LiteraturAls wir neu waren: Nobelpreisträger Kazuo Ishiguros achter Roman „Klara and the Sun“

Literatur / Als wir neu waren: Nobelpreisträger Kazuo Ishiguros achter Roman „Klara and the Sun“

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Nach seinem Fantasy-Exkurs kehrt Kazuo Ishiguro zurück zur Science-Fiction: In „Klara and the Sun“ entfaltet sich eine dystopische Welt aus der Sicht einer Künstlichen Intelligenz, die mit der Betreuung eines sterbenskranken Kindes beauftragt wird. Hinter der sprachlichen Schlichtheit versteckt sich ein komplexer Roman, dessen Fiktionswelt sich zaghaft aus der eigenartigen Perspektive der Erzählerin herausschält und der komplexe Themen wie Loyalität, die Grenzen der Empathie und unseren Umgang mit der Sterblichkeit unserer Nächsten verdichtet.

In einer Flashback-Episode der dritten Saison von „Fargo“ ermittelt Polizistin Gloria (Carrie Coon) über den Mord an ihrem Stiefvater und findet heraus, dass dieser unter dem Pseudonym Thaddeus Mobley Science-Fiction-Romane und Drehbücher schrieb. Eines davon wurde verfilmt: Während Mobley seiner Drogensucht und der Korruption Hollywoods langsam verfällt, sehen wir in einer intelligenten Mise en abyme einen putzigen Androiden, der durch eine zunehmend kaputte, gen Ende nahezu apokalyptische Welt irrt und stoisch seine Hilfe anbietet – ein Angebot, das er unabänderlich mit den Worten „I can help“ begleitet.

Dieser Androide erinnert an Klara, die hilfsbereite, stets optimistische Erzählerin von Kazuo Ishiguros achtem Roman. „Klara and the Sun“ spielt in einer dystopischen Welt, in der Arbeitslosigkeit, Armut und neofaschistische Gruppierungen den Alltag bestimmen und genetisch „gehobene“ Kinder die einzigen sind, denen der Zugang zu einer vernünftigen Bildung und Perspektiven auf eine wohlhabende, glückliche Zukunft gestattet ist.

Klara ist eine KF – eine Künstliche Freundin – und wartet während des ersten Teils der Erzählung in einem auf den Verkauf von KFs ausgerichteten Laden darauf, dass sich ein Kind für sie entscheidet. Den Alltag verbringt sie damit, sich mit ihrer künstlichen Freundin Rosa zu unterhalten und die für sie noch neue Welt zu entdecken. Der Lernprozess der K.I. äußert sich darin, dass Klara Zeitschriften durchblättert, an den Tagen, an denen die Ladenbetreiberin, von Klara stets nur „Manager“ genannt, sie in die Auslage stellt, die Außenwelt messerscharf beobachtet und „Manager“ anschließend Fragen über Fragen stellt – wobei sich schnell herausstellt, dass Klara im Gegensatz zu anderen KFs neugieriger, intelligenter und empathischer ist. Sie reproduziert und analysiert mithilfe von Deep Learning nicht nur blitzschnell oberflächliche Gesten, sondern versteht und verinnerlicht auch widersprüchliches menschliches Handeln und Gefühle.

Als Josie Klara in der Auslage sieht, wird ihr klar, dass Klara die KF ihrer Wahl ist – und bittet Klara, noch etwas Geduld zu haben, sie würde so schnell es gehe für den Kauf wiederkommen. Der Eindruck beruht auf Gegenseitigkeit: Als sich ein interessiertes Mädchen mit „spikey hair“ Klara annähert und ihrem Vater verdeutlicht, Klara wäre ihre Traum-KF, verstummt die Erzählerin und starrt ins Leere. Die Managerin versteht Klaras Verhalten und verweist die Kunden auf die neu eingetroffenen B3-Modelle, warnt Klara jedoch: Eigentlich ist es der Mensch, der sich seine KF aussucht, nicht umgekehrt – und auf die unbeständigen Versprechen von Kindern wie Josie (und der Menschen im Allgemeinen) solle man ohnehin nicht zu viel geben.

