GenderdebatteDie Sanftmut des Jack Sparrow: Genderdebatte bestimmt Filmfestival in San Sebastián

Genderdebatte / Die Sanftmut des Jack Sparrow: Genderdebatte bestimmt Filmfestival in San Sebastián
Johnny Depp durfte auf dem Filmfestival einen Ehrenpreis entgegennehmen – jedoch nicht ohne öffentliche Proteste, bei denen es um die Misshandlungsvorwürfe gegen die Hollywood-Legende ging Foto: AFP

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Nicht nur wegen des eher mäßigen Niveaus der Wettbewerbsbeiträge spielten die Filme selbst auf dem diesjährigen Festival in der baskischen Meeresmetropole in Zeiten von Genderneutralität und Cancel Culture eher eine Nebenrolle.

Nein, die 69. Filmfestspiele in San Sebastián gerieten trotz umfassender Hygienemaßnahmen nicht wirklich zum rauschenden Maskenball. Da sprach die täglich im Diario Vasco veröffentlichte Kritikerwertung mit einem Durchschnitt von knapp 6,2 bei 10 möglichen Punkten für sich. Lediglich zwei der insgesamt 16 Werke im Rennen um den Hauptpreis „Concha de Oro“ schafften es, die Siebener-Marke zu reißen. Neben „Quién lo impide“, einer fast vier (sic!) Stunden langen Mischung aus Dokumentation und Fiktion über das Leben spanischer Teenager des Spaniers Jonás Trueba, der das spanische Publikum wie die spanische Kritik gleichermaßen begeisterte, während so mancher ausländische Kinobesucher die lange, lange Zeit für ein ausgedehntes Nickerchen nutzte oder lieber gleich an den Strand ging, gelang dieses Kunststück dem britischen Altmeister Terence Davies.

In „Benediction“ behandelt er die Lebensgeschichte des Dichters und Schriftstellers Siegfried Sassoon (1886-1967) – very british, aber zugleich ein bisschen betulich. Dennoch hätte man sich vor allem im Großherzogtum sicher über den Hauptpreis für Davies gefreut. Schließlich spielten in dessen Streifen „Sunset Song“, der 2015 ebenfalls vergeblich ins Rennen um die Goldene Muschel ging, die Gebäulichkeiten des Fond-de-Gras im tiefen Landessüden eine wichtige Rolle – wenn auch eine eher unrühmliche als diejenigen Mauern, vor denen der männliche Protagonist hingerichtet wird. Doch noch aus einem anderen Grund hätte man einem solchen Film die womöglich letzte Gelegenheit auf einen Hauptpreis überhaupt gegönnt. „Benediction“ ist stark überwiegend mit zwar jungen, aber weißen Männern besetzt. Im Zeichen der maßgeblich von der amerikanischen Oscar-Akademie neuerdings propagierten Diversifizierung im Filmsektor natürlich ein absolutes No-Go und keineswegs mehr preiswürdig. Man darf indes gespannt sein, was die Regieführenden sich alles einfallen lassen werden/müssen, wenn sie künftig in cineastischen Wettbewerben unter Diversitäts-Kriterien bei der Preisvergabe noch berücksichtigt werden wollen. Vor allem, wenn es sich wie in Daviesʼ Fall um ein Werk zu den Thematiken Erster Weltkrieg und (männliche) Homosexualität in der britischen Upperclass handelt.

Von den seltsamen Blüten der Genderdebatte …

Die Goldene Muschel ging an die rumänische Regisseurin Alina Grigore
Die Goldene Muschel ging an die rumänische Regisseurin Alina Grigore Foto: AFP

Leidet das Festival in San Sebastián gewöhnlich darunter, im Kalender das letzte der fünf großen europäischen Filmfestspiele zu sein, wollte man für einmal zu den Ersten zählen. Und so wurden, dem umstrittenen Berlinale-Beispiel folgend, in diesem Jahr kurzerhand die beiden Darsteller- und Darstellerinnenpreise abgeschafft und durch einen einzigen Darstellenden-Preis ersetzt. Was nicht nur zur Folge hat, dass ab sofort alljährlich einem verdienten Darsteller bzw. einer verdienten Darstellerin die verdiente Trophäe durch die Lappen und er oder sie leer ausgehen wird. Schon vor der Premiere der neuen „genderneutralisierten“ Auszeichnung flammten die erwartbaren Debatten auf.

Kaum jemand diskutierte noch darüber, ob Javier Bardém den Preis für seine köstliche Verkörperung eines nur vermeintlich netten Firmenchefs in „El buen patrón“ verdient hätte, oder vielleicht doch eher Maria Valverde für ihre herausragende Leistung in der Verfilmung des Romans „Distancia de Rescate“ von Samanta Schweblin (aber Achtung, igittigitt: Netflix-Produktion). Nichts dergleichen. Es wurde vielmehr wie folgt überlegt: „Wenn es nur einen Preis gibt, gibt die Jury ihn aus Gründen der jahrzehntelangen Vernachlässigung der Gleichberechtigung bestimmt einer Frau.“ Oder: „Wenn die Jury nicht genderparteiisch wirken will, gibt sie ihn bestimmt einem Mann.“ Oder: „Wenn die Jury auf der sicheren Seite sein möchte, verleiht sie ihn ex aequo einem Mann und einer Frau.“ Das Thema künstlerische Leistung des/der Hauptdarstellenden schien da eher zweitrangig. Honi soit qui mal y pense …

