Serie „Kopfsache“Diskussionsrunde mit der Psychologie-Zelle des LIHPS: „Die psychische Gesundheit bleibt ein heikles Thema“

Serie „Kopfsache“ / Diskussionsrunde mit der Psychologie-Zelle des LIHPS: „Die psychische Gesundheit bleibt ein heikles Thema“
Alioune Touré, Alain Massen und Katy Moreels-Seil haben über die psychologischen Probleme im Sport diskutiert  Fotos: Editpress/Hervé Montaigu

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Stigmata, die Wichtigkeit des Trainers oder aber die Bedeutung körperlicher Leiden: Für den letzten Teil der Tageblatt-Serie „Kopfsache“ haben sich drei Experten des LIHPS zusammengesetzt, um über einige Probleme im Sport zu sprechen, die psychologische Auswirkungen haben. An der Diskussionsrunde nahmen Psychiaterin Katy Moreels-Seil, Sportpsychologe Alioune Touré und Psychotherapeut sowie Sportpsychologe Alain Massen teil. 

… Über ihre Arbeit beim LIHPS:

Alain Massen: Wir arbeiten alle auf der Ebene der psychischen Gesundheit sowie der Leistungssteigerung des Sportlers. Wir sind ein Team von vier Personen mit Katy Moreels-Seil (Psychiaterin), Frank Muller (Sportpsychologe) sowie Alioune Touré (Sportpsychologe) und mir (Psychotherapeut und Sportpsychologe). Wenn es Anfragen von unseren Sportlern gibt, dann beginnt unsere Zusammenarbeit im Team. Wir schauen uns miteinander an, wer welchen Sportler betreut und arbeiten dann mit ihm zusammen.

Katy Moreels-Seil: Im LIHPS gibt es eine Grundstruktur mit einer umfassenden Betreuung auf der Ebene der medizinischen, ernährungswissenschaftlichen, biomechanischen, physiologischen und psychologischen Betreuung sowie der Dualen Karriere. Diese wurde eingeführt, um wirklich umfassend und multidisziplinär agieren zu können. Die psychologischen Zellen zur Betreuung von Spitzensportlern dienen in erster Linie dazu, die Leistung zu steigern. Jedenfalls gehen die Athleten oft mit dieser Einstellung in die Beratung. Die meisten Sportler suchen Psychologen auf, weil sie ein Problem mit der Stressbewältigung oder eine Blockade haben, aufgrund derer sie das Gefühl haben, nicht ihr Leistungsmaximum abrufen zu können. Das ist der Aspekt, der am meisten zählt. Dann gibt es aber auch psychotherapeutische Aspekte der Behandlung von mentalen oder psychischen Störungen, die bei sportlichen Aktivitäten auftreten können. Dies ist ein zweiter Bereich, der sehr heikel ist und noch immer stark stigmatisiert sowie schwer zugänglich ist. Es gibt immer noch die Angst vor der Meinung der Gesellschaft.

A. M.: Die Arbeit beschränkt sich nicht unbedingt nur auf die Sportler, wir werden auch tatsächlich mit dem Trainer und dem ganzen Betreuerteam zusammenarbeiten. Wir beziehen auch die Familie mit ein. Es handelt sich also wirklich um eine facettenreiche Arbeit. Man muss versuchen, die bestmögliche Betreuung zu bieten, je nach den Bedürfnissen, die man in den ersten Gesprächen feststellen muss.

K. M.-S.: Die psychische Gesundheit im Allgemeinen und die von Sportlern im Besonderen bleibt ein heikles Thema. Einen Psychologen, noch dazu einen Psychiater aufzusuchen, ist kein einfacher Schritt, da man Angst vor Stigmatisierung hat.

… Über die Wichtigkeit des mentalen Zustands im Hochleistungssport:

A. M.: Es ist wichtig zu wissen, dass Hochleistungssportler immer nach Leistung streben. Das Streben nach Leistung darf man aber nie vom geistigen Wohlbefinden trennen, genauso wenig wie den körperlichen Zustand. Es gibt fast immer eine Verbindung zwischen hundertprozentiger Leistungsbereitschaft und dem mentalen Wohlbefinden. Es ist einfach: Der Kopf ist genauso wichtig wie der Körper. Der Unterschied ist nur, dass manche Athleten von Natur her stärker im Kopf sind. 

… Über die Integration von Mentaltraining:

Alioune Touré: Es gibt mehrere Ebenen in der mentalen Arbeit. Die erste Ebene ist die psychische Gesundheit der Athleten. Die zweite Ebene ist das klinische Gespräch mit den Athleten, das man führen kann, und die dritte Ebene ist die Einbeziehung des Mentaltrainings in das Training: Mit welcher Einstellung geht der Trainer in die Einheit? Wie baue ich die Trainingseinheit auf, damit der psychologische Aspekt berücksichtigt werden kann? Wie mache ich es mit einem Athleten, um die Trainingseinheit attraktiv, schwierig, aber nicht zu schwierig zu gestalten und die kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten sowie die Herausforderung und das Verlangen zu stimulieren? All diese Ebenen sind also wichtig und man muss darauf achten, dass nicht eine Ebene die andere überlagert.

