Platte der Woche„Anger is a gift – und du bist die Schleife“: „Bei aller Liebe“ von Muff Potter

Platte der Woche / „Anger is a gift – und du bist die Schleife“: „Bei aller Liebe“ von Muff Potter
 Muff Potter – Bei aller Liebe

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Eine Comeback-Platte wie ein Traum. Musikalisch vielseitig, textlich schonungslos und mit ein paar (wütenden) Liedern für die Ewigkeit: „Bei aller Liebe“ ist jetzt schon eine der wichtigste Platten des Jahres.

Als sich Muff Potter, benannt nach einem unschuldig des Mordes angeklagten Landstreicher aus Mark Twains Tom Sawyer, 2009 auflösten, hinterließen die Münsteraner ein Loch in der deutschsprachigen Indie- und Punkmusik – selten gab es Bands, deren Sänger intelligenter und schärfer den Alltag und die Übel des Kapitalismus analysierten. Seine Beobachtungen und Porträts waren meilenweit entfernt von den oftmals plakativen Lyrics amerikanischer Punkbands wie Green Day oder Anti-Flag, die sich stets und oftmals nahe am verschwörungstheoretischen Duktus an einem „wir“ gegen „die“ abrackern.

Musikalisch hatte sich die Band auf den letzten Alben von ihren Punkwurzeln entfernt und auf dem hitlastigen „Steady Fremdkörper“ die Blaupause für einen kantigen, oftmals rotzigen, streckenweise aber auch nachdenklichen Indierock entworfen, der dann auf „Gute Aussicht“, ihrer letzten Platte vor der Auflösung, kauziger, sperriger und experimenteller ausgelegt wurde.

Dass es danach aus war, war schade, erlaubte Sänger Nagel, mit bürgerlichem Namen Thorsten Nagelschmidt, jedoch, seine Alltagsbeobachtungen auf Romanlänge auszuweiten – schrieb Nagel auch zur Zeit seiner Aktivität als Muff-Potter-Sänger Prosa, gelang ihm während der Auszeit seiner Band mit dem Roman „Arbeit“ ein ganz großer Wurf. Im Roman erzählt Nagelschmidt aus der Perspektive aller Existenzen, die die Stadt Berlin und ihr nächtliches Treiben am Laufen halten, gibt Dealern, Über-Lieferant*innen, Pfandflaschensammler*innenn, Späti-betreiber*innen und Wachmännern eine Stimme und zeigt, welche Opfer ein urbanes Perpetuum mobile fordert, indem er schonungslos darstellt, unter welch prekären Bedingungen diese Menschen sich kaputt schuften.

Kurz vor der Pandemie hieß es, Muff Potter wären wieder aktiv, ein erster neuer Titel, „Was willst du“, war ein netter Vorbote, schien aber etwas konventionell. Der Song hat es nicht auf die neue Platte „Bei aller Liebe“ geschafft, retrospektiv wirkt es so, als hätte sich die Band mit diesem Titel erst warm gespielt, um zwei Jahre später der Welt ihr Opus magnum vorzustellen.

„Bei aller Liebe“ ist kaum mehr Punk – es sei denn im Esprit, in der Wut, die die Platte durchdringt. „Bei aller Liebe“ ist stilistisch zerfahrener denn je – und wirkt trotzdem wie aus einem Guss. „Bei aller Liebe“ erforscht neues Terrain – hier gibt es treibenden Indie, tollen Progrock, Postrocksegmente, Glockenspiel, Bläser – und klingt trotzdem mehr denn je nach Muff Potter: Diese Platte hätte keine andere Band hinbekommen.

