Serie „Kopfsache“Angst vor dem großen Nichts: Joy Baums Kampf mit Zukunftsängsten nach ihrer Verletzung

Serie „Kopfsache“ / Angst vor dem großen Nichts: Joy Baums Kampf mit Zukunftsängsten nach ihrer Verletzung
Nachdem sich Joy Baum einen Kreuzbandriss zugezogen hatte, stellte sie sich viele Fragen über ihre Zukunft Foto: privat

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Weil sie sich mit 21 Jahren das Kreuzband riss, stellte sich Basketball-Nationalspielerin Joy Baum grundlegende Fragen: Hätte sie nicht besser doch parallel studieren sollen? Wird sie jemals wieder ihr Leistungsniveau erreichen? Und vor allem: Liegt im Basketball ihre berufliche Zukunft? Die Spielerin der ChemCats Chemnitz fiel in ein großes Loch, aus dem sie unter anderem mithilfe eines Sportpsychologen herauskam. Für die Tageblatt-Serie „Kopfsache“ lässt sie tief in ihr Seelenleben blicken – und erzählt auch, wie es sich anfühlt, nach langer Abstinenz wieder auf dem Parkett zu stehen. 

Es ist schon eher ungewöhnlich, dass Sportler mit 21 Jahren über ein Karriereende nachdenken. Zumindest im Basketball. Ungewöhnlich ist es auch, wenn Menschen in diesem jungen Alter Angst davor haben, vor dem großen Nichts zu stehen: ohne Job, ohne weitere Ausbildung, ohne Perspektive. Doch so ganz kurz nach ihrer Kreuzband-Operation denkt sich Joy Baum, ohne ihren Humor zu verlieren, im Krankenhaus: „Wenn ich mich noch einmal schwer verletzt, dann höre ich auf. Dann gehe ich schwimmen.“ 

Joy Baum macht sich in Luxemburg bereits in jungem Alter einen Namen in der Basketball-Szene. Sie spielt den EuroCup mit dem Gréngewald, mit 19 Jahren bekommt sie ihre ersten Minuten in der Nationalmannschaft bei der 82:48-Niederlage gegen Italien. Im Herbst 2022 wechselt sie nach Chemnitz. Sie wagt den Schritt ins Ausland, fasst Fuß im Profitum.

Mit dem Gréngewald Hostert hat Joy Baum bereits im EuroCup gespielt
Mit dem Gréngewald Hostert hat Joy Baum bereits im EuroCup gespielt Foto: Editpress/Fernand Konnen

Doch wie schnell alles gehen kann, erlebt sie am 29. Januar 2023. Sie reist mit ihrem Team zum Auswärtsspiel nach Braunschweig. Weil die Begegnung zwischen den beiden Herren-Teams aus Braunschweig und Chemnitz in der 1. Bundesliga danach stattfinden sollte, spielten die Damen vor einer Rekordkulisse von rund 1.300 Fans in der Arena.

Schockierende Diagnose

Baum ist gut in der Partie, die Spielmacherin kann bis zum dritten Viertel fünf Punkte beisteuern. „Ich bin eine Hustlerin“, erklärt sie. „Wenn ich sehe, dass eine meine Gegnerinnen unsicher ist, dann braucht sie nicht gegen mich anzukommen. Es kam eine Spielerin von Braunschweig aufs Parkett, die noch gar nicht gespielt hatte. Ich dachte, dass ich ihr den Ball nehmen könnte.“ Die folgende Szene beschreibt die regionale Zeitung, die Freie Presse, wie folgt: „Aus dem Rhythmus gerieten sie dann aber, weil sich ihre Spielmacherin Joy Baum Mitte des dritten Viertels nach einem grob unsportlichen Foul (das nicht als solches geahndet wurde) schwer verletzte und nicht mehr mitmachen konnte. Sie verdrehte sich das Knie bei der Landung nach einem Stoß. Trotz dieses Schocks gingen die Gäste mit einer 54:42-Führung ins letzte Viertel.“

Das Knie geht weg, der Schrei ist laut, die Schmerzen sind groß. „Im ersten Moment hat es extrem wehgetan“, erinnert sie sich. „Eine Stunde lang hat es gepocht, dann ging es eigentlich wieder und ich konnte problemlos auftreten.“ Die Schock-Diagnose fällt am nächsten Morgen beim MRT: Kreuzbandriss. „Es war meine erste Verletzung überhaupt. Ich wusste gar nicht, wie ich damit umgehen sollte“, sagt Baum. Während sie die Diagnose noch verdauen muss, spricht der Arzt bereits vom OP-Termin. „Ich konnte nicht mal meinen Eltern Bescheid geben, da gab es schon Vorschläge für eine OP. Ich war total überfordert. Ich hatte immer gehofft, nie eine OP zu benötigen. Da habe ich Respekt davor.“

