AnalyseMigration und Öl: Wie die Türkei die Europäer in Libyen doppelt unter Druck setzt

Analyse / Migration und Öl: Wie die Türkei die Europäer in Libyen doppelt unter Druck setzt
Nach dem Rückschlag in Tripolis mussten sich General Haftars Streitkräfte wieder in den Osten zurückziehen Foto: AFP

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Beinahe zehn Jahre tobt in Libyen ein blutiger Bürgerkrieg. Milizen kontrollieren die Küste. In den Flüchtlingslagern herrschen menschenunwürdige Zustände. In der Instabilität des rohstoffreichen Wüstenstaates sind afrikanische Migranten erst zur Ware geworden, mit der sich viel Geld verdienen lässt. Nun drohen die Migranten und Flüchtlinge zum politischen Druckmittel auf die Europäische Union zu werden.

Die Türkei hat sich in Libyen die vergangenen Jahre über militärisch in eine Machtposition gebracht, ihren Einfluss in dem Konflikt geduldig ausgebaut, der vom Bürgerkrieg zum Stellvertreterkrieg wurde und sich zum regionalen Konflikt auszuwachsen droht. „Strategisch äußerst geschickt“, sagt Politik- und Sicherheitsexperte Wolfgang Pusztai gegenüber dem Tageblatt.

So steht inzwischen nicht mehr nur die Migrationsroute aus dem östlichen Mittelmeer unter der Kontrolle der Türkei, sondern auch jene aus dem zentralen Mittelmeer. Dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht zögert, diesen Hebel politisch einzusetzen, wurde zuletzt Ende Februar, Anfang März offenbar, als er die Europäische Union an der griechischen Grenze mit zur weiteren Flucht nach Europa aufgeforderten Syrern und Afghanen erpressen wollte.

Paris und Ankara geraten aneinander 

„Erdogan hat jetzt noch mehr Möglichkeiten“, sagt Pusztai. Das setzt die Europäer unter Druck – und erhöht die Spannungen. Zwischen Paris und Ankara kam es die vergangenen Wochen erst zu einem diplomatischen Eklat, indem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron der Türkei eine „kriminelle Verantwortung“ in Libyen unterstellte. Wenig später folgte eine Beinahe-Eskalation im Mittelmeer, als laut Darstellung aus Paris am 10. Juni ein französisches Marineschiff einen Frachter kontrollieren wollte, der im Verdacht stand, Waffen nach Libyen zu schmuggeln. Daraufhin soll ein türkisches Kriegsschiff sein Feuerleitradar aktiviert haben. Die NATO hat eine Untersuchung des Vorfalls eingeleitet. Ankara wirft Paris „Fake News“ vor und fordert eine Entschuldigung. Frankreich hat inzwischen aus Protest den NATO-geführten Militäreinsatz „Sea Guardian“ im Mittelmeer verlassen. Für Pusztai „eine ganz massive Geste der Franzosen“. Darüber hinaus sei vielleicht unklar, wie die Situation an jenem 10. Juni genau eskaliert ist. „Fakt ist aber“, so Pusztai, „dass türkische Kriegsschiffe verhindert haben, dass ein französisches Schiff gemäß seinem Auftrag einen in türkischem Auftrag unter der Flagge von Tansania fahrenden Frachter kontrollieren konnte.“

In diesem Kontext reist der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Montag nach Ankara. Borrells Sprecher zufolge werde es bei den Gesprächen mit der türkischen Regierung um „alle Aspekte unserer Beziehungen“ gehen. Libyen dürfte dabei einen bedeutenden Teil der Zeit in Anspruch nehmen. Die Türkei und Frankreich sind im Mittelmeer nicht zufällig aneinandergeraten. Im libyschen Labyrinth mit seinen zwei großen Hauptopponenten im Westen und Osten zum einen sowie den zahlreichen Milizen mit unterschiedlichen Interessen zum anderen unterstützen sie unterschiedliche Kriegsparteien – wobei die Einsatzstärke der Türkei weit über die von Frankreich hinausreicht. Während Paris im Hintergrund zu agieren versucht und eine Einmischung sogar abstreitet, ist die Türkei voll involviert – mit Kampfdrohnen, moderner Artillerie und mittlerweile Luftabwehr, Spezialkräften sowie eingesetzten syrischen Milizen mit Dschihad-Erfahrung, wie Libyen-Experte Pusztai unterstreicht.

