InterviewArzt rechnet mit Ansturm auf Luxemburgs Psychiatrien

Interview / Arzt rechnet mit Ansturm auf Luxemburgs Psychiatrien
Schon vor der Krise waren Luxemburgs Psychiatrien am Limit – jetzt droht der Kollaps, fürchtet Dr. Jean-Marc Cloos Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

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Dr. Jean-Marc Cloos ist der medizinische Direktor des „Pôle psychiatrie“ in den „Hôpitaux Robert Schuman“ (HRS). Er sorgt sich darum, dass Luxemburgs Gesundheitssystem nicht auf einen möglichen bevorstehenden Ansturm auf Psychiatrien vorbereitet ist. Bereits jetzt sind die Betten knapp. Ein Interview.

Tageblatt: Wurde während der Krise die psychische Gesundheit der Menschen vernachlässigt?

Dr. Jean-Marc Cloos: Einerseits hat die Regierung recht schnell reagiert. Innerhalb kurzer Zeit wurde die Internetseite www.covid19-psy.lu mit der dazugehörigen Hotline ins Leben gerufen, um den psychologischen Effekt der Krise auf die breite Öffentlichkeit abzufangen. Andererseits wurde den Menschen aber vermittelt, dass sie nicht mehr ins Krankenhaus kommen sollen. Auch die Arztpraxen im Krankenhaus und außerhalb hatten geschlossen.

Ärzte, darunter auch Psychiater, haben daraufhin begonnen, Telekonsultationen anzubieten.

Genau. Das barg gleich zwei Probleme: Telekonsultationen sind nur bedingt für Psychotherapie geeignet, da es immer wieder zu technischen Problemen kommt. Sie sind eher nützlich für eine kurze Beratung vom Arzt. Das zweite Problem ist, dass die „Caisse nationale de la santé“ (CNS) Psychiatern – und Ärzten im Allgemeinen – den Stundenlohn nicht zahlt.

Dazu kommt der psychische Stress, dem Menschen in Gesundheitsberufen während der Pandemie ausgesetzt sind.

Die Auswirkungen haben sich bisher in Grenzen gehalten. Insbesondere bei den Notärzten gibt es jedoch Menschen, die sich Sorgen um sich und die Patienten machen. Sie befürchten, dass sie einen Covid-19-Fall übersehen und die Person dann auf der Station andere ansteckt. Diese Verantwortung lastet auf ihren Schultern. Zusätzlich wurde den Ärzten seit Mitte März nichts von der Krankenkasse bezahlt. Das führt zu Frustration und Zukunftsängsten.

Zusätzlich wurde den Ärzten seit Mitte März nichts von der Krankenkasse bezahlt. Das führt zu Frustration und Zukunftsängsten.

Dr. Jean-Marc Cloos, Generaldirektor des „Pôle psychiatrie“ in den HRS

Wie kommt es, dass den Ärzten gerade jetzt nichts gezahlt wird?

Die CNS hat schnell einen relativ hohen Stundenlohn für die Arbeit während der sanitären Krise vorgeschlagen. Demnach sollten die Ärzte, die an vorderster Front arbeiten, für 160 Stunden bezahlt werden, diejenigen in zweiter Linie – darunter auch Psychiater – sollten für 80 Stunden bezahlt werden und alle anderen nur 40.

Das hat zu Reibereien unter den Ärzten geführt, woraufhin sich die Gewerkschaften eingeschaltet haben. Sie haben sich auf die Tripartite berufen und gesagt, das Ganze müsse zwischen Gewerkschaft, der „Association des médecins et médecins-dentistes“ (AMMD) und der Krankenkasse geregelt werden. Dadurch wurden die Gespräche blockiert, wodurch niemand etwas bekommen hat. * Das demotiviert vor allem diejenigen, die an vorderster Front arbeiten. Sie arbeiten seit zwei Monaten kostenlos – und das im Ausnahmezustand.

Nicht nur bei den Ärzten, sondern auch in der Gesellschaft sind Ängste verstärkt worden.

