100. TodestagDie politische Dimension und das Thema der Macht in Franz Kafkas Werk

100. Todestag / Die politische Dimension und das Thema der Macht in Franz Kafkas Werk
Reiner Stach, 1951 im sächsischen Rochlitz geboren und im baden-württembergischen Pforzheim aufgewachsen, studierte in Frankfurt am Main Philosophie, Mathematik und Literaturwissenschaft. Er promovierte 1985. Foto: privat

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Mit seiner biografischen Trilogie über Franz Kafka hat Reiner Stach ein Standardwerk geschaffen. Heute Abend wird der deutsche Literaturwissenschaftler über das Leben und Werk des am 3. Juni vor hundert Jahren verstorbenen großen Schriftstellers sprechen.* Zu den vielen Facetten in Kafkas Schaffen gehören auch die politische Dimension und das Thema der Macht, was an dieser Stelle beleuchtet werden soll.

„Franz Kafkas Albträume sind unsere tägliche Realität: In seinen dunklen und doch komischen Visionen hat er die Welt erahnt, in der wir alle jetzt leben.“ Diese Worte stammen von dem Schriftsteller Daniel Kehlmann. Er hat das Drehbuch geschrieben zu der sechsteiligen Fernsehserie über das Leben von Kafka, dessen Todestag sich am 3. Juni zum hundertsten Mal jährt. Das Skript basiert auf der dreibändigen Kafka-Biografie von Reiner Stach, für die dieser mit dem Heimito-von-Doderer-Literaturpreis und mit dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet wurde und der zudem als Fachberater für die Serie diente.

Stachs in 18 Jahren Arbeit entstandene Biografie ist in „Die frühen Jahre“, „Die Jahre der Entscheidung“ und „Die Jahre der Erkenntnis“ unterteilt. Die Bände sind 2002, 2008 und 2014 erschienen. Stach kennt die unzähligen Interpretationsmöglichkeiten von Kafkas Werk: In früheren Jahrzehnten etwa sei der Fokus sehr stark auf die albtraumhaften Elemente gelegt worden. Der Schriftsteller sei zum Propheten erhoben worden, der den Totalitarismus vorausgesehen habe. Heute würden verstärkt ästhetische Facetten betont. Der Interpretationsdruck sei gesunken, sagte Stach kürzlich im Dezember 2023 in einem Interview mit dem Wiener Standard, andererseits nehme die Wirkung von Kafka dramatisch zu. „Das hängt meines Erachtens mit dem aktuellen Zustand der Welt zusammen. (…) Die Informationsfülle ist absolut überwältigend. Nur hat man das Gefühl, keiner weiß mehr, wohin der ganz Laden treibt. Wir alle haben das Gefühl, dass wir in einem steuerlosen Fahrzeug sitzen.“

Detaillierte Anatomie der Macht

Unter den vielen Ansätzen, Kafkas Werk zu interpretieren, lautet einer, es als eine detaillierte Anatomie der Macht zu begreifen. „Das Leben sowie das Werk Kafkas ist nichts anderes als ein verzweifelter Kampf gegen jede Form von Macht“, konstatierte der Schriftsteller Elias Canetti, Autor unter anderem von „Masse und Macht“ (1960). Von „Das Schloss“ und „Der Prozess“ bis hin zu „Die Verwandlung“ erforscht Kafka Machtbeziehungen. Der erstgenannte Roman, der von dem Landvermesser K. handelt, 1922 entstanden und neben „Der Prozess“ und „Der Verlorene“ einer von Kafkas drei unvollendeten Romanen, beschreibt ein Symbol der totalitären Macht. Fast die gesamte Bevölkerung des Dorfes hat eine Beziehung zum Schloss. Obwohl keiner von ihnen über eine besondere Macht verfügt oder eine besondere Zuständigkeit hat, stellen sie alle zusammen ein eigentümliches undurchdringliches Netz dar, das K. daran hindert, in die Nähe des Schlosses zu gelangen.

Die Macht zeigt sich hierbei nicht in Form einer Pyramide, sondern waagerecht und zerstückelt. Sie ist über das gesamte soziale Spektrum verstreut: „Es besteht kein Unterschied zwischen den Dorfbewohnern und dem Schloss“, stellt der Dorflehrer fest. In „Der Prozess“ sieht sich Josef K. auch einer unsichtbaren Macht gegenüber – und einem nicht geschriebenen Gesetz, dessen Inhalt man nicht lesen kann. Auch hier ist wieder ein Personal aus Subalternen – zum Beispiel Anwälte, Gerichtsbeamte, Helfer, Pförtner, Spione, aber kein Richter –, die Josef K. nicht helfen, sondern ihn in ein Labyrinth einschließen. Schließlich wird der Protagonist nach unzähligen vergeblichen Versuchen, etwas Näheres über seinen Prozess zu erfahren, von den beiden Unbekannten, die ihn am Anfang festnahmen, „wie ein Hund“ ermordet.

Kaum ein Literaturwissenschaftler hat sich so intensiv mit Franz Kafkas Verhältnis zu den verschiedenen Formen der Macht auseinandergesetzt wie Gerhard Neumann. Das letzte Buch des 2017 verstorbenen Philologen war „Franz Kafka. Experte der Macht“. Darin erzählt Neumann von einem frühen Erlebnis mit seinem Vater, den er nachts um ein Glas Wasser bat. Der Vater sperrte den kleinen Franz daraufhin auf den Balkon und ließ ihn dort in seinem Hemdchen frieren. Diese Begebenheit habe Kafka einen „inneren Schaden“ zugefügt. Neumanns Grundthese lautet: „Kafka weiß, dass die Macht in kleinsten Lebenseinheiten, also dort am stärksten ist, wo sie anonym und gewissermaßen ‚unsichtbar‘ bleibt.“ Neumann bezeichnet Kafka als „Begründer einer Mikrologie der Macht“.

