Serie „Kopfsache“Wie Judoka Claudio dos Santos seine mentalen Probleme im Wettkampf überwand

Serie „Kopfsache“ / Wie Judoka Claudio dos Santos seine mentalen Probleme im Wettkampf überwand
Judoka Claudio dos Santos kämpfte bei Turnieren zunehmend mit Druck, ehe er sich Hilfe bei einem Sportpsychologen suchte Foto: Editpress/Jerry Gerard

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Judoka Claudio dos Santos kämpft – nicht nur mit dem Gegner, sondern auch mit sich selbst. Der Druck bei Turnieren war für den COSL-Kaderathleten so groß, dass er sich im Kampf wie ein Roboter gefühlt habe. Als er seine Gedanken mithilfe eines Sportpsychologen zu regulieren lernte, riss er sich das Kreuzband. Für die Tageblatt-Serie „Kopfsache“ erzählt er, warum die Verletzung ihm sogar mental gutgetan hat.

Von außen betrachtet scheint eigentlich alles nahezu perfekt. Türkisblaues Meer, Palmen, Strandidylle – willkommen auf den Bahamas. Doch um Tourismus zu betreiben, ist Claudio dos Santos 2018 nicht in die Karibik geflogen. Er nimmt Reisestrapazen in Kauf, um sich bei der Judo-WM der Junioren in Nassau zu messen. Doch das Paradies wird zur Hölle. Der 19-Jährige bricht mental zusammen, denn: Nach der ersten Runde ist für ihn bereits Schluss. „Nicht mal fünf Minuten und ich war auf den Bahamas fertig“, erinnert er sich. „Ich war traumatisiert. Ich fahre ins Paradies, bin eigentlich nicht mal richtig angekommen und schon ist alles vorbei.“ 

Seine Gedanken plagen ihn. „Ich wusste, dass meine Eltern rund 500 Euro für das Ganze bezahlt haben. Im Judo musst du ungefähr 40 Prozent selbst bezahlen. Wir haben die Tasche nicht voller Geld. Ich wusste zwar, dass sie das gerne gemacht haben, aber ich hatte große Schuldgefühle. Ich habe mir gedacht, dass ich für das Geld auch in ein Trainingslager hätte gehen können. Dort hätte ich mehr Kämpfe gehabt.“ 

Die WM auf den Bahamas ist der Beginn der mentalen Probleme. Viel schlimmer wird es für dos Santos ab 2019. Ausschlaggebend dafür ist die WM 2019 in Tokio – die aus Sicht des Judokas überragend läuft. Obwohl er noch in der Junioren-Kategorie kämpfen könnte, schafft er bei den Senioren den Sprung ins Achtelfinale und scheitert dort erst in der Verlängerung am Russen Makhmadbek Makhmadbekov – dem 38. der Weltrangliste. Unter 90 Konkurrenten beendet dos Santos die WM auf dem geteilten neunten Platz in der Kategorie -73 kg.

„Fühlte sich an wie eingefroren“

Das Resultat aus Japan öffnet plötzlich ganz andere Türen: „Es wurde gesagt, dass Olympia 2020 auf einmal eine Möglichkeit für mich wäre“, erinnert sich dos Santos. „Plötzlich habe ich enormen Druck verspürt. Ich habe ein paar Kategorien übersprungen und habe erst Weltcups, dann Grand Prix und Grand Slams gekämpft.“ Er tritt also auf einmal bei Wettbewerben, bei denen die besten Judokas der Welt sind, an. „Ich habe nicht schlecht gekämpft, aber bei Grand Slams beispielsweise nie gewonnen. Ich wollte mich unbedingt für Olympia qualifizieren und habe mich viel zu sehr unter Druck gesetzt. Ich kämpfte nicht mehr für mich, sondern für andere.“

Es fühlte sich an, als wäre ich eingefroren, als würde ich wie ein Roboter kämpfen