Ängste zeigen sich zum Beispiel vermehrt bei Eltern, die ihre Kinder jetzt zurück in die Schule schicken sollen. Manche werden komplett hysterisch und versuchen, gegen die Schulpflicht vorzugehen. Diese Angst überträgt sich auf die Kinder. Sie nehmen diese Angst mit in die Klassen und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie Panikattacken bekommen. Das kann sich wiederum auf die Mitschüler auswirken. Dann wäre es für das psychische Wohlbefinden des Kindes und den Rest der Klasse besser, es würde zu Hause bleiben. Je nachdem wie das Lehrpersonal damit umgeht, kann der Schulanfang für die Kinder je nachdem traumatischer sein als der Lockdown.

Existieren Prognosen, welche Pathologien aufgrund der Krise in Zukunft ansteigen werden?

Im Moment wird täglich und überall wiederholt, dass sich alle regelmäßig die Hände waschen sollen. Für Patienten mit einer Zwangsstörung ist das eine Belastung. Ich nehme an, dass diese Fälle schlimmer werden und ansteigen. Allgemein sind Ärzte und Krankenpfleger stärker gefährdet, zum Zwangspatienten zu werden, eben weil sie sich die Hände andauernd waschen müssen. Was in der stationären Psychiatrie bisher ausblieb, womit ich in Zukunft jedoch rechne, sind all die Ängste, die durch die Krise bei den Menschen ausgelöst werden. Dazu gehören die berechtigten Zukunftsängste von Personen, deren Einkommen ausfällt oder deren Existenz bedroht ist. Diese können zu verstärktem Alkoholkonsum und Depressionen und im schlimmsten Fall zu höheren Selbstmordraten führen.

Dr. Jean-Marc Cloos ist in der Suchtmedizin sowie Gerontopsychiatrie (beschäftigt sich mit psychologischen Erkrankungen älterer Menschen) spezialisiert
Dr. Jean-Marc Cloos ist in der Suchtmedizin sowie Gerontopsychiatrie (beschäftigt sich mit psychologischen Erkrankungen älterer Menschen) spezialisiert Foto: Dr. Jean-Marc Cloos

Wie ist es um die Psyche unserer älteren Mitmenschen bestellt?

Alte Menschen werden noch immer als gefährdet eingestuft und laufen Gefahr, weiterhin eingesperrt zu bleiben. Die Depressionen, die durch Einsamkeit und Isolation hervorgerufen werden, riskieren, sich zu erhöhen.

Das posttraumatische Stresssyndrom kann noch bis zu drei Jahre nach der Krise auftreten. Besonders bei denjenigen, die jetzt keine Zeit haben, sich damit zu beschäftigen – zum Beispiel dem Krankenhauspersonal.

Dr. Jean-Marc Cloos, Generaldirektor des „Pôle psychiatrie“ in den HRS

Es ist also in Zukunft mit einem Ansturm auf Psychologen und auch Psychiatrien in Luxemburg zu rechnen?

Ja. Das posttraumatische Stresssyndrom kann noch bis zu drei Jahre nach der Krise auftreten. Besonders bei denjenigen, die jetzt keine Zeit haben, sich damit zu beschäftigen – zum Beispiel dem Krankenhauspersonal. Das beobachtet man bei Menschen in einer Trauerphase. Derjenige, der sich um die Bestattungszeremonie und alles drumherum kümmert, beginnt erst später zu trauen als alle anderen. Er hat schließlich keine Zeit und muss alles organisieren. Ich befürchte, dass das bei den Ärzten, Krankenpflegern und anderen Berufen, die an vorderster Front arbeiten, der Fall sein wird.

Ist Luxemburgs Gesundheitssystem auf einen solchen Ansturm vorbereitet?

Die psychiatrischen Stationen in unseren Krankenhäusern sind jetzt schon voll. Dort waren wir sowieso immer schon am Limit. Wenn die Nachfrage steigt, werden wir schnell an unsere Grenzen stoßen. Es gibt um die 100 Psychiater in Luxemburg, das sind nicht genug. Psychologen gibt es genügend, rund 800, aber deren Behandlung wird nicht von der Krankenkasse zurückerstattet. Derzeit will natürlich jeder zu einem Psychiater, weil er das nicht selbst zahlen muss. Die Verhandlungen dazu, dass die Krankenkasse psychologische Behandlungen übernimmt, laufen jetzt auch schon zwei oder drei Jahre. Es wäre zu hoffen, dass diese durch die Krise vorangetrieben werden.