Väterliche Macht, Sinnbild von Autorität und Unterdrückung

In seinen Werken hat Kafka – von „Brief an den Vater“ bis hin zu „Das Urteil“ oder „Die Verwandlung“ – eine weitere Macht immer wieder thematisiert: die väterliche, die Macht des Patriarchen, Sinnbild von Autorität und Unterdrückung. Er ist eine schier übermächtige Instanz. Der tschechisch-jüdische Vater stammte aus der Provinz und hatte nach der Heirat mit einer wohlhabenden Deutsch-Jüdin ein Geschäft für Kurzwaren und Modeartikel gegründet. Sein Aufstiegswille zeigte sich auch im Bildungsweg des Sohnes, der ein humanistisches Gymnasium zu besuchen und Jura zu studieren hatte. In „Die Verwandlung“ äußert sich nach Ansicht von Costas Despiniadis in seinem 2019 erschienenen Buch „Anatomist of Power: Franz Kafka and the Critique of Authority“ eine radikale Kritik der bürgerlichen Familie. In der Erzählung reagiert die Familie auf die Verwandlung von Gregor Samsa mit der Extermination des „Ungeziefers“.

Franz Kafka (1883-1924)
Franz Kafka (1883-1924) Foto: S. Fischer Verlag

Seit 1908 war Kafka als Rechtsberater der Arbeiter-Unfall-Versicherung tätig, einer bürokratischen Institution. Dort muss er die staatlichen Interessen gegenüber verunglückten Arbeitern durchsetzen, über die Kafka schreibt: „Diese Leute sind Herrscher dieser Welt, dennoch illusionieren sie. Hinter ihnen bewegen sich schon die Sekretäre, die Bürokraten, die professionellen Politiker, all diese zeitgenössischen Sultane, die sehen, dass ihr Zugang zur Machtergreifung vorbereitet wird.“ Die Arbeiter und ihre Probleme sowie das Ausgeliefertsein des Menschen an anonym erlebte Mächte waren Kafkas tägliche Erfahrungen.

Gegenüber der Bürokratie übt Kafka unerbittlich Kritik. So war es kein Wunder, dass er einer der wenigen Schriftsteller war, die im Jahrhundert der totalitaristischen Systeme, des Nationalsozialismus und des Bolschewismus in beiden Systemen verboten waren, betont Costas Despiniadis. Der griechische Autor, Übersetzer und Verleger legt die verschüttete antiautoritäre Dimension von Kafkas Werk frei und sieht in ihm einen „mächtigen Kritiker der Autorität, der Bürokratie, des Kapitalismus, der Rechtsprechung, des Patriarchats und der Gefängnisse“.

War Kafka ein Visionär?

Es sei normal, „dass der Bolschewismus die Religion angreift“, zitiert Despiniadis den Schriftsteller, „da er selbst eine Form von Religion ist“. An einer anderen Stelle heißt es: „Der Erste Weltkrieg, die Revolution in Russland und das Elend der ganzen Welt, scheinen ein Ausbruch des Bösen zu sein. Es ist eine Flut. Der Krieg hat die Dämme des Chaos eröffnet.“ In „Der Verschollene“ schreibt Kafka über den Kapitalismus: „Der Kapitalismus ist ein System von Abhängigkeit, die sich vom Inneren ins Äußere bewegen, vom Äußeren ins Innere, von der Höhe in die Tiefe, von der Tiefe in die Höhe. Alles ist hierarchisiert. Alles ist gefesselt. Der Kapitalismus ist ein Zustand der Welt.“

War Kafka ein Visionär? Hatte sein Werk prophetische Qualität? Oder war er ein hellsichtiger Realist? Zumindest war er ein machtkritischer Skeptiker und wurde immer wieder vereinnahmt, etwa „als Warner vor der totalitären Welt einer übermächtigen Bürokratie“, schreibt Costas Despiniadis. Er weist darauf hin, dass Kafka in seiner Jugend Kontakt zu anarchistischen Kreisen in Prag hatte und einmal bei einer Demonstration festgenommen worden sei. „Sein Zugang zu Machtfragen ist eng mit der politischen Groteske verbunden, mit dem Grotesken“, sagt der Philosoph und Literaturwissenschaftler Joseph Vogl im Gespräch mit dem Philosophie Magazin. Er lokalisiere die Macht an ihrer Schwelle zu neuen Machtformen. Sie habe in Kafkas Texten keinen zentralen Ort mehr, bleibt unangreifbar. Sie ist nicht mehr Disziplinar-, sondern Kontrollmacht. „Die Angst vor der Übermacht ist zentral für Kafka“, so Canetti, „und sein Mittel, sich ihrer zu erwehren, ist Verwandlung ins Kleine.“

* Reiner Stach im Gespräch über Franz Kafka. Heute Abend in der Abtei Neumünster. Beginn 19 Uhr. Eintritt frei. Durch den vom Institut Pierre Werner in Zusammenarbeit mit dem Théâtre National du Luxembourg und dem Kasemattentheater organisierten Abend führt Matthias Bormuth, Professor für Ideengeschichte an der Universität Oldenburg.