A. M.: Wichtig ist, dass mentales Training, also vor allem, wenn es um Leistung geht, Teil des Trainings wird. Man sollte nicht sagen: Wir machen das körperliche Training, wir haben so viele Trainingseinheiten und das Mentale läuft ein bisschen nebenher, oder? Wir verlangen, dass sie die mentalen Übungen fest in ihren Trainingsplan integrieren. Und nicht erst, wenn Probleme zum Vorschein treten. 

… Über schwere psychische Krankheiten im Sport:

K. M.-S.: Meine Spezialität als Psychiaterin ist die Behandlung von Psychopathologie, d.h. von schweren Angststörungen und Depressionen, mit oder ohne Selbstmordgedanken, Essstörungen, Suchtverhalten, Schlafstörungen, bipolaren Störungen usw. Die medizinische Behandlung besteht eventuell aus einer Medikation und einem Krankenhausaufenthalt, aber vor allem geht es darum, den Sportler durch eine individuelle oder systemische psychotherapeutische Arbeit zu begleiten, die sein sportliches und/oder familiäres Umfeld einbezieht. Essstörungen treten leider immer häufiger auf, insbesondere in Sportarten, in denen Ästhetik und Gewicht für das Ergebnis wichtig sind. Eine ehemalige französische Kunstturnerin erzählte mir, dass sie und ihre Teamkolleginnen sich vor dem Auftritt verstecken mussten, um verbotenes Wasser zu trinken, um so leicht wie möglich zu sein. Diese Praktiken sind nun Teil der Gewalt, die im Rahmen des Safeguarding im Sport als inakzeptabel eingestuft werden.

Alioune Touré
Alioune Touré

… Über die Wichtigkeit des Trainers:

A. T.: Es gibt Trainer, die 30  Jahre alt sind und Trainer, die 70 Jahre alt sind. Manche legen großen Wert auf Sportpsychologie, andere nicht. Es ist aber kein Generationsproblem. Es ist die Erfahrung und die Ausbildung des Coaches, die eine große Rolle spielt. Es gibt viele Trainer, die aus dem Sport selbst kommen und versuchen, das, was sie erlebt haben, zu wiederholen. Das ist das Schwierige daran, dass es oft zu einer Reproduktion der Erfahrungen kommt, die man als Trainer oder Athlet gemacht hat: „Es hat bei mir funktioniert, also werde ich dafür sorgen, dass es auch beim nächsten Athleten so funktioniert.“ Was ich sagen will: Wenn Trainer selbst keine Sportpsychologen aufgesucht haben, neigen sie dazu, dies auch nicht bei ihren Sportlern zu tun. 

A. M.: Und wie es bei Sportlern auch der Fall ist, brauchen auch Coaches Zeit, um sich zu öffnen. Aber wir sehen in den letzten Jahren auch, dass es immer mehr Trainer gibt, die wirklich nach dieser Zusammenarbeit suchen, weil sie sich hilflos fühlen, wenn sie mit einem Problem konfrontiert werden, das sie nicht lösen können.

A. T.: Ich sehe oft die Unterschiede zwischen Trainern, die aus dem Ausland kommen. In manchen Ländern ist der mentale Punkt schon seit längerem Teil der Ausbildung, in manchen nicht. In vielen Ländern ist der mentale Bereich auch nur akzeptiert, wenn es sich um eine Leistungssteigerung des Athleten handelt. 

… Über die Entwicklung des psychologischen Bereichs beim IOC:

K. M.-S.: Das IOC hat eine bemerkenswerte Arbeit geleistet. Internationale Experten haben mehrere Konsense zu psychischer Gesundheit und Gewalt im Sport erarbeitet. Eine Plattform für Athleten bietet ihnen Zugang zu Informationen, Hilfsmitteln und Erfahrungsberichten von Olympioniken. Dies sind wertvolle Instrumente, die wir auch nutzen, um den Athleten, die uns aufsuchen, im LHIPS eine qualitativ hochwertige Betreuung zu bieten. Wir als Team versuchen auch, sie durch die Teilnahme an nationalen und internationalen Kolloquien zu fördern.

