KolumneAuf Regen folgt Sonnenschein – Die erste Etappe der Tour de France

Kolumne / Auf Regen folgt Sonnenschein – Die erste Etappe der Tour de France
John Degenkolb hatte am Samstag das Zeitlimit überschritten und wurde von den Kommissaren vom Rennen ausgeschlossen Foto: Ann Braeckman/Belga/dpa

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Oberschenkelbruch, Kniescheibenbruch, Verletzungen zuhauf. Das war die Bilanz der ersten Tour-de-France-Etappe, die rund um Nice im Regen und auf aalglatten Straßen ausgetragen wurde. Gestern schien an der Côte d’Azur die Sonne, für Julien Alaphilippe, für Bob Jungels und für das Deceuninck-Team.

Tieftraurig saß John Degenkolb auf einer Mauer unweit des Lotto-Soudal-Mannschaftsbusses nahe der „Promenade des Anglais“. Den Kopf hatte er auf die Hände gestützt, die Knie mit Heftpflastern verziert. Der frühere Sieger von Mailand-Sanremo und Paris-Roubaix (beide 2015), auch Etappensieger bei der Frankreich-Rundfahrt in Roubaix (2018), konnte es nicht fassen. Als einziger der 176 Fahrer, die am Samstag den Start der Tour de France 2020 genommen hatten, war er von den Kommissaren ausgeschlossen worden, weil er das Zeitlimit überschritten hatte.

Lädierte Knie

Degenkolb kam fast 18 Minuten (17:58 genau) nach Etappensieger Alexander Kristoff ins Ziel. Eine Viertelstunde Rückstand hätte die Rennleitung auf der 156 km kurzen Etappe erlaubt. Das Malheur des „beurlaubten Polizeimeisters im mittleren Polizeivollzugsdienst“ begann 56 km vor dem Ziel, als er in der Nähe von Aspremont mit seinem Mannschaftskameraden Caleb Ewan und einigen anderen Fahrern in einen Sturz verwickelt wurde.

Der Deutsche schlug mit beiden Knien auf dem nassen Asphalt auf, die Schmerzen waren fast unerträglich. Während Ewan und die anderen Gestürzten schnell wieder Anschluss fanden, der Australier im Spurt um den Etappensieg aber keine Kraft mehr hatte (Platz 19), trudelte Degenkolb ganz allein hinter dem Peloton her.

Rund anderthalb Stunden blieben zu fahren, die Aussichten, wieder ins Feld zurückzufinden, waren gleich null. Der Rückstand wuchs von Kilometer zu Kilometer an. Das rechte Knie wollte nicht mehr so richtig, die angeschlagene Moral sank auf den Tiefpunkt.

Schmierseife

Degenkolb war nicht das einzige Opfer der unerwarteten Sturzorgie, die am ersten Tag der Tour stattfand.  Wer die Etappe live am Schirm verfolgte, musste sich in einem falschen Film wähnen oder er fühlte sich zehn Jahre zurückversetzt. Damals, bei der zweiten Teilstrecke von Brüssel nach Spa, hatte der Regen den Staub der Straße in Schmierseife verwandelt. Rennleiter Jean-François Pescheux (längst in Rente) sprach von Glatteis im Sommer. Dabei kamen ihm Tränen in die Augen, denn das, was sich in der Abfahrt nach Stavelot abspielte, die den meisten Luxemburgern durch Liège-Bastogne-Liège bestens bekannt ist, hatte mit Sport nur noch wenig gemein. Auf dem spiegelglatten Streckenabschnitt schlitterten die Favoriten und deren „Wasserträger“ über den Hosenboden, es krachten die Rennräder gegen die Bäume und die Begleitwagen rutschten, sodass auf dem nassen Untergrund Rallye-Fahrkünste gefragt waren, um eine Katastrophe zu verhindern.

Neben Lance Armstrong, Alberto Contador, Cadel Evans und Bradley Wiggins gingen auch Andy und Frank Schleck zu Boden. Andy hatte gar doppeltes Pech. Auf einer Distanz von nur 200 m stürzte er gleich zweimal. Die beiden Luxemburger gehörten mit Christian Vandevelde, Wladimir Karpets und Tyler Farrar zu den Fahrern, die es am schlimmsten traf.

Als der Rückstand von Andy und Frank so um die fünf Minuten auf die Spitzengruppe betrug, schien die Tour 2010 definitiv für die Schlecks verloren zu sein. Wie aus heiterem Himmel bot sich die Rettung in Form einer Aktion an, wie sie nur ein ausstrahlungsstarker Sportler à la Fabian Cancellara einleiten kann.