Wie ist die aktuelle Lage in Luxemburgs Psychiatrien?

Auf Kirchberg sind wir an unseren Maximalkapazitäten angelangt. Die Jugendpsychiatrie ist zu hundert Prozent besetzt, wobei die 24 Jugendlichen, die dort behandelt werden, nicht aufgrund der Krisensituation dort sind. Es sind also noch keine Minderjährigen ins Krankenhaus gekommen, die spezifisch wegen Angst vor dem Virus oder Ähnlichem eingewiesen wurden. Die Jugendpsychiatrie wurde auf die Hälfte ihrer Kapazitäten zurückgefahren und hat nun wieder den kompletten Dienst aufgenommen. Die Notfälle, die warten mussten und per Telekonsultation behandelt wurden, sind jetzt hospitalisiert worden. Von der Warteliste konnte hingegen noch niemand aufgenommen werden. Dort hatten wir keinen einzigen Covid-19-Fall, weshalb wir diese Station geschlossen haben (sieben Betten).

Sind Covid-positive Patienten in der Psychiatrie aufgenommen worden?

In der Psychiatrie haben wir spezielle Stationen für Covid-positive Patienten eingerichtet. Die waren bisher allerdings sehr schwach belegt. Gerade haben wir zwei Covid-positive Patienten – einen in Ettelbrück und einen auf Kirchberg. Zusammengezählt sind deshalb 17 Betten beansprucht. In dieser Nacht kam noch eine Person hinzu, mit deren Einlieferung ich nicht einverstanden bin. Sie wurde in die geschlossene Psychiatrie geschickt, weil sie sich nicht an die „Gestes barrières“ gehalten hat. Klar war sie psychiatrisch auffällig. Trotzdem können wir keinen Menschen einsperren, weil er keine Distanz hält. Das ist eine Freiheitsberaubung, die nicht zu akzeptieren ist. Wir sind dabei, das zu klären. **

Wie sieht es mit den Kapazitäten in der Psychiatrie für Erwachsene aus?

Dort sind die Betten noch nicht alle belegt. Trotzdem wird es eng. Im „Centre Hospitalier du Nord“ (CHdN) in Ettelbrück gibt es – weil sie eine Covid-19-Station eingerichtet haben – zwölf Betten weniger. In Eich sind es inzwischen nur noch fünf Betten weniger, genauso auf Kirchberg, wo inzwischen wieder 40 von 45 Betten zur Verfügung stehen.

In der Suchtmedizin ist die Warteliste lang.

Letzte Woche konnten in der „Addictologie“ auf Kirchberg zehn Personen hospitalisiert werden, sodass die Warteliste inzwischen von 40 auf 30 Personen verkleinert wurde. Dabei handelt es sich um die dringenden Notfälle und wir versuchen, sie so kurz wie möglich im Krankenhaus zu behalten.

Hat die Krise dazu geführt, dass trockene Alkoholiker verstärkt Rückfälle erlitten?

Die Menschen haben während der Krise allgemein mehr Alkohol getrunken. Am Anfang der Krise hat es zwei Wochen gedauert, bis wir uns an die Situation angepasst hatten. In dieser Zeit sind einige Patienten ohne Behandlung geblieben. Danach wurden sie schnellstmöglich per Telekonsultation behandelt. Bei diesen Gesprächen haben wir versucht, herauszufinden, wer verstärkt Hilfe benötigt. Drei oder vier Personen, bei denen wir bemerkt haben, dass sie es nicht alleine schaffen, haben wir im April wieder aufgenommen. Für diejenigen, die ihre geplante Entziehungskur nicht antreten konnten, ist es natürlich hart. Einige sind bereits wieder zu uns gekommen, weil sie einen Rückfall erlitten haben.

Ist die Krise aus psychologischer Sicht eher positiv oder negativ zu betrachten?