… Über Kommerzialisierung der Sportler:

K. M.-S.: Wir befinden uns in einer kommerziellen Welt, in der der Sportler, wenn er interessant ist, zu einem Objekt der Finanzierung wird. Das schockiert mich. Das Ganze beginnt schon sehr früh. Ich habe eine Kollegin, dessen Sohn hier Fußball spielt und den Verein wechseln wollte. Er ist nicht mal halbprofessionell. Sie haben den Eltern gesagt, dass sie zahlen müssen, wenn er wechseln möchte – mit zehn Jahren. Ich finde das skandalös. Und das ist nur der Beginn. Die Kommerzialisierung des Sportlers, der früh zu einem Objekt von Transaktionen wird, ist eine Katastrophe.

Alain Massen
Alain Massen

… Über die Übergänge von der Jugend in den Seniorenbereich:

A. T.: Die Begleitung von jungen Athleten, die vom Junioren- in den Seniorenbereich wechseln, ist extrem wichtig. Das beginnt aber beispielsweise, wenn du von der U16 in die U18 aufsteigst. Im letzten Jahr warst du der Älteste, nun der Jüngste. Innerhalb von zwei Jahren müssen sich die Athleten in dieser Alterskategorie durchsetzen. Aber die größte Herausforderung ist der Sprung in den Seniorenbereich, ohne Frage. Normalerweise fällt man da in ein Loch. Bei manchen weniger tief als bei anderen. Schauen Sie sich Gilles Muller an, die Nummer eins der Welt bei den Junioren. Er war mit 28 Jahren auf seinem besten Niveau. Zehn Jahre später. Dazu müssen wir aber sagen, dass wir in Luxemburg benachteiligt sind: Unsere Sportler werden nicht einfach so zu den größten Wettkämpfen eingeladen. Ein Franzose, der schlechter als Gilles Muller ist, wird eine Wildcard bei großen französischen Turnieren haben, Muller nicht. Auf luxemburgischen Sportlern lastet in dieser Hinsicht also besonderer Druck. 

… Über das Heroisieren von körperlichem Leiden:

K. M.-S.: Eine der Hauptprobleme im Sport ist die Frage der Toleranz gegenüber Schmerzen und Leiden – sei es physisch oder psychisch. „No pain, no gain“ ist immer noch aktuell.

A. T.: Und wird es immer sein.

K. M.-S.: So sieht es aus. Wenn man Sportlern zuhört, ist es für sie ein Vergnügen, sich sagen zu können: „Wow, ich habe gelitten, ich spüre meine Krämpfe und den Schmerz. Ich weiß, dass ich viel gegeben habe und effizient war.“ Aber es ist auch ein Zeichen des Körpers. Wirklich schwierig wird es, wenn der Schmerz krankhaft wird. Ab wann müssen wir auf die Schmerzen achten? Ab wann müssen wir Schmerzen respektieren? Denn der Schmerz ist ein Zeichen unseres Körpers, ein Warnsignal.

A. T.: Der wissenschaftliche Ansatz sagt, dass wir an unsere Grenzen gehen müssen, ohne sie zu überschreiten. Durch Laktatwerte kann dies beobachtet werden. 

K. M.-S.: Die Laktatbestimmung wird nicht systematisch durchgeführt, und selbst wenn die Ergebnisse schlecht sind, werden sie vom Athleten und seinem Umfeld nicht als Warnsignal betrachtet, das ausreicht, um das Leistungsstreben zu beenden. Das beste Beispiel ist von Rafael Nadal: Trotz schwerer chronischer Schmerzen und körperlicher Behinderung kehrt er immer wieder zu den Wettkämpfen zurück. Die Zahl der Sportler, die wegen schmerzhafter Arthrose unter 25 Jahren ein künstliches Hüft- oder Kniegelenk benötigen, steigt stetig an. Sobald die täglichen Schmerzen überwunden sind, wollen die jungen Sportler wieder an Wettkämpfen teilnehmen, wobei sie das Risiko eingehen, dass ihre Prothese mit 40 Jahren noch einmal überprüft werden muss und Komplikationen auftreten, zu denen nicht zuletzt Amputationen gehören. Es ist wichtig, jungen Athleten zu helfen, sich nicht nur als Sportler zu sehen, sondern auch ihnen ihre allgemeinen Fähigkeiten als Individuum bewusst zu machen.

A. T.: Ich gebe Ihnen das Beispiel eines Football-Spielers. Von seinem Team hat er einen Vertrag bekommen, in dem er eine Bonuszahlung in Höhe von einer Million Dollar bekam, wenn er 20 Tackles in einer Saison macht. Vier Spiele vor der Saison stand er bei 18 Tackles und riss sich das Kreuzband. Er sagte zum Arzt: „Du musst alles dafür tun, damit ich die Spiele noch spielen kann.“ Man muss aber sagen, dass es in einigen Sportarten in die richtige Richtung geht. Romain Bardet ist bei der Tour de France im letzten Sommer gestürzt und hat sich eine Gehirnerschütterung zugezogen. Ihm wurde verboten, aufs Rad zu steigen. Er wäre nämlich weitergefahren. In anderen Zeiten hätte er das machen können. 

