vor wenigen Tagen war Avdeeva in der Leichenhalle, 30 bis 50 Tote würden jeden Tag dorthin gebracht. Fliehen will Avdeeva erst, falls russische Soldaten die Stadt einnehmen. Das ist die rote Linie, die sich die Politologin gesetzt hat. Avdeeva sagt, sie könne nicht mehr entspannen, sie lebe in einem ständigen Gefühl der Bedrohung, sie müsse immer auf der Hut sein. Sie sagt aber auch: „Ich habe keine Angst.“

Nach dem Gespräch mit dem Tageblatt zieht Avdeeva los. Was sie macht, hat sie zuvor gesagt, sei ihr „Beitrag zum ukrainischen Kampf“. Über Nacht starben wieder Menschen im russischen Bombenhagel. Sie teilt später ein Video der Zerstörungen auf Twitter.