Doch Baum zieht die OP, die sie zwingend machen muss, um weiter Basketball zu spielen, durch. Nach dem Eingriff, der in Chemnitz stattfindet, fährt sie zurück nach Luxemburg. Die Reha-Maßnahmen will sie im Return-to-sports-Programm des LIHPS machen. „Ich wusste da schon, dass ich zwölf Monate raus sein könnte“, sagt Baum. „Aber der Verein hat mich nicht unter Druck gesetzt. Der Trainer sagte, dass ich nächste Saison, wenn ich wollte, zurück nach Chemnitz kommen könnte. Ich hatte also eine Absicherung und ich wusste, dass ich zurück will.“

„Was sollen wir hier tun?“

Joy Baum kurz nach ihrer Kreuzband-Operation
Joy Baum kurz nach ihrer Kreuzband-Operation Foto: privat

Doch der Weg bis zum Comeback ist lang. Nicht nur für den Körper gibt es Probleme, sondern auch für den Kopf. „In den ersten zwei Wochen nach der OP konnte ich nur zum Physio, sonst war ich immer zu Hause. Ich habe in dieser Zeit zu viel überlegt. Bekomme ich das alles überhaupt hin? Wenn ich zurückkomme, bin ich sowieso zu schlecht. Ich habe an meiner Profikarriere gezweifelt. Ich habe mir ständig gedacht, dass ich besser hätte studieren sollen.“

Kurz vor der Verletzung wollte sich Baum für ein Fernstudium einschreiben. Doch die Verletzung hat ihr ein Strich durch die Rechnung gemacht. „Meine Gedanken waren in dieser Zeit nur negativ. Morgens hatte ich Training in der Coque, dann gab es Mittagessen, dann hatte ich noch eine Einheit beim Physio. Wenn ich zu Hause war, musste ich immer jemandem schreiben, ob jemand Zeit hätte, was zu machen. Ich konnte nicht alleine sein.“

Im Rahmen des Return-to-sports-Programms wird Baum ein Sportpsychologe angeboten. Sechs Wochen nach der OP nimmt sie dessen Dienste in Anspruch. „Anfangs war ich eigentlich dagegen. Warum brauche ich das? Warum muss ich dahingehen, worüber rede ich mit ihm?“ Baum geht ins erste Gespräch mit einer Anti-Haltung. Sie beschreibt das erste Aufeinandertreffen als „unangenehm“: „Er fragte mich, wie ich mir seine Aufgaben vorstelle. Ich ging ja schon negativ ins Gespräch. Genau das war halt auch meine Frage. Was sollen wir hier tun?“

Sportpsychologe bringt Baum auf Kurs

Etwa 75 Minuten dauert die erste Sitzung, dann meldet sich Baum erst mal nicht wieder beim Sportpsychologen. Doch Baums mentale Probleme wirken sich auf ihren Gemütszustand aus. „Ich habe mehr geweint als sonst. Zu Hause hatte ich Ausraster mit meiner Mutter, das war nicht in Ordnung. Ich konnte verletzende Sachen gegenüber Menschen, die mir nahe stehen, sagen. Irgendwann habe ich gedacht, dass ich doch wieder zum Sportpsychologen sollte. Ich habe Kolleginnen aus der Nationalmannschaft, die auch dort sind. Ich dachte, dass es vielleicht doch hilft, wenn ich mich auf ihn einlasse.“  

Baum trifft sich mit dem Sportpsychologen und gibt erstmals tiefere Einblicke in ihre Psyche. „Die prägenden Gedanken, die auf meine Stimmung schlugen, lauteten: ‚Wenn ich nicht so zurückkomme, wie ich das erwarte, dann ist mein Job schnell vorbei. Nochmal so eine Verletzung, dann ist mein Job auch schnell vorbei. Was mache ich dann in meinem Leben?‘ Ich habe auch von der Gesellschaft viel Druck verspürt. Viele haben gefragt, was ich denn jetzt mache und was nach meiner Karriere passiert. Ich dachte mir: Nerv mich nicht, ich habe keine Antwort, geh weg und lass mich in Ruhe.“

Doch der Sportpsychologe bringt Baum wieder auf den richtigen Kurs. „Ich konnte mich relativ schnell auf ihn einlassen und habe ihm alles erzählt. Er gab mir Aufgaben, die ich lösen musste. Beispielsweise haben wir Stärken und Schwächen von mir erarbeitet. Das zeigte mir, dass ich sehr auf meine Mitmenschen achte und auch sehr auf Gerechtigkeit. Das hat mir Sicherheit gegeben und mir gezeigt, was ich später mal machen kann.“

Mit dem Sportpsychologen ist Baum also relativ schnell auf den richtigen Weg gekommen. Es lief gar so gut, dass sie nicht mehr regelmäßig in Kontakt mit ihm treten musste. Doch – und das kam vor allem für sie überraschend – waren die Monate ab August die schwersten. „Ich habe mich vielen Tests unterzogen“, sagt sie. „Die waren alle sehr gut. Aber ich durfte immer noch nicht spielen. Ich war ungeduldig.“

Beginn eines Fernstudiums

Seit August 2023, etwa sechs Monate nach ihrer OP, ist Baum wieder in Chemnitz. Sie trainiert wieder mit, jedoch ohne Kontakt und ist somit nicht komplett im Mannschaftstraining integriert. „Ich denke mir nach dem Training oft: Was mache ich eigentlich hier? Ich laufe mich mit dem Team warm und dann sagt der Coach, dass du raus musst.“