Später als abgemacht kehrt Josie mit ihrer vorerst skeptischen Mutter zurück. Nachdem Josies Mutter Klara einem Test, der ihre Beobachtungsgabe unter Beweis stellen und ihre Überlegenheit gegenüber den konkurrierenden Nachfolgemodellen attestieren soll, unterzogen hat, wird sie zu Josies KF – und lernt nicht nur Josies Mutter, sondern auch Josies besten Freund und Nachbarn Rick, Haushälterin Melania, Ricks Mutter Helen und Josies Vater Paul kennen.

Nach und nach erschließt sich Klara – und damit auch dem Leser, der in Klaras teilweise naiver Weltansicht gefangen bleibt – eine dystopische Welt, in der eine unüberbrückbare Kluft existiert zwischen den Kindern, die von teurem und möglicherweise gesundheitsschädigenden AGEs (das Akronym steht für „Artificial Genetic Editing“; einige Kinder, darunter Josie, durchleben nach einem solchen Eingriff einen schweren Krankheitsverlauf) profitieren, und denjenigen, deren Eltern sich eine solche „Genomeditierung“ nicht leisten können oder wollen – ein Machtgefälle, in dem Klaras Rolle nach und nach zwielichtiger wird.

„Toy Story“ für Erwachsene

Zwischen Ishiguros vorletztem Roman „Never Let Me Go“ und dem Nachfolger „The Buried Giant“ verstrichen ganze zehn Jahre. Der Grund: Ishiguros Gattin – und erste Leserin – verwarf eine erste Version des Fantasy-Romans mit den harten Worten „This won’t do“. So wie Jean Echenoz’ unveröffentlichter zweiter Roman (der Editions-de-Minuit-Verleger Jérôme Lindon hatte das Manuskript mit einem ähnlich verheerenden Urteil abgelehnt) wird die Urfassung von Ishiguros „Begrabenem Riesen“ der Schublade des Autors vorenthalten bleiben.

Auf Ishiguros Fantasy-Exkurs folgte der (in diesem Falle wohlverdiente, seither jedoch umstrittene) Literaturnobelpreis, weswegen Ishiguros „Klara and the Sun“ nicht nur von Fans sehnsüchtig erwartet wurde – und das, obwohl Ishiguro eigentlich der experimentellste aller Bestsellerautoren ist.

Auf seine achte Fiktion musste Ishiguros Leserschaft dann nur sechs Jahre warten; dass dieser Roman trotz der für Ishiguros Verhältnisse geradezu rapiden Veröffentlichung kein Schnellschuss wurde, verdanken wir laut dem Schriftsteller diesmal seiner Tochter, die vor kurzem „Escape Routes“, ihren ersten Roman, veröffentlicht hat.

Nachdem ihr Vater ihr die Handlung des Buches exponierte und ihr von dem Plan, daraus ein Kinderbuch zu machen, berichtet hatte, meinte Naomi Ishiguro, eine solch düstere Fiktionswelt könne er unmöglich einer jungen Leserschaft unterbreiten, weswegen Ishiguro sich dazu entschied, den Roman dann doch für ein erwachsenes Publikum zu schreiben – wobei die Kindheit hier dennoch, wie bei fast allen von Ishiguros Romanen, eine tragende Rolle spielt.

In diesem Sinne erinnert „Klara and the Sun“ am meisten an „Never Let Me Go“, Ishiguros Roman über Klone, die in einem britischen Internat aufwachsen und deren alleinige Funktion es ist, ihre Organe an reiche Briten der Oberschicht zu spenden – und das nicht nur wegen seiner nicht ganz (un)menschlichen Erzählerin.

Nachdem Ishiguro sich mit Versatzstücken des Detektivromans („When We Were Orphans“), der Uchronie („Never Let Me Go“) und des Fantasyromans auseinandergesetzt hat, kehrt er zum Genre der Science-Fiction zurück, um die Themen und Figurenkonstellation von „Never Let Me Go“ – die tragische Ungerechtigkeit des verfrühten Todes junger Menschen, Freundschaft, Liebe und Empathie in einer Dreieckskonstellation – nochmal aufzugreifen.

Laut Ishiguro beschäftigen ihn verschiedene Thematiken oft über einen Roman hinaus, weshalb man bei dem britisch-japanischen Autor sehr oft Spuren des vorigen Werkes in der nachfolgenden Fiktion wiederfindet – nur verhinderte das Wechselspiel mit den verschiedensten Genres bisher, dass dies allzu deutlich wurde. Im Laufe von „Klara and the Sun“ wiederholt sich Ishiguro zum ersten Mal ganz bewusst – hier mischt der britisch-japanische Autor die thematischen Karten nochmal neu, weil viele „Never Let Me Go“ als tieftrauriges, geradezu trostloses Werk empfanden. Dennoch ist „Klara and the Sun“ kein Abklatsch – in diesem Roman setzt Ishiguro seine Überlegungen über die Verbindung zwischen Menschlichkeit, Empathie und Mimesis fort und führt seine formalen Experimente weiter.

