Prix Servais 1/5Faserland 2.0: In Ulrike Bails Gedichtband „wie viele faden tief“ hinkt die Umsetzung der Grundidee hinterher

Prix Servais 1/5 / Faserland 2.0: In Ulrike Bails Gedichtband „wie viele faden tief“ hinkt die Umsetzung der Grundidee hinterher
Ulrike Bail befindet sich – als einzige Frau – unter den letzten fünf Kandidaten für den Servais-Preis 2021 Foto: Conte Verlag

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Mit ihrem Gedichtband „wie viele faden tief“ ist Ulrike Bail Shortlist-Kandidatin für den diesjährigen Servais-Preis. Das Werk beinhaltet 50 kurze Texte, laut Klappentext sind sie „inspiriert von der Kulturleistung des Nähens und der bildhaften Sprache“. Damit angesprochen wird das Zentralmotiv der Anthologie: die Schneiderei. Sie dominiert die Begriffswelt, in der sich die Texte bewegen, und legt die Struktur des Bands fest. Bei der Lektüre wird jedoch deutlich, dass die Gedichte hinter der Konzeption des Werks zurückbleiben – Ausdrücke und Verse erscheinen manchmal seltsam fehl am Platz.

Zugutehalten muss man Ulrike Bails Gedichtband „wie viele faden tief“, dass er auf überaus konsequente Weise die Verbindung zwischen Nähen und Dichten, Schneidern und Schreiben, Handarbeit und Textmuster aufzeigt. Der Band, der auf der Shortlist des diesjährigen Servais-Preises steht, umkreist die für beide Tätigkeiten gleichermaßen wichtige Frage: Wie werden Stoffe verarbeitet? Damit schafft er das Bewusstsein für die Multidimensionalität und Kleinschrittigkeit des lyrischen Schreibprozesses wie auch der Literatur an sich. Das ist seine Stärke.

Dem Band gelingt dies – auf konzeptueller Ebene – durch seine spezielle Machart. In seiner Gestaltung greift er das Hauptmotiv des Fadenverknüpfens und damit der Text- und Textilherstellung immer wieder auf. Dabei gibt der Titel „wie viele faden tief“ das wichtigste formale Element, auf das die Autorin infolge immer wieder referiert, schon vor: Es geht um das (vielschichtige) Verbinden, Weiterspinnen, Wiederaufgreifen, Verknoten von Garn und Gedanken – dass daraus etwas Neues, Ganzes entstehen soll, setzt das Motiv voraus.

Auch alle Gedichttitel enthalten Verweise auf das Leitmotiv des Kleideranfertigens. Sie heißen unter anderem: Nähkästchen, Fingerhut, Besatzschnur und Wabenstich. Gleiches gilt für die Texte an sich, immer wieder wird das Begriffs- und Metaphernfeld des Schneiderhandwerks aufgerufen: „ich spanne den faden über die kante / des frühjahrs hinaus bei den federn / längs dort im fast liegt mein ohr gezettelt / im federkleid gezärtelt geschmiegt.“

Das Gedicht als Flickenteppich

Doch genau hier liegt auch das Problem der Anthologie. Das Fachvokabular, das die Autorin in jedem einzelnen Text bemüht, wird manchmal verloren und deplatziert im Gesamtgefüge des Gedichts: „auf dem Küchentuch / die ausgebeinten fische / gesunken ins uferlos / ein einfacher kreuzstich / monogramm unligiert / anfang und gebe.“ Dies erweckt einen forcierten Eindruck – so, als ob Bail auf Gedeih und Verderb versucht hätte, einschlägige Stichwörter (oder Stich-Wörter) in ihre Texte zu integrieren, um diese so, frei nach dem Duktus der Autorin, der Leitidee des Bands gemäß zurechtzuschneidern.

Es ist dann überhaupt die mangelnde Zusammenführung der einzelnen in den Texten aufblitzenden Ideen und Bilder, die angesichts des motivischen Programms des Bands als befremdlich erscheint: „ins ohr genäht / schwarzweiches metall / achtstimmig das auf und ab der nadeln eingefädelt / schallhaut regen pergament / flatternaht blitzgewitter / membran / my idea is to push the imagination / beyond its everyday territory.“ Die Gedichte erscheinen nicht etwa als ein organisches Gewebe, das durch die feingliedrige Verquickung unterschiedlicher Vorstellungen und Stilmittel an Gestalt gewinnt, sondern als löchrig-zerrissene Wortlandschaften, aus denen Vokabeln wie „kürschnernaht“ oder „muschelkantenstich“ hervorragen wie ins Tuch eingestochene Glaskopfnadeln. An ihnen hangelt sich der um Verständnis bestrebte Leser entlang – ohne dass ein grundlegendes Muster, eine stringente Struktur, die den Versen als Substrat dient, erkennbar würde.

