PazifikDer wahre „Herr der Fliegen“ ist eine Geschichte von Freundschaft und Loyalität

Pazifik / Der wahre „Herr der Fliegen“ ist eine Geschichte von Freundschaft und Loyalität
Der Roman „Herr der Fliegen“ wurde 1963 und 1990 verfilmt. Die ältere Version gilt allgemein als die bessere. Screenshot: Lord of the Flies, British Film Corporation

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1965 verbrachten sechs Jungen aus Tonga 15 Monate auf einer einsamen Insel im Pazifik. Die Geschichte der Schiffbrüchigen ähnelt dem berühmten Bestseller „Herr der Fliegen“ – mit dem Unterschied: Sie ging gut aus. 55 Jahre später erhält die Überlebensgeschichte neue Relevanz.

Spätestens seit dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2019 ist der Niederländer Rutger Bregman vielen ein Begriff. Nicht nur, weil er den Wirtschaftsbossen die Leviten las, sondern auch, weil der Historiker und Autor die Welt zum Besseren verändern will.

Dabei glaubt er an das Gute im Menschen – etwas, das er in seinem neuen Buch „Im Grunde gut“ am Beispiel einer Geschichte belegen will, die dem Bestseller „Herr der Fliegen“ ähnelt. In dem Werk des britischen Schriftstellers William Golding aus dem Jahr 1954 stürzt eine Gruppe Kinder mit dem Flugzeug ab und findet sich plötzlich – ohne Erwachsene – auf einer einsamen Insel wieder. In der Erzählung scheitern die Kinder spektakulär, es kommt letztendlich zur gewalttätigen Eskalation.

Wie viele habe er das Buch als Teenager gelesen, schrieb Rutger Bregman auf Twitter, und habe sich danach desillusioniert gefühlt. „Jahre später, als ich an meinem neuen Buch ‚Im Grunde gut‘ arbeitete, fragte ich mich: Was würde wirklich passieren? Wie würden sich echte Kinder in der realen Welt verhalten?“

Auf einsamer Insel angespült

Bregman forschte nach und stieß bei seinen Recherchen auf eine wahre Geschichte, die der erfundenen vom Konzept her ähnelt. Sie ereignete sich 1965. Damals stachen sechs Teenager, die sich in ihrem Internat auf Tonga, einem Inselstaat im Pazifik, langweilten, mit einem gestohlenen Boot in See. Doch ein Sturm zerstörte ihr Boot und nach acht Tagen spülten sie auf einer abgelegenen Insel an, die seit langem unbewohnt war.

Letztendlich rettete der australische Kapitän Peter Warner die Kinder nach über einem Jahr von dem felsigen Eiland. Warner fischte 1966 mit seiner Mannschaft in der Nähe der Insel, als er durch sein Fernglas plötzlich einen nackten Jungen mit langen Haaren bis zur Schulter sah. „Diese wilde Kreatur sprang von der Klippe und stürzte sich ins Wasser“, schrieb Bregman. Weitere Jungen seien hinterhergesprungen und hätten lauthals geschrien.

„Das ist ein Wunder!“

Warner befahl seiner Besatzung, ihre Waffen zu laden, da er wusste, dass es in der Region nicht unüblich war, gefährliche Kriminelle auf abgelegenen Inseln auszusetzen. Doch schon kam der erste Junge auf ihn zu und rief: „Mein Name ist Stephen, wir sind sechs und wir glauben, dass wir seit 15 Monaten hier sind.“

Die Jungen berichteten, dass sie aus einem Internat in Nuku’alofa seien, der Hauptstadt Tongas. Doch Warner blieb weiterhin skeptisch. Über sein Funkgerät fragte er in Nuku’alofa nach den sechs Kindern und bat, in der Schule anzurufen, um herauszufinden, ob die Geschichte stimmte. Kurz darauf sei jedoch schon eine sehr weinerliche Stimme zu hören gewesen, schrieb Bregman. Diese sagte: „Sie haben sie gefunden! Diese Jungen wurden für tot aufgegeben. Beerdigungen wurden abgehalten. Wenn sie es sind, ist das ein Wunder!“

Die Geschichte zeigt, wie viel stärker wir sind, wenn wir uns auf uns gegenseitig stützen können

Rutger Bregman, Historiker und Autor

Während seiner Recherchen versuchte der niederländische Historiker zu rekonstruieren, was auf der Insel genau passiert war. Er sprach mit Warner und einem der Jungen, Mano Totau, damals 15 und heute 70 Jahre alt. Heraus kam, dass die Teenager eine völlig andere Erfahrung hatten als die fiktionalen Kinder im „Herr der Fliegen“. Trotz der schwierigen und lebensgefährlichen Situation kooperierten sie gut: Sie arbeiteten in Zweierteams zusammen, legten einen Garten an, höhlten Baumstämme aus, um Regenwasser zu sammeln und bauten einen Fitnessbereich mit Gewichten, einen Badmintonplatz und einen Hühnerstall. Wie die Jungen in „Herr der Fliegen“ zündeten sie ein Feuer an, doch während das Feuer die Buchcharaktere spaltete und zum Konflikt führte, ließen die echten Jungen es zu keinem Zeitpunkt erlöschen.

Feierliche Rückkehr

Noch viel wichtiger aber: Die Sechs blieben die ganze Zeit über Freunde. „Sicher, manchmal gab es Streitereien“, schrieb Bregman. Aber dann sei einer von ihnen auf die eine Seite der Insel gegangen und der andere auf die andere Seite, um sich wieder zu beruhigen. Danach hätten sie sich beieinander entschuldigt. „So sind wir Freunde geblieben“, habe Mano Totau ihm gesagt. Als die Jungen schließlich zusammen mit Warner und seiner Crew nach Nuku’alofa zurückkehrten, wurden sie – nach etwas Ärger wegen des gestohlenen Bootes – groß gefeiert. Warner wurde zum Nationalhelden erklärt und erhielt vom König die Erlaubnis, Hummer in den Gewässern Tongas zu fangen. Die sechs Jungen stellte er letztendlich sogar als Besatzung an und arbeitete jahrzehntelang mit ihnen zusammen. Selbst heute würden Peter und Mano noch immer ab und zu gemeinsam segeln gehen, obwohl Peter schon fast 90 sei, schrieb Bregman auf Twitter.

Seitdem der Autor die Geschichte Anfang Mai auf Twitter und sein Buchkapitel in der britischen Zeitung The Guardian veröffentlicht hat, geht die Geschichte um die Welt. In wenigen Tagen sei sie Millionen Mal gelesen worden, schrieb der Guardian in einem Nachfolgeartikel – berühmte Persönlichkeiten wie Hollywood-Star Russell Crowe, der US-Senator Ted Cruz und der ehemalige australische Premierminister Malcolm Turnbull hätten sie geteilt.

Für Rutger Bregman ist die Geschichte aber mehr als nur eine aufregende Überlebensgeschichte. Die wahre Begebenheit sei „eine Geschichte von Freundschaft und Loyalität“, die aufzeigen würde, „wie viel stärker wir sind, wenn wir uns auf uns gegenseitig stützen können“.