Unzuverlässig – zu welchem Grade?

Klara ist, wie eigentlich jede von Ishiguros Erzählfiguren, eine unzuverlässige Erzählerin. Dies hat aber weniger etwas mit Lügen, dem bewussten Verschweigen oder der willentlichen Fehlinterpretationen der Hauptfigur, sondern vielmehr mit der Wirklichkeitswahrnehmung einer K.I., die sich im stetigen Lernprozess befindet, zu tun: Wenn Klara sich in Räumen oder Situationen wiederfindet, die sich ihrer bisherigen Erfahrung entziehen, teilt sich die Wirklichkeit wie in einer Graphic Novel in Kästchen und Segmente auf. Manchmal verwechselt sie einen Menschen mit zwei übereinandergesetzten Kegeln und es dauert mitunter, bis sich ihr eine neue räumliche Situation erschließt und sie sich wieder orientieren kann.

Der Leser, der Klaras Kunststoffhülle nie verlässt, sieht die fiktionale Welt stets aus ihren Augen und muss sich mit dieser teils unmenschlich präzisen und analytischen, teils eben aber auch mangel-, fehler- und bruchstückhaften Perzeption zufriedengeben – oder die Fiktionswelt gegen Klaras Narrativ lesen, um die Wirklichkeit realitätsgetreu widerherzustellen.

Wo dieses Gegen-den-Strich-Lesen bei „herkömmlichen“ unzuverlässigen Erzählern aufgrund unserer eigenen Erfahrungen mehr oder weniger leichtfällt, da wir es im Alltag ständig mit Lügnern und Selbstbetrügern zu tun haben und es ein zutiefst menschlicher Prozess ist, sich selbst vor unangenehmen Wirklichkeiten zu schützen, fällt dies hier deutlich schwieriger, weil wir es eben nicht mit den üblichen Mängeln einer menschlichen, sondern mit dem Lernprozess einer künstlichen Intelligenz zu tun haben, die versucht, menschliches Denken mimetisch zu reproduzieren.

Weil ihr eigenes Überleben von Solarenergie abhängig ist, missinterpretiert sie zu Beginn des Romans die Funktion des „special nourishment“ der Sonne – und zeigt so nicht nur, dass menschliche Empathie immer dann an ihre Grenzen zu stoßen droht, wenn man sich daran schwertut, sich von der eigenen Konditionierung zu lösen und sich in die Haut von jemandem, der grundverschiedenen Existenzbedingungen ausgesetzt ist, zu versetzen, sondern auch, dass eine künstliche Existenz sich in Widersprüchen verläuft, wenn sie ein Bewusstsein für ihre eigene Existenz entwickelt und dieses auf die Menschen, denen sie dienen soll, überträgt.

Gleichzeitig aber ist Klara empathischer, ehrlicher und – vor allem – selbstloser als die Menschen, mit denen sie zusammenlebt. Sie handelt mitunter so menschlich, dass man fast erschrickt, wenn Ricks Mutter Helen plötzlich meint, sie wüsste nie so recht, ob sie KFs nun wie Mitmenschen oder eben eher wie technische Geräte behandeln solle – sie würde ja auch keinen Staubsauger grüßen.

Indem sie Klara ganz konkret mit einem Putzgerät assimiliert, wird der Leser plötzlich aus der Perspektive dieser sonderbaren Ich-Erzählerin herauskatapultiert und mit der Andersartigkeit der Hauptfigur konfrontiert – eine Andersartigkeit, deren erzählerische Besonderheit der Leser so rasch verinnerlicht, dass er eben manchmal vergisst, dass Klara „nur“ eine K.I. ist – wenn auch eine besonders Intelligente.

