Selbstkritik: Fehlanzeige

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„Chef de tout, responsable de rien.“ Diese Formulierung, mit der zuletzt der angehende Präsident Frankreichs, François Hollande, den scheidenden Amtsinhaber Nicolas Sarkozy im Fernsehduell (nicht untreffend) umschrieb, kam gestern dem interessierten Zuhörer beim diesjährigen „Etat de la nation“ mehr als einmal in den Sinn.

Denn Jean-Claude Juncker, dem man eine gewisse politische Kompetenz und Erfahrung zugegebenermaßen nicht absprechen kann, zeigte bei seiner Rede am Dienstag vor dem Parlamentsplenum nämlich ein ums andere Mal, dass er jeder Fähigkeit zur Selbstkritik entbehrt.

Tom Wenandy
twenandy@tageblatt.lu

In wenigen Worten zusammengefasst liest sich die gestrige „déclaration sur la situation économique, sociale et financière du pays“, wie die Erklärung zur Lage der Nation offiziell heißt, nämlich wie folgt: „Wir“ – Juncker meint übrigens mit „wir“ situationsbedingt mal sich selbst, mal die Regierung – „haben (über die Jahre hinweg) alles richtig gemacht. Konsequenterweise setzen wir diesen Weg weiter fort.“

Nicht, dass Jean-Claude Juncker nicht wüsste, dass das Land mit diversen Problemen zu kämpfen hat und vor großen Herausforderungen steht. Allerdings scheint er, wie die gestrige, in vielen Punkten ziemlich rechthaberisch vorgetragene Ansprache „eindrucksvoll“ unter Beweis stellte, die Ursachen für die meisten der existierenden Missstände – bewusst oder unbewusst – komplett zu verkennen.

Ein müder Regierungschef

Tatsache ist, dass die aktuellen Probleme zu einem übergroßen Teil – Stichwort Wohnungsmarkt, „simplification administrative“ oder Steuergerechtigkeit, um nur diese Beispiele zu nennen – nicht auf die Finanz- und Wirtschaftskrise zurückzuführen, sondern hausgemacht sind. Dies zuzugeben bzw. zuzugeben, dass trotz wiederholter Ankündigungen in zahlreichen Bereichen fast oder gar nichts passiert ist, würde aber mit sich bringen, auch das eigene Fehlverhalten bzw. das Fehlverhalten der CSV – und das über Jahre, um nicht zu sagen Jahrzehnte hinweg – einzugestehen.

Aber von dieser Einsicht und damit von den möglichen Problemlösungen war Premier Jean-Claude Juncker gestern meilenweit entfernt.
Alles in allem war die „Rede zur Lage der Nation“ ziemlich enttäuschend. Juncker wirkte müde, zahlreiche, wenn auch nur kurze „Stolperer“ und etliche Abweichungen vom Redetext schienen nicht Zeichen der rhetorischen Künste, sondern vielmehr Ausdruck der Hilflosigkeit eines Regierungschefs zu sein. Von den unterschwelligen, ziemlich populistischen und damit überflüssigen Bemerkungen zu Arbeitslosen oder geldgeilen Baugrundbesitzern mal ganz abgesehen.

Claude Meisch sprach im Anschluss an die Rede von einem „alten Mann, der eine alte Politik“ machen wolle. Die Wortwahl des liberalen Präsidenten und Fraktionsvorsitzenden mag vielleicht etwas hart klingen, in der Essenz trifft es die Sache aber recht gut. Zumal es eben nicht nur die Form war, die gestern negativ überraschte.

Auch inhaltlich konnte Juncker alles andere als überzeugen. Sicher, Finanzminister Luc Frieden und zu einem geringeren Teil Wirtschaftsminister Etienne Schneider hatten mit ihrer Präsentation des Stabilitäts- und Wachstumsprogramms vor knapp zwei Wochen dem Premier bereits einen großen Teil des Windes aus dem „Etat de la nation“-Segel genommen. Dennoch.
Man hatte sich – naiverweise, muss man im Nachhinein zugeben – etwas mehr erwartet. Vor allem Grundlegendes zur Ausrichtung der zukünftigen Politik, mehr zu den (nicht nur finanziellen) Prioritäten der Regierung, mehr zu vielleicht einer neuen Einstellung zu Wohlstand und Wachstum.

Aber mehr als einige wenige Zusatzinformationen zu dem bereits bekannten, teilweise aber immer noch sehr vagen Austeritätsprogramm, mehr als ein paar mehr oder weniger altbekannte Floskeln zur (nicht belegbaren) Unabdingbarkeit des Sparens, mehr als ein bisschen Kritik am Patronat, an den Gewerkschaften und im Gegenzug etwas Eigenlob waren nicht drin.

Aber was regen wir uns eigentlich auf? Der Premier hat schließlich gleich eingangs seiner Rede gewarnt: „Ech soen Iech näischt Neies …“