Katy Moreels-Seil
Katy Moreels-Seil

… Über die Entwicklung in Luxemburg:

K. M.-S.: Es ist wichtig, realistisch zu sein, was die Medaillenchancen unserer jungen Athleten betrifft, denn die notwendige Infrastruktur wurde erst vor kurzem geschaffen. Die Verbesserung der Qualität der Betreuung, sei es durch die Ausbildung der Trainer, die modernen Strukturen wie die Sportfabrik, die vom LHIPS angebotenen Dienstleistungen …: All dies wird noch einige Zeit brauchen, um Früchte zu tragen, damit unsere jungen Athleten bessere Leistungen erbringen können. Es ist sehr kompliziert, sie bei ihrer Suche nach Leistung zu begleiten und ihnen gleichzeitig zu helfen, ihre Grenzen zu erkennen und zu respektieren. Es ist ein Moment großer Not, wenn sie akzeptieren müssen, dass sie ihre Ziele nicht oder nicht mehr erreichen können. Das plötzliche Aufhören aufgrund einer Verletzung oder die Erkenntnis, dass die Leistung nicht mehr ausreicht, um ausgewählt zu werden, führen manchmal zu psychischen Störungen wie Depressionen. Wir müssen darauf achten und sie in diesen Momenten der Verletzlichkeit umso mehr unterstützen.

A. T.: Es wurden Strukturen aufgebaut. Wir werden nun sehen, was das neue Sportministerium leisten wird. Aber das LIHPS muss unterstützt werden. Ich bin seit den 90er Jahren hier und ich sehe die Entwicklung. Es wird mehr Wert auf Trainerausbildungen gelegt, bis vor zehn Jahren gab es das praktisch nicht. Es gibt auch das LTAD (Long Therme Athlete Development), das auch ein großer Schritt in die richtige Richtung ist. Dieses LTAD-Modell ist sehr wichtig, weil es alle grundlegenden Phasen der Entwicklung des Sportlers betrachtet. Dann gibt es das LIHPS, das nicht nur professionelles Coaching, sondern ein professionelles Umfeld mit Psychologen, Physiotherapeuten und Ernährungsberatern bietet. Und wenn man sieht, dass an einem Wochenende sogar alle luxemburgischen Olympia-Kandidaten in der Coque zu einer Art Teambuilding zusammenkommen, dann ist es doch toll, dass eine solche Stimmung geschaffen wird. Auch das Sportlycée ist eine tolle Sache. Vor allem für die Erholung. Es geht voran in Luxemburg. Es ist ein großer Qualitätssprung zwischen nun und den 90er Jahren. Es wurden Samen gepflanzt, die aber Unterstützung brauchen. Die Samen müssen gegossen werden, das Unkraut entfernt werden. Aber ich bin sehr positiv, was die Zukunft angeht. 

K. M.-S.: Alwin de Prins wurde nach Island eingeladen, um das Modell des LIHPS vorzustellen.

A. T.: Wir müssen an dieser Arbeit anknüpfen und weitermachen. Wir dürfen die Samen nicht beiseitelegen und sagen: Toll, dass wir sie haben. Wir müssen weiterarbeiten. 

Die Tageblatt-Serie „Kopfsache“

Mentale Probleme sind zwar in der allgemeinen Gesellschaft mittlerweile etwas enttabuisiert – doch gerade im Profisport sieht das oft noch anders aus: Mit etwas nicht klarzukommen, wird oft als Schwäche gewertet – in einem Business, in dem man keine Schwächen zeigen darf. Problematisch sind vor allem mangelnde Aufklärung oder die fehlende Sensibilisierung von Funktionären, Sponsoren oder den Medien.

In der Tageblatt-Serie „Kopfsache“ sprechen nicht nur Sportler über das sonst so sensible Thema. Auch andere Experten sprechen über verschiedene Aspekte des Mentalen im Sport – vom Umgang mit Depressionen bis hin zu Methoden zur Leistungsoptimierung.

26. Oktober: Ehemalige Fußball-Nationalspielerin Kim Olafsson
2. November: Sportpsychologe Frank Muller
9. November: Ehemalige Tennisspielerin Anett Kontaveit
16. November: Basketball-Nationalspielerin Joy Baum
23. November: Judoka Claudio dos Santos
30. November: LIHPS-Direktor Alwin de Prins 
7. Dezember: Psychologen des LIHPS in der Diskussion

charles.hild
7. Dezember 2023 - 15.36

"Der Kopf ist genauso wichtig wie der Körper." ? Bei den meisten Menschen bleibt jedoch der Kopf sehr viel wichtiger!