Weil die Kinder in dieser dystopischen Zukunft nur noch Unterricht über ihre „Oblongs“ („Rechtecke“, Klara beschreibt so die Pads) beziehen, haben sie bis zur Uni kaum Kontakt zu Gleichaltrigen. Um dem entgegenzuwirken, organisieren ihre Eltern sogenannte „Interaktionsmeetings“. Als Klara während eines solchen Zusammentreffens beobachtet, wie sich Josies Verhalten ihr und Rick gegenüber schlagartig ändert, kommt sie zur Erkenntnis, dass soziales menschliches Verhalten sehr oft situationsbedingt ist und sich Menschen wie Chamäleons den aktuellen Machtgefügen anpassen.

Da, wo Rick ein solches Verhalten verletzt, weil er befürchtet, Josie könne sich dauerhaft verändern, und er an der Josie, die er kennen und lieben gelernt hat, festhält, lernt Klara, wie unbeständig und unverlässlich Menschen sind – dass dies, wie auch Marcel Proust es stets in seiner „Recherche“ aufzeigt, fester Bestandteil der menschlichen Natur ist, dass es nur Varianten von unserer Person gibt und der wahre Kern unserer Identität womöglich, wie es der französische Philosoph Clément Rosset theoretisierte, nicht wirklich existiert.

Der Zugang zu fremden Welten

Ishiguros Bücher sind trotz ihrer trügerischen Einfachheit ein andauerndes Entziffern. Dies hat nicht nur mit der Erzählperspektive zu tun – der Autor versetzt uns teils in die Haut von Erzählern, deren Wirklichkeitsauffassung oft stark verzerrt ist, teils in atypische Figuren, die nicht ganz menschlich sind – sondern vor allem damit, dass diese nicht ganz zuverlässigen Figuren von einer Welt berichten, die ganz anders als unsere Wirklichkeit funktioniert. In dem Sinne war es klar, dass sich Ishiguros Fiktionswelten besonders gut mit den Welten der Science-Fiction vertragen würden – beide teilen von je her die Frage, wie man dem Leser auf eine natürliche, plausible Art eine fremde Welt näherbringt.

„Spilling the beans“ – Spoiler Alert?

Ishiguros Bücher stellen den Kritiker vor eine Herausforderung, die sich oftmals auch auf dem Klappendeckel seiner Bücher widerspiegelt: Da sich die Andersartigkeit seiner Fiktionswelten erst langsam herausschält, werden Klappdeckelverfasser wie auch Rezensenten vor die Wahl gestellt, sich in Banalitäten, die dem Buch unrecht tun, zu verzetteln (auf dem deutschen Buchdeckel liest man in fettgedruckten Buchstaben „Was heißt es eigentlich, zu lieben?“) oder eben zu viel zu verraten und dem Leser die Entdeckungsfreude zu nehmen. Für die Besprechung von „Klara and the Sun“ habe ich mich entschieden, dem Leser eine ausführliche Analyse zu bieten.

In „L’empire du pseudo“ präsentiert der kanadische Forscher Richard Saint-Gelais unterschiedliche Arten, wie ein Autor seinen Leser in diese fremden Welten eintauchen lässt. Die didaktische Methode – der Autor erklärt dem Leser geradlinig, zu welchem Grade sich die Fiktionswelt von der Realität unterscheidet – ist dabei zugleich die schwerfälligste und unrealistischste: Wieso sollte beispielsweise jemand in der Welt von „Klara and the Sun“ erklären, was ein „gehobenes“ Kind ist, wenn dies der in der Fiktionswelt gängige Begriff ist, mit dem man die genetisch editierten Menschen bezeichnet?

Gleichzeitig zeigt Ishiguro, der sich gegen die didaktische Methode und für das bruchstückhafte Erlernen der Regeln und Gegebenheiten seiner Fiktionswelten entschieden hat, wie euphemistisch unsere Wortwahl und unsere Wortschöpfungen oftmals ausfallen, wenn wir über den Tod, Gefühle oder soziale Ungleichheiten reden: Wer von „gehobenen“ Kindern redet, umgeht den Fachjargon und die damit verbundene Hinaufbeschwörung einer möglichen Erkrankung.

In dem Sinne ist die Schlichtheit des Stils eine linguistische Falle, in die nicht nur Klara, sondern auch der Leser hineintappt – wie bereits in „Never Let Me Go“ wird hier eine große, fremde Welt aus der Sicht einer Figur dargestellt, die dieses fiktionale Universum aus ihrem „Small World“ ableiten muss: Von der Außenwelt kennt Klara eigentlich nur ihren Laden und Josies abgelegenes, von der Welt abgekapseltes Zuhause.