Alles das, was wir im Moment mitgemacht haben, kann sowohl positive als auch negative Konsequenzen haben. Viele Menschen stellen sich die Frage, wieso dauernd sie im Stau stehen müssen, um zur Arbeit zu fahren, wenn Home-Office genauso gut funktioniert. Die aktuelle Situation tut ihnen gut. Andere haben in der Quarantäne ein neues Hobby gefunden, sind näher mit ihrer Familie zusammengerückt. Das Ganze muss nicht nur negative Folgen haben. In Asien ging die Scheidungsrate nach den Lockerungen enorm in die Höhe. Nachdem Ehepaare zwei Monate aufeinandergehockt haben, haben sie es nicht mehr miteinander ausgehalten. Damit müssen wir vielleicht rechnen. Ob das positiv oder negativ ist, ist auch Ansichtssache. So sehe ich die gesamte Pandemie – weder negativ noch positiv.

*Stand vom 19. Mai: Inzwischen redet die CNS davon, allen Ärzten 80 Stunden zu bezahlen. Demnach soll jeder Arzt – egal ob er an vorderster Front in der Notaufnahme gearbeitet hat oder während der Krise weniger zu tun hatte, weil seine Praxis geschlossen war – 18.000 Euro brutto für zwei Monate Arbeit bekommen. Das sind netto 4.500 Euro im Monat. Die Verhandlungen sind noch nicht abgeschlossen. 

**Stand vom 19. Mai: Der Fall wurde inzwischen geklärt. Die Person wurde nicht in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. 

Lesen Sie hierzu auch unseren Kommentar.

Anne
24. Mai 2020 - 7.09

Er ist der Panikmacher unter den Psychiater während der Pandemie, und dabei denkt er nur an sich selbst.

Alex Hoffmann
21. Mai 2020 - 9.05

Ich finde es eine Anmassung des Staates die Ärzte während der Pandemie gehaltsmässig gesehen in 3 Klassen einzuteilen und teils das praktizieren zu verbieten oder einzuschränken! Die Politik versteht es in sämtlichen Klassen die Verbundenheit der Menschheit zu beeinflussen ! Mit solcher Vorgehensweise ist es einfacher seine eigene Strategie durchzusetzen und weniger dem Druck der Bevölkerung ausgesetzt zu sein ! Und wahrscheinlich gibt es viele Ärzte die betreffend der Pandemie einen ganz anderen Standpunkt haben, und der muss unterdrückt werden !

rene reichling
20. Mai 2020 - 7.33

@viviane ich bin auch in den 50ern geboren ,und sage immer noch disco,ist das schlimm?,ausserdem geht das am thema das oben angesprochen wird vorbei.

viviane
19. Mai 2020 - 22.30

@Cornichon "Wir sind auch alle nicht ganz dicht. Die Frage ist, ob man Pillen nimmt oder nicht. Wenn mir zum Beispiel in der Disko ..." Disco? Sind sie in der 50ern geboren?

Zitroun
19. Mai 2020 - 22.06

Den Här Dokteer ass net di richteg Persoun fir sou Saachen ze soen,well en mol net an Netkrisenzaiten,senge Pflichte nokoum. Hien huet mech viru Joren, 7 Stonnen an der Urgence warden gelos,fir mer dann matzedeelen, en hätt souwisou kee Bett fir mech frei.Dat ass respektlos an net ubruecht, besonnesch dann wann een en hippokrateschen Eed geleescht huet.

J.C.Kemp
19. Mai 2020 - 20.10

@Cornichon : Fragen Sie Mario, der ist dichter!

venant
19. Mai 2020 - 16.43

Fast eine ganze Stunde in einem geschlossenen Raum mit jemandem der vielleicht infiziert ist? Nein danke, dann ist mir sogar der Zahnarzt lieber.

Cornichon
19. Mai 2020 - 10.30

Wir sind auch alle nicht ganz dicht. Die Frage ist, ob man Pillen nimmt oder nicht. Wenn mir zum Beispiel in der Disko vorgeworfen wird, ich solle mal endlich tanzen anstatt blöd rumzustehen, man aber weiss dass alle Tänzer vorher Ecstasy geschmissen haben, wer ist dann der anormale? Der der rumsteht oder alle die tanzen?

Henry Edward
18. Mai 2020 - 21.36

Der glaubt wir wären alle nicht ganz dicht, denn davon lebt er.