„Selfie“ mit Folgen

Da besondere Vorkommnisse besondere Maßnahmen erfordern, unterbreitete „Canci“, der sich dank seiner Persönlichkeit zum neuen Chef auf den Straßen der Tour 2010 mauserte, seinen Kollegen im ersten Teil des Pelotons einen Nichtangriffspakt. Alle waren einverstanden. Und als die Favoriten (bis auf Vandevelde, Farrar und Cunego) nach vorne aufgeschlossen hatten, organisierte Cancellara mit Rennleiter Jean-François Pescheux ein neutrales Finish. Der Schweizer selbst verzichtete aus freien Stücken aufs „Maillot jaune“ und ließ den allein ausgerissenen Sylvain Chavanel zum Etappensieg und ins Leadertrikot rennen. Tags darauf holte er sich das Gelbe Trikot in Arenberg zurück.

Der Cancellara 2020 hieß Tony Martin. Er stoppte und „neutralisierte“ das Rennen am Samstag händefuchtelnd, nachdem es innerhalb von nur drei Stunden so viele Stürze gegeben hatte wie ansonsten an zehn Tagen zusammen. Der erste dieser Zwischenfälle passierte auf der „Promenade des Anglais“, wo ein verrückter Radsportfan mit dem heranbrausenden Peloton im Hintergrund ein „Selfie“ schießen wollte und sich über das Absperrgitter lehnte. Da muss es wohl nicht richtig im Kopf getickt haben. Der Italiener Domenico Pozzovivo berührte das Handy mit dem Helm, kam ins Straucheln und zog die hinter ihm fahrenden Konkurrenten mit auf die nasse Straße.

Ergebener Diener

Alle Stürze bei der „Glisse de Nice“ (L’Equipe) aufzuzählen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Am schlimmsten traf es den Spanier Rafal Valls Ferri, einen treuen Helfer von Mikel Landa, dem Leader des Bahrain-McLaren-Teams. Es blieben nur noch drei Kilometer zu fahren, die Rennleitung hatte zuvor über Radio-Tour bekannt gegeben, dass im Falle von Stürzen auf diesen 3.000 m keine Zeiteinbußen anfallen würden. Obwohl Valls sich bei dem Unfall einen Oberschenkelbruch zuzog, fuhr er bis ins Ziel. In denselben Sturz war Philippe Gilbert verwickelt. Nach eingehender Untersuchung in der Klinik (Röntgen, danach IRM) musste der Belgier die Tour mit einem Bruch der Kniescheibe verlassen.

Angst hatte man auch um den mitgestürzten Thibaut Pinot. Gestern aber gab es Entwarnung, der Franzose kann weitermachen. Die „Grande nation“ darf also auf schöne Tage hoffen, nachdem sie gestern ein erstes Mal jubeln durfte. Julian Alaphilippe holte sich im starken Gegenwind auf der „Promenade des Anglais“ den Etappensieg und das „Maillot jaune“, wobei Bob Jungels ihn ein dutzend Kilometer vor der Ankunft im Col des Quatre Chemins wie in einem Sessel in eine blendende Ausgangsposition führte. Der Luxemburger erfüllte gestern mit viel Erfolg seine Pflicht. Er tat das, was die Mannschaftsleitung von ihm verlangte. Irgendwann im Laufe der Tour darf der treue Diener wohl auch einmal seine eigenen Interessen verfolgen …

**Übrigens: Weil ich wegen Corona auf die Fahrt nach Nice und eine Akkreditierung für die Rundfahrt 2020 verzichtet hatte (siehe Kolumne vom letzten Samstag), konnte ich die erste Etappe weit entfernt vom Tour-Stress auf einer Privatterrasse in Remich am Riesenbildschirm verfolgen. Dank der liebevollen Dekoration fühlte man sich wie im „Village du Tour“. Die Gesellschaft war nett, das „Buffet de presse“ hervorragend. Es gab u.a. (wie hätte es anders ein können) „Salade niçoise“. Villmools Merci.

mr
1. September 2020 - 15.47

Vielleicht sollte man doch endlich bei Reifenwechsel bei Regen beherzigen. Kein normaler Fahrer fährt bei Regen mit Slicks. Also nehmt Reifen mit Profil und ihr habt weniger Probleme. Die Sicherheit sollte höchste Priorität haben - leider nicht wirklich der Fall.