Bekämpfen einander auf libyschem Boden: die Präsidenten der Türkei und Ägyptens, Erdogan und Al-Sissi 
Bekämpfen einander auf libyschem Boden: die Präsidenten der Türkei und Ägyptens, Erdogan und Al-Sissi  Foto: AFP

Ein weiterer gewichtiger Streitpunkt mit der Regierung in Ankara sind türkische Bohrungen nach Öl und Gas in der maritimen Wirtschaftszone des EU-Mitglieds Zypern. Trotz EU-Sanktionen setzte die Türkei diese zuletzt fort. Auch diese Spannung ist ohne den Libyen-Kontext nicht zu verstehen.

Ankara steht im Libyen-Konflikt an der Seite der von der UNO anerkannten Einheitsregierung in Tripolis, der Ministerpräsident Fayiz as-Sarradsch vorsteht – und damit auch auf der Seite Italiens. Gegen diese startete im April des vergangenen Jahres der abtrünnige libysche General Chalifa Haftar mit der Libyan National Army (LNA) eine Offensive. Ägypten, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate stehen hinter Haftar und seinen LNA-Streitkräften. Frankreich bestreitet eine Unterstützung, Russland redet die eigene klein.

Ausländische Interessen im rohstoffreichen Failed State 

Der Konflikt hatte sich seit mehreren Wochen auch wegen der türkischen Unterstützung für die Truppen der Einheitsregierung wieder verschärft, die sich aus zahlreichen, auch islamistischen Milizen zusammensetzen. Seit einem auf Druck Russlands von Haftar mitgetragenen Waffenstillstandes zu Beginn dieses Jahres habe die Türkei Pusztai zufolge die Gunst der Stunde genutzt und entgegen der Vereinbarung Flugabwehrraketen erst nach Misrata und dann nach Tripolis verbracht. Was zu einem Game Changer im Kampf um die libysche Hauptstadt wurde. Ab da verlor die Luftwaffe von Haftars Truppen ihre Bedeutung.

Der größte Trumpf stach nicht mehr, im Mai und Juni mussten sich Haftars Milizen in den von ihnen beherrschten Osten des Landes zurückziehen. Neues Kampffeld droht jetzt die Stadt Sirte zu werden – samt der sich dahinter erstreckenden größten Ölreserven Libyens. Genau hier dürfte Pusztai zufolge auch die letzte rote Linie Ägyptens verlaufen. Dränge die Türkei weiter vor, werde Kairo „sehr wahrscheinlich“ die Drohung von Präsident Al-Sissi wahr werden lassen und offen militärisch intervenieren, ein Krieg Ägyptens gegen die Türkei vor den Toren Europas die Folge eines weiteren Absturzes Libyens, das bereits jetzt als Failed State gilt.

Die Türkei sitzt im Westen Libyens in einer Position, aus der heraus sie Europa noch lange Schwierigkeiten bereiten kann

Während die Unsmil-Mission der Vereinten Nationen in Libyen über die Jahre endgültig in einer friedenspolitischen Bankrotterklärung mündete, hat die Türkei ihren Einfluss in Libyen mit militärischem Nachdruck ausgeweitet. „Scheibchenweise“, sagt Pusztai, „um immer unter dem Level zu bleiben, das Ägypten in einen offenen Konflikt ziehen würde.“ Dann habe Ankara mit der Lieferung der Flugabwehrraketen zu Beginn des Jahres „seinen Wetteinsatz so erhöht, dass Ägypten mit einem kleinen Einsatz keinen Erfolg mehr erzielen konnte – und vorerst auf die große Eskalation verzichtete“.

Pusztai weist im Gespräch auch auf die wirtschaftlichen Folgen der türkischen Anwesenheit in Libyen für die Europäische Union hin. Libyen sei für die Türkei von vitalem Interesse: „Die marode Wirtschaft der Türkei benötigt das libysche Geld und Öl“, sagt Pusztai. Auch deswegen sei ihr das maritime Abkommen zur Ausbeutung von Gas im östlichen Mittelmeer so wichtig. Das, so Pusztai, enge aber auch den Handlungsspielraum Ankaras ein. Ankara müsse Acht geben, dass Libyen nicht auseinanderbricht. „Die Türkei muss ganz Libyen unter Kontrolle halten, bei einer Trennung wird das Abkommen gegenstandslos“, sagt Pusztai.