… zu den hässlichen Auswüchsen der Cancel Culture

Von übers Ziel hinausschießenden Genderneutralitäts-Maßnahmen ist es leider kein großer Schritt mehr hin zur Cancel Culture, die bei einer weiteren Preisvergabe der 69. Ausgabe für heftige Diskussionen sorgte. Bereits im Vorfeld hatten unter anderem die ETA-nahe Partei Bildu (man kann sich seine Feinde schließlich nicht aussuchen) sowie später etliche Vertreterinnen der spanischen Filmbranche gegen die Verleihung des diesjährigen „Premio Donostia“ an Johnny Depp für sein künstlerisches Lebenswerk protestiert. Der seit Jahren in einem Rosenkrieg mit seiner Ex-Gattin befindliche Hollywood-Star hatte zuvor einen Prozess gegen die britische Sun verloren, die ihn seither ungestraft als „Frauenschläger“ bezeichnen darf, da er angeblich auf seine Angetraute losgegangen ist.

Ob Mr. Depp wirklich handgreiflich wurde oder ob vielmehr Mrs. Depp ihrem Mann mit einer Wodkaflasche den Finger zertrümmert hat, das wissen wohl nur die beiden und darüber müssen im Zweifelsfall die Gerichte entscheiden. Wenn es diesbezüglich je zu einem Verfahren kommt, wonach es derzeit nicht aussieht. Bis dahin sollte in funktionierenden Demokratien jedoch lieber der altbewährte Grundsatz In dubio pro reo gelten. Captain Jack Sparrow, der auf der Pressekonferenz eine kurze Kostprobe dieser seiner Paraderolle gab, die er seit den Misshandlungsvorwürfen ebenfalls los ist, hinterließ in San Sebastián jedenfalls einen derart bescheidenen, sanftmütigen und freundlichen Eindruck, dass es selbst kritischen Stimmen schwerfiel, auf ihrer ablehnenden Haltung zu beharren. Wozu womöglich eine der wenigen Einlassungen des gefallenen Superstars zu seinem Privatleben beitrug: „Es kann jeden treffen.“

Hätte mir auch passieren können

Schauspielerin Jessica Chastain wurde für ihre schauspielerische Leistung ausgezeichnet
Schauspielerin Jessica Chastain wurde für ihre schauspielerische Leistung ausgezeichnet Foto: AFP

Diese Erfahrung durfte auf einem anderen Gebiet auch Luis Tosar machen. In dem Drama „Maixabel“ nach der wahren Geschichte von Maixabel Lasa, der Witwe des 2000 von der ETA erschossenen Politikers Juan Mari Jáuregui, die das Gespräch mit den Tätern suchte, verkörpert er den ersten Etarra, der sich nach seinen Begegnungen mit Lasa 2014 öffentlich für sein Verbrechen entschuldigte. In einem Interview sagte der geborene Galicier sinngemäß, selbst er hätte, wenn er im Baskenland zur Welt gekommen wäre, womöglich ETA-Mitglied werden können. Gut gemeint ist auch daneben.

Der Shitstorm, der dem Schauspieler daraufhin um die Ohren fegte, wurde nur noch durch denjenigen übertroffen, den der Protagonist in Laurent Cantets „Arthur Rambo“ erlebt, einem der französischen und interessantesten Beiträge im Wettbewerb. Der Film erzählt die Geschichte eines gefeierten Nachwuchsautors algerischer Abstammung, der unter dem titelgebenden Pseudonym „als Witz“, wie er behauptet, rassistische Hass-Tweets verbreitet hat, die ihm, als die Sache publik wird, innerhalb einer Nacht zum Verhängnis werden. Befeuert vor allem durch die zuvor von ihm selbst angeheizten sozialen Medien.

Keine Muscheln mehr für Männer?

Ein ganz neues Verständnis von Gleichberechtigung legte die diesjährige Jury (war auch nur ein Kerl dabei) unter dem Vorsitz der georgischen Regisseurin Déa Kulumbegashvili bei ihrer Urteilsverkündung an den Tag. Abgesehen vom Drehbuch-Preis gingen sämtliche Auszeichnungen an Frauen, darunter die „Concha de Oro“ für den besten Film an den nach einhelliger Kritiker/-innen-Meinung schwächsten Wettbewerbsbeitrag „Blue Moon“ aus Rumänien. „Neutralität“ sieht anders aus. Wenn dies ein Vorgeschmack auf die Zukunft der sogenannten Geschlechtergerechtigkeit bei Filmfestivals war, sollten die Herren der Schöpfung schnellstmöglich das Weite suchen und mit Captain Jack Sparrow zu neuen Horizonten segeln. Die Autorin dieser Zeilen kommt mit.

Die diesjährigen Preisträger

Bester Film: „Crai Nou/Blue Moon“ (Regie: Alina Grigore, Rumänien)
Spezialpreis der Jury: „Earwig“ (Regie: Lucille Hadzihalilovic, England/Frankreich/Belgien)
Beste Regie: Tea Lindeburg („Du som er i himlen/As in Heaven“, Dänemark)
Beste Darstellung: Jessica Chastain („The Eyes of Tammy Faye“, USA; Flora Ofelia Hofmann Lindahl („As in Heaven“, Dänemark)
Beste Kamera: Claire Mathon („Enquête sur un scandale dʼEtat“, Frankreich)
Bestes Drehbuch: Terence Davies („Benediction“, England)