was ausgefranst und tand

Insofern erscheinen die Gedichte mehr als lyrische Fetzen denn als vollendete Wortteppiche. Das, was Bail in „Endeln“ beschreibt, ist man als Rezipient selbst gezwungen zu tun: „zwei blätter oder flecken zeugs / an ihren enden zusammennähen / könnt ich den faden außen herum schlingen / ohne das blatt zu wenden die sätze rückwärts / lesen von ihren gepunkteten enden her / mit feinem faden zusammennähen was / ausgefranst und tand –.“ Dass ihm dies jedoch nur unzureichend gelingen kann, liegt daran, dass die Verse die leitmotivisch eingesetzten und strukturell so genau umgesetzten Prinzipien des Spinnens und Webens, Wirkens und Flechtens konterkarieren.

Dies tun sie auf eine Weise, die dafür sorgt, dass die Aussage des Klappentexts, Bedeutungen würden sich im Werk miteinander „verschlingen“, seiner Überprüfung letztlich nicht standhält. Auch die dort formulierte Behauptung, die Gedichte würden das Nähen poetisch entwerfen „als Metapher für die Hoffnung, es könnte, was zerfetzt ist, wieder ganz werden, es könnte, was auseinandergerissen wurde, wieder zusammenkommen“, erweist sich in dem Kontext als leer. Durch den oben genannten erzwungenen Charakter der mit Fachtermini bespickten Texte wird ein thematischer Zusammenhang zwar gestiftet, doch wirkt die Umsetzung oftmals unbeholfen: „in eingefädelten zeiten schräg der grundstich / stich und deck ins zickzackband gewendet / geringelt die kreuzotter rücklings dem faden / entlang der bube sticht.“

Der Riss zwischen Form und Inhalt

Dem Werk einen Bärendienst erweist zudem der kurze Abschnitt am Ende des Bands. In diesem wird erläutert, was es mit den Schlagwörtern am unteren Rand jeder Seite auf sich hat: „Diese Gedichte sind auf vielfältige Weisen aneinandergeheftet und aneinandergenäht. Am Rand der Seite stehen Wörter aus dem jeweiligen Gedicht, die als Stichworte den Text mit anderen Texten des Bandes vernähen. Das jeweils letzte Wort einer Reihe franst aus, indem es auf kein anderes Gedicht verweist. Es bildet so mit anderen freien Worten Narrative gegen den Fadenverlauf der vernähten Stoffe. Auf der Vorderseite eines Gewebes geht der Faden andere Wege als dies die Rückseite weist.“ 

An dieser Stelle erfährt die Näh- und Schneider-Metaphorik eine Überreizung, die ins ungewollt Komische abzugleiten droht. Der Text erinnert durch seine bildliche Überfrachtung einerseits und seinen merkwürdig instruktiven Anstrich andererseits an die Anleitung eines (familienfreundlichen) Gesellschaftsspiels. Es stellt sich zudem die Frage nach dem Sinn und Zweck dieses kleinen Epilogs, denn es sei dahingestellt, ob man Leser, die eine Affinität zur Lyrik besitzen, nach ihrer Lektüre über die ausgeklügelten Funktionsmechanismen des eigenen literarischen Werks aufklären muss. In diesem Sinne wirkt diese Passage irritierend – besonders angesichts der experimentellen Prägung von Bails Dichtkunst, die sich gegen eine direkte, mühelose Deutung sperrt und so einen anspruchsvollen oder zumindest geduldigen Leser voraussetzt.

Insgesamt erscheint „wie viele Faden tief“ als ein Werk, bei dem Konzeption und Umsetzung, Struktur und Inhalt nicht nur auseinanderfallen, sondern auch in einem qualitativen Ungleichgewicht zueinanderstehen. Der rote Faden geht dabei vollends verloren – die Hoffnung, „es könnte, was zerfetzt ist, wieder ganz werden“, lässt der Leser noch lange vor der letzten Seite fahren.

Prix Servais 2021

Jede Woche stellt die Kulturredaktion des Tageblatt einen Autor oder eine Autorin der diesjährigen Shortlist des „Prix Servais“ vor. Nächste Woche auf dem Programm: Jemp Schuster mit seinem Roman „Bluttsëffer – All Fra dréit hire Päckelchen“.