KolumneThibaut Pinot und Raymond Poulidor – Populär, aber ohne Tour-Sieg oder „Maillot jaune“

Kolumne / Thibaut Pinot und Raymond Poulidor – Populär, aber ohne Tour-Sieg oder „Maillot jaune“
Raymond Poulidor (hier mit Ihrem Kolumnisten vor Paris-Roubaix 2016) im „Maillot jaune“ des Hauptsponsors der Tour de France Foto: Marie-Paule Schock

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Am Donnerstag führt die Tour de France durch Saint-Léonard-de-Noblat, wo Raymond Poulidor am 13. November 2019 im Alter von 83 Jahren starb. „Poupou“ bleibt der populärste aller Tour-Fahrer, obwohl er sie nie gewann. Thibaut Pinot empfiehlt sich als sein Nachfolger.

Thibaut Pinot wird die Tour de France wohl nie gewinnen. Der 30-jährige Franzose (geb. am 29. Mai 1990 in Mélisey) liegt nach den ersten neun Etappen weit abgeschlagen auf dem 24. Rang. Sein Rückstand auf Leader Primoz Roglic beträgt 28’32“, also fast eine halbe Stunde.

Pinot, der sich seit der ersten Etappe, bei der er drei km vor dem Ziel auf der „Promenade des Anglais“ von Nice in einen Sturz verwickelt war, mit Rückenschmerzen über die Straßen Frankreichs quält, musste auf der ersten Pyrenäenetappe einsehen, dass er auch dieses Jahr den Besten nicht Paroli bieten kann.

Zickzack

Er traf über 25 Minuten nach Sieger Nans Peters in Loudenvielle ein und verlor gegenüber seinen schärfsten Konkurrenten im Kampf um den Tour-Erfolg fast 19 Minuten. Tags darauf, zwischen Pau und Laruns, wuchs der Rückstand auf den neuen Leader Primoz Roglic noch einmal um 9’28“ an.

Thibaut Pinots Weg in der Tour de France verlief bisher auf Zickzackkurs. Am 8. Juli 2012 holte er als 22-Jähriger im schweizerischen Porrentruy zu einem erfreulich kecken Schlag aus und erweckte dank seines überraschenden Etappensiegs die Hoffnungen der „Grande nation“, als erster französischer Fahrer nach Bernard Hinault (1985) wieder die Tour zu gewinnen.

Ein Jahr später überkam ihn die Angst in der Abfahrt des Port de Pailhères. Er zauderte und verlor nicht weniger als 6 Minuten auf den späteren Gewinner Chris Froome. Wegen einer Angina ging er danach nicht an den Start der 16. Etappe. Im Jahr 2014 fuhr er hinter Sieger Vincenzo Nibali auf den 2. Gesamtrang, konnte diesen Höhenflug aber nie mehr wiederholen. In der Tour 2015 büßte er in der ersten Woche viel Zeit ein. Danach kaufte er sich mit einem Etappensieg auf der Alpe d’Huez einigermaßen zurück.

In den Jahren danach folgte eine Enttäuschung nach der anderen: 2016 Schwächeanfall im Col d’Aspin, eine Woche später Aufgabe wegen eines Virus; 2017 Leidensweg am Croix de Fer, der Anfang vom Ende; 2019 unglückliche Verletzung am linken Bein mit Endstation im Mannschaftswagen auf dem Weg nach Tignes, der zweitletzten Etappe. Und jetzt 2020 der banale, nicht selbst verschuldete Sturz auf der ersten Etappe im Regen in Nice, ein lädierter Rücken und die Quälerei über die Pyrenäenpässe. Thibaut Pinot, vom Pech verfolgt, vom Glück verlassen.

Populär

Sollte der sowohl physisch als auch psychisch angeschlagene Leader des Groupama-Teams am Donnerstag noch im Rennen sein, wird sein Weg auf der 12. Etappe Chauvigny-Sarran gegen 14.30 Uhr bei km 103,5 durch Saint-Léonard-de-Noblat führen, eine kleine Stadt von 5.000 Einwohnern im Département Haute-Vienne in der „Région Nouvelle-Aquitaine“. Saint-Léonard, das zum Arrondissement Limoges gehört,  hat Pilgerstatus, der Name der Stadt stammt vom Hl. Léonard von Limoges, dem Schutzheiligen der Gefangenen und Schwangeren.

Saint-Léonard-de-Noblat ist aber auch bekannt durch Raymond Poulidor, seinen wohl prominentesten Einwohner der letzten 100 Jahre. Genau wie Thibaut Pinot hat Poulidor, der am 13. November 2019 im Alter von 83 Jahren in seinem Heimatort starb (geb. am 15. April 1936 in Masbaraud-Mérignat, Département Creuse) nie das „Maillot jaune“, das Gelbe Trikot des Gesamtführenden der Tour,  getragen. 

Poulidor legte den Grundstein für seine auch nach dem Tod anhaltende Popularität in den sechziger und siebziger Jahren. In diesem Zeitraum schaffte er es bei der Tour de France allerdings nie zum Gesamtsieg, auch blieb ihm das „Maillot jaune“  verwehrt.