Beginnen tut das Album ruhig, fast schon balladesk, mit „Killer“, in dem Thorsten Nagelschmidt urbane Alltagsbeobachtungen zu einem melancholischen Stadtporträt verdichtet, dessen Stärke im Pendeln zwischen Allgemeinwahrheiten und sehr präzisen Schnappschüssen liegt, während grobkörnige Gitarrenakkorde allmählich von einem einsamen Klavier und Pedal-Steel-Klängen begleitet werden: „Ein Gruß vom Becker und ein müder Blick/ Die Vögel kommen jedes Jahr ein bisschen früher zurück/ Einige fliegen erst gar nicht mehr los/ Die Frau mit den Augen raucht auf ihrem Balkon/ Sie hat sich vor Wochen von ihrem Typen getrennt/ Der Typ zieht nicht aus, er findet nichts Neues/ Manche Dinge sind nicht, was sie scheinen/ Die meisten aber schon, bist du auch so allein.“

Gegen Ende wird der Song hymnisch, fragt, wie ein Echo zur gleichnamigen Tocotronic-Platte, wie wir leben und wie wir sterben wollen, bevor er uns in den klassischen Indie-Punkrock von „Ich will nicht mehr mein Sklave sein“ und den tanzbaren Postpunk von „Flitter & Tand“ entlässt. Die zwei Hits der Platte vergessen bei aller Eingängigkeit nicht die sozialkritische Dimension und verhandeln, jeder auf seine Art, (Selbst)ausbeutung, Erniedrigung und Vereinzelung im späten Kapitalismus – denn „auch die lange Leine ist noch eine“.

„Niemals mehr zur Arbeit gehen“

Wer bisher dachte, das Album wäre etwas brav, wird spätestens beim nächsten Track eines Besseren belehrt. Auf „Ein gestohlener Tag“ loten Muff Potter neue Grenzen aus, der fast achtminütige Song beginnt wie ein Postpunk-Track, der streckenweise an Urlaub in Polen erinnert, bevor er sich in der zweiten Hälfte in einem intensiven Postrock-Crescendo entlädt. Darüber hinaus ist es zum Heulen schön, wie sich Nagelschmidts Sprechgesang über ein Paar, das sich dem Alltag entzieht und einfach – Suedes Brett Andersons sang es damals deutlich banaler – „lazy“ sein möchte, auf die melancholischen Akkorde legt.

„In der Spüle fläzen sich die Teller/ In der Ecke reiben sich die Flaschen/ Wir verschieben alles auf ein ominöses Später/ Du lauschst dem Grummeln in meinem Bauch/ Nichts versäumt, nur gedöst und geträumt/ Der Himmel zieht sich zu und wir uns auch/ Deine Zigarette baut Paläste unter die Decke/ Die Zeiger drehen schüchtern ihre Runden/ Unsere Körper wissen mehr als wir/ Was sich gut anfühlt, ist gut/ Ich glaub, ich bleib noch ein paar Stunden.“ Wie Nagelschmidt hier die Liebe und das Faulenzen als subversiven Akt besingt, ist schlichtweg grandios, den Chorus „Niemals mehr zur Arbeit gehen“ möchte man sich am liebsten sofort irgendwo tätowieren lassen. Die Trompeten im Hintergrund passen zudem perfekt, da sie die Verweigerungshaltung als (gar nicht mal so) passiven Widerstand auch klanglich feiern – denn wer im Bett liegt, trägt nicht zur Produktionskette bei.

Ein weiteres Highlight ist das fast genauso lange „Nottbeck City Limits“, das wie ein Metasong beginnt – Sänger Thorsten Nagelschmidt begibt sich ins Bandstudio, beschreibt die Aufnahmen zur neuen Platte–, bevor es nach drei Minuten eine drastische Wende nimmt und die Gräuel der Produktionskette verhandelt, der sich die Liebhaber im „gestohlenen Tag“ erfolgreich entzogen haben: Unweit vom Studio steht nämlich die Tönnies-Fabrik, in der unterbezahlte Arbeitskräfte „30.000 Schweine am Tag“ schlachten – und Nagelschmidts Empathie fokussiert sich auf die „entzündeten Gelenke“, die „tauben Finger“, die „platzenden Köpfe“ der osteuropäischen Arbeiter*innen, die „auf zerschlissenen Matratzen in schimmligen Vorschlägen“ schlafen, sich in Wohnungen mit mindestens „zehn Namen auf dem Briefkasten“ von „Toastbrot und Tütensuppe“ ernähren – und das im „Land von fließend Milch und Honig“ –, weil in Deutschland (oder ganz allgemein überall in Europa) „erst die Nahrungsmittelproduktion, dann das Fressen und dann die Moral“ kommt.

„Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht“

Während Nagelschmidt sich in Rage redet und seinen zuckersüßen Chorus fast ironisch singt, begleitet die Band ihn stoisch, aber stürmisch in seiner Abrechnung mit der Massenfleischproduktion – dass der Closer „Schöne Tage“ danach mit Synthies wie auf einem Metronomy-Track beginnt und mit reichlich Melancholie und Nostalgie etwas Hoffnung spendet, ist nach einem solchen Hammer von einem Song irgendwie notwendig.

Aber auch zwischen diesen beiden Albumhighlights gibt’s tolle, wenn auch (etwas) simpler gestrickte Songs: Die aufeinanderfolgenden „Wie Kamelle raus“, „Hammerschläge, Hinterköpfe“ und „Privat“ verdichten Schicksale im und kommentieren messerscharf die Absurditäten des digitalen Kapitalismus: Während auf „Wie Kamelle“ das Porträt eines Menschen, der aus dem Alltag ausbrechen möchte („Du malochst wie ein Tänzer und tanzt wie ein Banker/ Und im 13. Stock lehnst du dich weit aus dem Fenster/Kennst von allem den Preis und von nichts den Wert/ Und es ist eher der Vergleich als der Verzicht der schmerzt“), zu einem tanzbaren Indie-Hit verdichtet wird, dekonstruiert Nagelschmidt im darauffolgenden „Hammerschläge und Hinterköpfe“ den Neusprech des Büroalltags („Hashtag Mindset Hashtag Kein Problem“), die dämlichen Katalogfragen von Bewerbungsgesprächen („Wo sehen Sie sich selbst in fünf Jahren“), Emmanuel Macrons neoliberale Ideologie der Verachtung („Wer einen Job will, findet auch einen“) und den zeitgenössischen Solipsismus („Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht“) zum hässlichen Selbstporträt des späten Neoliberalismus.

Gut, dass dieser hässliche Spiegel, den Nagelschmidt an den geteerten Straßen einer Großstadt fortbewegt, durch die Musik aufgewertet wird: In der Strophe ist der Song so treibend wie ein Track von Maserati (die Band, nicht das im Song erwähnte Auto), der Chorus hingegen ist purer Stonerrock der Marke Queens of the Stone Age – und verweist damit auf Songs wie „Das Finkelmann’sche Lachen“ von „Steady Fremdkörper“.

Und auf dem kurzen, treibenden In-Your-Face-Punk von „Privat“ wird die Entstaatlichung der Welt angeprangert – „Deine Omi ist hier leider nicht mehr in so guten Händen/ Dieses Heim wurde verkauft an Privat“. Letztlich sind es die kleinen Details – die Anspielung an den Orpéa-Skandal in Frankreich, der Fernseher, der „einen Krieg ins Zimmer spuckt“ oder auch die Vögel, die wegen des Klimawandels nicht mehr wegfliegen –, die diese Platte zu einem schonungslosen Porträt gestalten. Treffender, wichtiger und musikalisch anspruchsvoller waren Muff Potter noch nie: „Bei aller Liebe“ ist jetzt bereits eine der wichtigsten Platten des Jahres.

Bewertung: 9/10
Anspieltipps: Ein gestohlener Tag; Hammerschläge, Hinterköpfe; Killer; Nottbeck City Limits