Das Risiko für eine weitere Verletzung ist zu groß. Doch in Chemnitz angekommen, beschäftigt sich Baum wieder mit anderen Dingen. „In Luxemburg hatte ich zweimal am Tag Training, dazwischen noch Physiotherapie und abends war ich noch mit meiner Mutter (Martine Baum-Ruppert, Trainerin des BC Mess, Anm. d. Red.) in der Halle und habe Würfe genommen. Hier in Chemnitz gehen viele zur Schule oder zur Arbeit. Ich aber habe früh Training, dann gehe ich vielleicht noch ins Fitnessstudio und das war es. Meine Teamkolleginnen sprechen von Bachelorarbeit hier, Leistungskurse da. Und ich? Bei mir läuft in dieser Richtung nichts.“

Joy Baum (ganz links) lief bereits für die FLBB-Auswahl auf 
Joy Baum (ganz links) lief bereits für die FLBB-Auswahl auf  Foto: Editpress/Gerry Schmit

Baum entscheidet sich dazu, soziale Arbeit an der Internationalen Hochschule zu studieren. Seit Oktober tut sie das nun per Fernstudium – ein Studiengang, den sie auch mithilfe ihres Sportpsychologen erarbeiten konnte. Seitdem geht es nicht nur in ihrem Privatleben, sondern auch sportlich bergauf: Nach mehreren Begegnungen, bei denen sie auf dem Spielbericht stand, aber nicht eingesetzt wurde, und 272 Tagen Abstinenz gab es am Samstag, dem 28. Oktober, wieder Einsatzminuten bei den ChemCats. Beim 71:63-Heimsieg über Bonn-Rhöndorf erzielte sie gar sechs Punkte.

Leistungsangst

„Am Anfang war es ein sehr unangenehmes Gefühl“, berichtet sie von ihrem Comeback. „Ich wusste nicht richtig, wohin mit Gedanken und Gefühlen. Als es losging, wusste ich aber sofort, was ich machen musste, und empfand so etwas wie Glücksgefühle. Ich war nach dem ersten Spiel vollkommen zufrieden mit mir. Ich hatte wirklich ein bisschen die Angst, dass ich sofort abkacken würde. Aber das Spiel gab mir gleich ein sicheres Gefühl, dass ich auf dem richtigen Weg bin und weitermachen muss.“

Angst, sich wieder zu verletzen, hat Baum nicht. Viel mehr bereitet es ihr Sorge, dass sie nicht mehr zu ihrem alten Leistungsniveau zurückfinden könnte. „Ich denke, dass ich es wie in meiner Reha-Zeit angehen muss: immer wieder kleine Ziele setzen und mich dann hocharbeiten.“ Kontakt zu ihrem Sportpsychologen pflegt sie weiterhin. „Wir hatten einen Termin vor meinem ersten Spiel, da habe ich mit ihm geredet wegen Nervosität und Anspannung.“ Wichtig ist ihr, eine Sache klarzustellen: „Auch wenn ich am Anfang eine negative Einstellung zum Sportpsychologen hatte, würde ich ihn sofort weiterempfehlen. Egal, ob man verletzt ist oder nicht – man kann immer mentale Probleme haben. Im Sport oder auch in der Gesellschaft. Ich glaube sogar, dass ich vor der Verletzung schon einen Sportpsychologen hätte aufsuchen müssen. Ich bin aber froh, dass ich den Weg durch die Verletzung zu ihm gefunden habe. Das klingt traurig, aber so ist es.“ 


Die Tageblatt-Serie „Kopfsache“

Mentale Probleme sind zwar in der allgemeinen Gesellschaft mittlerweile etwas enttabuisiert – doch gerade im Profisport sieht das oft noch anders aus: Mit etwas nicht klarzukommen, wird oft als Schwäche gewertet – in einem Business, in dem man keine Schwächen zeigen darf. Problematisch sind vor allem mangelnde Aufklärung oder die fehlende Sensibilisierung von Funktionären, Sponsoren oder den Medien. In der Tageblatt-Serie „Kopfsache“ sprechen nicht nur Sportler über das sonst so sensible Thema. Auch andere Experten sprechen über verschiedene Aspekte des Mentalen im Sport – vom Umgang mit Depressionen bis hin zu Methoden zur Leistungsoptimierung.

26. Oktober: Ehemalige Fußball-Nationalspielerin Kim Olafsson
2. November: Sportpsychologe Frank Muller
9. November: Ehemalige Tennisspielerin Anett Kontaveit
16. November: Basketball-Nationalspielerin Joy Baum
23. November: Judoka Claudio Dos Santos
30. November: LIHPS-Direktor Alwin de Prins 
7. Dezember: Psychologen des LIHPS in der Diskussion

Guy Hammes
16. November 2023 - 12.54

Liebes Tageblatt, eine wahrhaft interessante und auch wichtige Serie. Es macht großen Spaß, diese Geschichten zu lesen.