Claudio dos Santos über den Druck, den er im Kampf verspürte,

Der erhöhte Stress, den dos Santos bei Kämpfen verspürt, macht etwas mit seinem Körper: „Es fühlte sich an, als wäre ich eingefroren, als würde ich wie ein Roboter kämpfen. Ich hatte das Gefühl im Wettkampf, als wäre ich nicht ich selbst. Jede kleine Gelegenheit, wo ich die Möglichkeit sah, meinen Gegner anzugreifen, ergriff ich. Mit der Zeit wurden diese Druckgefühle immer stärker.“ Statt sechs bis sieben Mal im Kampf anzugreifen, versucht dos Santos es 20 bis 30 Mal. „Ich war dann immer schnell mit der Kondition am Ende. Es war nur noch ein Hingeschmeiße.“

Claudio dos Santos erzählt, dass ihm der Kreuzbandriss sogar mental gutgetan habe
Claudio dos Santos erzählt, dass ihm der Kreuzbandriss sogar mental gutgetan habe Foto: Editpress/Alain Rischard

Je näher Olympia in Tokio kommt, desto mehr Druck verspürt der Luxemburger. Unbedingt will er beweisen, dass sein neunter Platz bei der WM in Japan kein „One-Hit-Wonder“ gewesen ist. Doch Tokio 2020 verpasst er – was in seinem Kopf allerdings keinen großen Bruch auslöst. Trotz des ganzen Drucks, den er sich vorher machte. „Ich wusste, dass das beste Judo-Alter ungefähr mit 25 Jahren erreicht wird. Ich habe mir diesbezüglich keinen Kopf gemacht.“ 

Probleme, sich zu öffnen

Nachdem er Tokio verpasst, macht er 2021 seine Grundausbildung als Sportsoldat, dann geht es wieder auf Europa-Tour. Doch die Probleme bleiben dieselben. „Ich dachte immer noch: Du bist der beste Luxemburger, du musst Ergebnisse mitbringen. Da habe ich im Kopf sehr viel mit gekämpft. Nach einiger Zeit habe ich gemerkt, dass ich jemanden brauche, der mit mir an diesem Druckgefühl arbeitet.“ 

Bevor ich überhaupt in den richtigen Kampf ging, hatte ich im Kopf schon drei Kämpfe bestritten. Diese Gedanken haben mich kaputt gemacht.

Claudio dos Santos hatte vor den Kämpfen große mentale Probleme,

Über das LIHPS (Luxembourg Institute for High Performance in Sports) bekommt dos Santos Kontakt zum Sportpsychologen Alain Massen. „Nach dem Olympia-Zyklus sind meine mentalen Probleme geblieben. Es lag also nicht an Olympia. Der Druck war so groß, dass meine Arme und Beine schnell zu waren, ich fühlte mich schwer. Ich dachte mir, dass es so nicht weitergehen könnte und ich unbedingt Hilfe bräuchte.“ Doch die Arbeit mit dem Sportpsychologen fällt ihm anfangs nicht leicht. „Ich rede gerne viel“, sagt dos Santos. „Aber nie über meine Gedanken. Ich spreche über Fakten. Ich habe bei Alain eine Mauer um mich herum gezogen und dachte mir immer: Es sind meine Probleme, nicht deine. Warum sollte ich dir das erzählen? Diese Gedanken habe ich nicht direkt an Alain gerichtet, sondern immer auch an meine Mitmenschen. Ich mochte es generell nicht, andere Menschen mit meinen Problemen zu belästigen.“ 

Zu Beginn der Einheiten mit dem Sportpsychologen redet dos Santos nur indirekt über seine Probleme. „Ich dachte, es sei eine Schande, wie ich mich im Wettkampf fühlte. Bis es irgendwann Klick machte und ich merkte, dass es normal ist, als Sportler Druck zu empfinden.“ Nur langsam kann sich dos Santos gegenüber Massen öffnen. „Ich stellte mir vor dem Schlafengehen den Druck im Wettkampf vor – und konnte nicht einschlafen. Je mehr ich emotional verspürte, desto physischer wurde alles. Bevor ich überhaupt in den richtigen Kampf ging, hatte ich im Kopf schon drei Kämpfe bestritten. Diese Gedanken haben mich kaputt gemacht.“