Der EU öffnet sich plötzlich ein Fenster

Was der EU ein Fenster öffnet, wieder zu mehr Einfluss zu finden. Sollte sich die militärische Lage bei Sirte festfressen, könnte die EU in Erscheinung treten, sagt Pusztai. Mit Truppen einen Waffenstillstand abzusichern, sei bei Sirte wesentlich einfacher als im Großraum Tripolis. Ein Vorschlag, den die EU bei Verhandlungen einbringen könne. Eine EU-Kampfgruppe, die für Erstmissionen in einer Krisenregion gedacht sind, könne diese Aufgabe übernehmen, so der ehemalige Militär-Attaché Österreichs in Libyen, der gleichzeitig darauf hinweist, dass eine hohe Anzahl von Islamisten in der Region einen solchen Einsatz gefährlich machen würde. Doch nur als „Schlüsselspieler in einem Stabilisierungsprozess“ könne die EU in Libyen wieder an Gewicht gewinnen.

Aber was würde den Europäern sonst an Möglichkeiten bleiben? Ein direkter militärischer Eingriff gegen die Türkei, beispielsweise durch Frankreich, ist nicht vorstellbar. Und neben den Fragen der Migration stellen sich die der Energiewirtschaft. „Die Türkei sitzt im Westen Libyens in einer Position, aus der heraus sie Europa noch lange Schwierigkeiten bereiten kann“, sagt Pusztai. Dazu gehören neben den Ölvorkommen in Libyen und der Gaspipeline nach Sizilien auch die Reserven vor seinen Küsten, wo die Türkei im Herbst mit Probebohrungen beginnen will. Zu den Bedrohungen europäischer Interessen gehört Pusztai zufolge auch die erwartbare Expansion der Türkei in die zentrale Sahara, wo Frankreich in Niger Uranminen betreibt.

Zerstörte Nachbarschaft im Süden von Tripolis
Zerstörte Nachbarschaft im Süden von Tripolis Foto: AFP/Mahmud Turka

Wie wacklig das libysche Gefüge weiterhin ist, wurde in der Nacht von Samstag auf Sonntag erneut deutlich, als ein Luftwaffenstützpunkt nahe der tunesischen Grenze, den die Türkei ausbauen wollte, massiv angegriffen wurde. Erst mit Marschflugkörpern, um die türkische Flugabwehr auszuschalten und dann mindestens drei Angriffswellen mit Jets folgen zu lassen. Pusztais Einschätzung zufolge wurden die Hauptangriffe durch Haftars Luftwaffe geflogen, mit MiG-29 und Su-24, die von Weißrussland beziehungsweise Russland im Mai über Syrien nach Libyen gekommen sind. Wie die Türkei jetzt reagieren werde, sagt Pusztai, hänge auch von ihrer weiteren Eskalationsbereitschaft ab. Wird der Angriff heruntergespielt, ändere sich erst einmal nicht viel. Wird der Angriff aber Ägypten angelastet, würde sich Ankara quasi zu einer Reaktion verpflichten, um nicht das Gesicht zu verlieren. Für Pusztai wäre das allerdings „eine gewaltige weitere Eskalation“.

All das könnte bereits klarer sein, wenn Josep Borrell am Montag mit der türkischen Regierung zusammentrifft. An Gesprächsbedarf wird es dem EU-Außenbeauftragten in Ankara demnach nicht mangeln. Die Türkei kann die Migrationsströme nach Europa im Mittelmeer inzwischen von Osten wie von Westen aus kontrollieren. In der Energiezufuhr entwickelt sich ein ähnliches Szenario. Zu den Pipelines, die Gas aus Russland und Zentralasien über die Türkei nach Europa führen, kommen mittlerweile Teile des libyschen Rohstoffreichtums in Ankaras Händen hinzu. Der EU-Außenbeauftragte wird am Montag kaum in einer Position der Stärke in die Türkei reisen. „Die Lage der EU in dem Konflikt ist äußerst schwierig“, sagt auch Pusztai. Erschwert wird Borrells Mission dadurch, dass sich die EU nicht auf eine einheitliche Linie einigen kann – weder was ihre Beziehungen zur Türkei angeht, noch was ihre Interessen in Libyen sind.

Jean Giolino
6. Juli 2020 - 8.18

Die Historie der türkischen Invasionspolitik hat über Jahrhunderte versucht im Orient die Überhand zu gewinnen. Seit Lawrence von Arabien und die arabischen Stämme die türkische Kolonialmacht verdrängt haben, scheint die Frucht damaligen türkischen Gedankengutes wieder Fuß zu fassen, ein großes türkisches Reich zu schaffen.