Poulidor also ein „Loser“? Mitnichten! Wer sich ein bisschen näher mit der Radsportlaufbahn des Franzosen befasst, stößt auf Erstaunliches. Der „ewige Zweite“ stellte nämlich ganz oft den Sieger. Das aber scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Poulidor gewann viele Rennen, 189 an der Zahl! Und welche Rennen!

Kein „ewiger Zweiter“

Paris-Nice, die wichtigste Fernfahrt im Frühjahr, holte er sich im Doppelpack (1972, 1973). Bei seinem letzten Gesamtsieg an der Côte d’Azur war er fast 37 Jahre alt! Neben diesem Doublé gewann Poulidor u.a. den Klassiker Mailand-San Remo (1961), die französische Meisterschaft (1961), die Flèche Wallonne (1963), den G.P. von Lugano (1963), den G.P. des Nations (1963), die Spanien-Rundfahrt (1964), das Critérium International (1964, 1966, 1971) das Critérium du Dauphiné (1966, 1969), das berühmte Bergzeitfahren am Montjuich (1965, 1967), die Tour du Haut-Var (1969), die „Katalanische Woche“ (1971), das Critérium des As (1972), den G.P. du Midi Libre (1973), usw., usf.

Poulidors Hemmschuhe in der Tour de France waren vor allem Jacques Anquetil und später Eddy Merckx (beide 5 Siege). In den Giro d’Italia wagte er sich nie, in der Vuelta aber konnte er neben seinem Gesamterfolg (1964) auch viermal als Etappenerster ins Ziel rollen (1964, 1965, 1967). In Luxemburg stieg „Poupou“ 1963 als Dritter der Fernfahrt Paris-Luxembourg aufs Podium, nachdem er die zweite Etappe davongetragen hatte. Und schließlich nahm er 1974 hierzulande an der Seite von Johny Schleck an einem sogenannten „Omnium“ teil, das beide auf dem zweiten Rang beendeten.

Bis heute hält Raymond Poulidor in der Tour de France den Rekord an Podestplätzen. In 14 Rundfahrten (von 1962-1976) klassierte er sich dreimal als Zweiter (1964 hinter Jacques Anquetil, 1965 hinter Felice Gimondi, 1974 hinter Eddy Merckx) und fünfmal als Dritter (1962, Sieger Anquetil; 1966, Sieger Aimar; 1969, Sieger Merckx; 1972, Sieger Merckx; 1976, Sieger Van Impe). Seine weiteren Schlussresultate: 1963: 8.; 1967: 9.; 1970: 7.; 1975: 19. In den Jahren 1968 und 1973 musste er nach schweren Stürzen aufgeben.

Hinter Edy Schütz

Sieben Mal fuhr Poulidor bei der Tour als Etappensieger ins Ziel. Im Jahr 1966 belegte er auf der 18. Teilstrecke Ivréa-Chamonix hinter Edy Schütz den 2. Platz. Der Luxemburger war damals auf der letzten Alpenetappe, die über den „Grand Saint-Bernard“, den Col de la Forclaz und  den Col des Montets führte, mit dem Spanier Domingo Perurena ausgerissen. Im Anstieg des Forclaz konnte Perurena nicht mehr mithalten. Schütz setzte seine Fahrt alleine fort, wurde aber im Col des Montets von Raymond Poulidor eingefangen, der noch eine kleine Chance auf den Gesamterfolg hatte. Beide behielten bis ins Ziel nach Chamonix 50 Sekunden Vorsprung, was Poulidor aber nicht ausreichte, um den späteren Gesamtsieger Lucien Aimar und den Holländer Jan Janssen (2.) zu gefährden. Im Sprint um den Etappensieg hatte Edy Schütz, dessen Namen die französischen Radioreporter nicht aussprechen konnten (meistens nannten sie ihn Schoultz) keine Mühe, sich gegen Poulidor durchzusetzen. 40 Jahre sollte es dauern, bis nach Schütz wieder ein Luxemburger auf einer Tour-Teilstrecke erfolgreich war. Frank Schleck gelang dies 2006 mit einem memorablen Erfolg auf der Alpe d’Huez.

„Poupou“, wie Poulidor liebevoll genannt wurde,  war ein sparsamer und humorvoller Mensch, der liebend gern Karten spielte. „Meinen schönsten Sieg feierte ich, als ich 1974 nach der WM Titelträger Merckx (Poulidor wurde Zweiter) und dem nicht mehr aktiven Anquetil auf dem Rückflug von Montréal beim Poker die Taschen leerte“, pflegte er zu sagen.

Sein letztes Rennen (übrigens einen Cyclocross) bestritt „Poupou“ am Weihnachtstag 1977 in Wambrechies (Département Nord), einer Gemeinde von damals rund 8.000 Einwohnern in der heutigen Region „Hauts-de-France“. Der Veranstalter ließ ihn morgens einfliegen, weil Poulidor darauf pochte, Heiligabend wie gewohnt mit seiner Frau Gisèle und seinen Töchtern Isabelle und Corinne in Saint-Léonard-de-Noblat zu feiern. Corinne ist mit dem früheren Radprofi Adrie Van der Poel verheiratet, beide sind die Eltern des derzeitigen Profis Mathieu Van der Poel.

Wer weiß, vielleicht holt der Enkel bei der Tour einmal das nach, was dem Großvater verwehrt blieb …