In Klaras Erzählung dienen Metaphern und Vergleiche keineswegs der poetischen Angeberei des Autors – Klara stellt Vergleiche und Analogien hauptsächlich her, um sich die fremde Welt der Menschen verständlicher zu machen. Hier zeigt Ishiguro, dass Klaras selbstständiges Erlernen mithilfe von Bildern und Analogien Aristoteles’ Vermutung, der Mensch sei ein mimetisches, also ein nachahmendes Wesen, illustriert – so wie Schauspieler andere Figuren, Menschen und Rollen verkörpern, so wie wir uns im Alltag in die verschiedensten Rollen hineinversetzen (wie Josie bei ihrem Interaktionsmeeting), erlernt auch eine K.I. durch Mimesis, einen Menschen bis in sein tiefstes Inneres nachzuahmen.

Auf diese Weise stellt Ishiguro auf sehr subtile Art die Frage nach der menschlichen Seele: Gibt es tatsächlich etwas im Menschen, dass sich der Lernfähigkeit einer Künstlichen Intelligenz entzieht? Oder ist dies bloß, wie die Figur von Henri Capaldi es behauptet, eine altbackene Illusion? „We’re both of us sentimental“, erklärt Capaldi Chrissie, Josies Mutter. „We can’t help it. Our generation still carry the old feelings. A part of us refuses to let go. The part that wants to keep believing there’s something unreachable inside each of us. Something that’s unique and won’t transfer. But there’s nothing like that, we know that now.“ Ein verblüffendes, zutiefst ergreifendes Gegenargument liefert ausgerechnet Klara am Ende des Buches.

Das Unwort „Authentizität“

Laut David Foster Wallace hat die Postmoderne die Literatur an die Sackgasse der Ironie geführt. Wahre Gefühle wurden als uncool, sentimental oder kitschig abgetan und in den Texten unter verschachtelten Erzählschichten vergraben oder von der allgegenwärtigen Tyrannei der Ironie als lächerlich abgetan.

Der Weg aus der Sackgasse heraus führt über das Ablegen des ironischen Duktus, was bei David Foster Wallace über eine aberwitzige Anzahl an Fußnoten, akademischer Rhetorik gegen die Postmoderne und Textschichten führte.

Ishiguro zeigt seit Jahren einen weiteren Ausweg: Im diametralen Gegensatz zu Foster Wallace liegt die Komplexität seiner Texte tief unter der emotionalen Ehrlichkeit seiner Figuren begraben (vielleicht ist Ishiguros „begrabener Riese“ auch der postmoderne Dämon der lässigen Ironie). Ishiguros Texte sind ein guter Selbsttest: Wer seine Romane als kitschig abstuft, ist innerlich wohl längst vertrocknet.

Das Buch

„Klara and the Sun“, von Kazuo Ishiguro, Faber and Faber 2021, 307 Seiten, 14,99 Pfund

„Klara und die Sonne“, von Kazuo Ishiguro, aus dem Englischen von Barbara Schaden, Blessing Verlag 2021, 350 Seiten, 24 Euro

Denn in einer Welt, in der selbst das Wort „Authentizität“ wegen politischer Abnutzung einen ironischen Unterton bekommen hat, hat Ishiguros Literatur den Mut zu einer entwaffnenden Ehrlichkeit, die heute fast so fremd wirkt wie die Welten, die er skizziert. Seine Figuren scheuen den Pathos, verstecken ihre Gefühle unter textlicher Neutralität, lassen ihre Verletzlichkeit jedoch in seinen herzzerreißenden Schlusssequenzen aufblitzen.

Denn trotz aller erlebten Dunkelheit, trotz allem Zynismus, trotz aller Übergriffigkeit – in einer Szene begegnet Ricks Mutter einem früheren Liebhaber, der sich auf eine furchtbare Art an ihr rächt – geben sie die Hoffnung nie auf. In diesem Sinne ist Ishiguro mit „Klara and the Sun“ wohl doch sein Kinderbuch gelungen: Klaras Perspektive führt uns zurück in eine Zeit, zu der eine optimistische Weltansicht nicht als naiv, sondern als hoffnungsspendend und couragiert galt. In seinem achten Roman hält Ishiguro uns die verlorene Welt unserer Kindheit vor Augen. Und zeigt, wie weit wir uns davon entfernt haben.