Kreuzbandriss auf Malta

Mit Massen arbeitet dos Santos unter anderem mithilfe von Ritualen an diesen negativen Gedanken. „Wir haben an meiner Atmung gearbeitet, an einem positiveren Mindset. Ich sollte mir außerdem vorstellen, dass ich ein Tier sei. Ich wählte den Jaguar. Der Jaguar ist ein Tier, das gerne wartet, anzugreifen. Und wenn es angreift, dann schnell.“ Lange Zeit hatte dos Santos den Jaguar auf seinem Handy-Bildschirm, um auch unterbewusst zu verinnerlichen. „Ich habe mir dieses Bild vom Jaguar so eingeprägt, dass ich es nicht mehr vergessen werde, wenn ich die Augen zumache. Das habe ich mir vor Kämpfen dann immer vorgestellt.“ 

Nach außen cool, doch innerlich sah es bei Claudio dos Santos anders aus
Nach außen cool, doch innerlich sah es bei Claudio dos Santos anders aus Foto: Editpress/Jerry Gerard

Die Leistungswerte von dos Santos steigern sich. „Ich kam vor den JPEE 2023 an den Punkt, wo ich meine Gedanken regeln konnte. Aber es ist Millimeterarbeit. Wenn du zu viel denkst, ist es nicht gut und wenn du zu wenig denkst, auch nicht. Den richtigen Punkt zu treffen, ist sehr schwer.“ Beim Saisonhöhepunkt auf Malta kämpft sich dos Santos in der Gewichtsklasse -73 kg zu Bronze. Zum Drama kommt es im Team-Wettbewerb gegen Liechtenstein. Im Kampf gegen Raphael Schwendinger hört er sein Knie knacken. „Ich hatte sofort Panik in dem Moment, als es passierte. Nicht wegen der Schmerzen, sondern weil ich direkt wusste, das gibt große Probleme. Ich hatte es im Knie zweimal krachen gehört. Obwohl ich noch nie verletzt war, wusste ich in dem Moment: Du bist jetzt für lange Zeit raus.“ 

Auf der Mittelmeerinsel fährt dos Santos zum MRT – und die Ärzte dort geben Entwarnung: Bänderdehnung, mehr nicht. Einen Monat läuft der Judoka mit dieser Diagnose durch die Gegend und trainiert sogar, als könnte er bald wieder auf der Matte stehen. „Es hieß, dass es nichts Wildes sei. Ein bis zwei Monate sollte ich raus sein. Ich habe also weiter Kraft und Ausdauer trainiert. Das, was halt mit dem kaputten Knie möglich war.“ Eine weitere Untersuchung in Luxemburg versetzt dos Santos dann in einen Schockzustand. Die Diagnose: Riss des hinteren Kreuzbandes. 

Die erste Woche nach der richtigen Diagnose war schlimm. Ich war nah an der Depression.

Claudio dos Santos über seine Diagnose Kreuzbandriss,

„Die erste Woche nach der richtigen Diagnose war schlimm. Ich war nah an der Depression. Ich habe immer gedacht, dass ich verstehe, was es bedeutet, verletzt zu sein. Aber ich wusste das nicht annähernd.“ Der Sportsoldat unterzieht sich einer Operation – und verbringt drei Nächte im Krankenhaus. Zeit, die er zum Nachdenken nutzt. „Ich dachte mir nur Folgendes: Entweder du bist jetzt angepisst und alles ist scheiße – oder ich arbeite an mir und versuche, mein Leben zu genießen. Warum sollte ich weinen, in Depressionen verfallen und mich gehen lassen? Das war für mich nicht der richtige Weg.“ 

Freiheit genießen

Vier Wochen nach der OP fliegt dos Santos nach Portugal, besucht dort seine Verwandten. Er fliegt nach Mailand zum Champions-League-Spiel seines Lieblingsklubs Benfica, dann besucht er die Wasen in Stuttgart, um „auch mal ein gutes Bier zu genießen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Das hätte ich alles nicht während einer Saison machen können.“

Dos Santos genießt seine Freiheit, doch realisiert er auch ganz andere Sachen: „Ich dachte immer, dass ich nur geliebt werde, wenn ich Ergebnisse mache. Wenn nicht, dann nicht. Aber das stimmt nicht. Meine Eltern waren drei Wochen nach meiner OP in Ferien. Sie konnten es nicht genießen, weil sie wussten, dass ich alleine daheim war. Meine Freundin wollte sich auch um mich kümmern. Ich habe gemerkt, dass sie mich lieben, wie ich bin. Nicht für das Judo. Die Leute um mich herum sind bei mir wegen meiner Persönlichkeit. Weil ich das realisiert habe, bin ich gespannt, wie ich wieder in die nächsten Wettkämpfe einsteige.“

Der Kreuzbandriss hat mir mental gutgetan

Claudio dos Santos

Außerdem realisiert er, dass er das Judo vermisst. „Ich habe vor meiner Verletzung nicht trainiert, weil ich es gerne gemacht habe, sondern einfach nur, um besser zu werden. Das ist auch gut, aber es war so schlimm, dass ich gar keinen Spaß mehr hatte.“ Aus der Verletzung zieht dos Santos einige positive Schlüsse. Er sagt sogar, dass ihn der Kreuzbandriss aus einem Teufelskreis geholt habe. „Ich war gefangen. Im Turnier verspürte ich hohen Druck, dann verkackte ich. Dann kamen wieder die Gedanken, dass ich wieder Resultate mitbringen muss. Dann ging es zum nächsten Turnier und das Gleiche passierte. Durch die gezwungene Pause konnte ich realisieren, warum ich Judo überhaupt mache. Der Kreuzbandriss hat mir mental gutgetan.“

Indirekte Hilfe vom Sportpsychologen

In der Zeit nach seiner Operation hat dos Santos länger keinen Kontakt zu Massen gesucht – weil er ihn nicht brauchte. „Er war begeistert, wie ich mit der Situation umgehe. Viele Trainer haben zu mir gesagt, dass ich aufpassen soll, dass ich nicht ins Loch falle. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. Ich muss jedoch sagen, dass Alain mir sehr geholfen hat. Ohne die ganzen Gespräche, die wir vor der Verletzung führten, wäre ich niemals so positiv eingestellt gewesen. Ich habe durch ihn viel verstanden. Ein Mathelehrer kann dir sagen, dass fünf geteilt durch fünf eins ergibt. Aber warum? Was ist dann zehn geteilt durch zehn? Du musst die Situation selbst verstehen und dann kannst du damit arbeiten.“ 

Mittlerweile kitzelt es dos Santos wieder. „Ich möchte nun so schnell wie möglich zurückkommen, aber ich muss mich langsam hocharbeiten.“ Die ersten Turniere will er im März bestreiten. Für die Zukunft hat er zwei Ziele: „Ich möchte mein Bestes geben und mich dabei nicht verletzen. Man kann auch schlecht kämpfen und eine Medaille holen, man kann aber auch gut kämpfen und fliegt in der ersten Runde raus. Ich will nach Hause kommen und wissen, dass ich mein Bestes gegeben habe.“ 


Die Tageblatt-Serie „Kopfsache“

Mentale Probleme sind zwar in der allgemeinen Gesellschaft mittlerweile etwas enttabuisiert – doch gerade im Profisport sieht das oft noch anders aus: Mit etwas nicht klarzukommen, wird oft als Schwäche gewertet – in einem Business, in dem man keine Schwächen zeigen darf. Problematisch sind vor allem mangelnde Aufklärung oder die fehlende Sensibilisierung von Funktionären, Sponsoren oder den Medien. In der Tageblatt-Serie „Kopfsache“ sprechen nicht nur Sportler über das sonst so sensible Thema. Auch andere Experten sprechen über verschiedene Aspekte des Mentalen im Sport – vom Umgang mit Depressionen bis hin zu Methoden zur Leistungsoptimierung.

26. Oktober: Ehemalige Fußball-Nationalspielerin Kim Olafsson
2. November: Sportpsychologe Frank Muller
9. November: Ehemalige Tennisspielerin Anett Kontaveit
16. November: Basketball-Nationalspielerin Joy Baum
23. November: Judoka Claudio dos Santos
30. November: LIHPS-Direktor Alwin de Prins 
7. Dezember: Psychologen des LIHPS in der Diskussion