„Blannenheem“ und Co.Zeit für eine Bilanz: Ginette Jones über die Probleme im sozialen Sektor

„Blannenheem“ und Co. / Zeit für eine Bilanz: Ginette Jones über die Probleme im sozialen Sektor
Die Pandemie hat gezeigt, dass Luxemburgs Sozialsystem funktioniert, aber auch Schwachstellen hat. Zeit demnach, um sich Gedanken um die Zukunft zu machen, findet Ginette Jones. Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

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Missstände im „Blannenheem“ als Spitze des Eisbergs, Forderung des Ombudsman nach erweiterten Kompetenzen, der Mensch als Zahl: Nicht zuletzt die Corona-Krise hat den sozialen Sektor in Luxemburg wieder verstärkt in den Vordergrund rücken lassen. Ginette Jones kennt diesen Bereich genau. Im Gespräch mit dem Tageblatt verteidigt sie den Sozialstaat, weist aber auf so manche Schwachstelle hin.   

Ihre gesamte berufliche Laufbahn hat Ginette Jones im Sozialsektor verbracht. Sie begann als Sozialhelferin, arbeitete für den Europäischen Sozialfonds, kümmerte sich in der Bettemburger Gemeinde um Gleichstellung, initiierte die Reform des Arbeitsamtes und war gegen Ende ihrer beruflichen Laufbahn im Ministerium u.a. für die „Ateliers protégés“ verantwortlich. Auch in ihrer Freizeit engagiert sich das Mitglied der LSAP u.a. als Präsidentin des Verwaltungsrats der „Jogenheem asbl“ und Präsidentin der „Entente des Offices sociaux asbl“. Demnach kennt sie den Sozial- und Gesundheitssektor genau und weiß, wie Institutionen in diesem Bereich funktionieren. 

„Die Zeit, etwas im Sozial- und Gesundheitssektor zu ändern, ist da. Wenn die Corona-Krise zu einer Diskussion hierüber führt, so hat sie auch etwas Gutes bewirkt“, sagt Ginette Jones. In der Tat sieht sich der Sektor mit einem riesigen Fachkräftemangel konfrontiert, zudem haben die Missstände um altehrwürdige Institutionen wie das „Blannenheem“ das Thema in den Fokus der Öffentlichkeit rücken lassen. Der immer wiederkehrende Vorwurf im Bereich der Pflege: Patienten und Bewohner werden als Zahl und nicht mehr als Mensch wahrgenommen. Sämtliche Leistungen sind durch die Pflegeversicherung bis ins kleinste Detail chiffriert, was weder den Patienten noch dem Pflegepersonal das Leben leichter macht. Ginette Jones betont dennoch immer wieder, dass das Sozialsystem in Luxemburg funktioniert: „Unser System hat sich bewährt, das konnte und kann man in Corona-Zeiten sehen. Hier gab es keine Katastrophen. Und trotzdem ist es an der Zeit, alles zu überprüfen. Denn die Krisensituation hat auch Schwachstellen aufgezeigt.“

Ginette Jones
Ginette Jones Foto: Editpress/Julien Garroy 

Sie meint damit Eskalationen wie im „Blannenheem“, die laut Jones verhindert werden können und müssen. Eine Gruppe von Familienangehörigen von Bewohnern des Heims hatte sich zusammengetan, um auf Missstände hinzuweisen. Aufgrund der Schwere der Vorwürfe gegen die Generaldirektion blieb dem Verwaltungsrat des Hauses nichts anderes übrig, als Direktor Jean-Paul Grün an der Spitze der Vereinigung abzulösen. Vergangene Woche hatte die konsultative Menschenrechtskommission, das Zentrum für Chancengleichheit und Ombudsman Claudia Monti auf einer gemeinsamen Pressekonferenz Beschwerden von Bewohnern von Behinderteneinrichtungen zusammengefasst. Und die Ausweitung der Kompetenzen des Ombudsman in diesem Bereich gefordert. Das Problem: Da es sich bei den Einrichtungen zumeist um private Vereinigungen ohne Gewinnzweck (Asbl) handelt, hat ein Bürgerbeauftragter dort keinen Zutritt. „Es ist Zeit für eine Bilanz“, sagt demnach Ginette Jones, die sich durchaus mit der Idee einer Erweiterung der Kompetenzen des Ombudsman im sozialen Bereich anfreunden kann. Eine Frage liegt ihr aber eher auf dem Herzen: „Wir müssen überlegen, wie wir in Zukunft mit dem Ehrenamt im sozialen Sektor umgehen.“

Blick in die Vergangenheit

Um die Probleme zu verstehen, muss man in die Vergangenheit blicken. Betreuungseinrichtungen im sozialen oder Gesundheitssektor entstanden meistens auf Initiative der Familien von Betroffenen, die eine Vereinigung gründeten. Es gab wenig Gesetze und wenig Regeln. Im Laufe der Jahre änderte sich das und die Institutionen waren gezwungen, sich zu professionalisieren. Gleichzeitig stiegen die Erwartungen. Ginette Jones chiffriert es am Beispiel „Jongenheem“. Als sie in den 1980er Jahren dort anfing, hatte das „Jongenheem“ noch eine mehr als überschaubare Größe. Heute sind dort 250 Personen beschäftigt. Aus einer Asbl sind drei geworden, die zum Teil auch noch unterschiedlichen Ministerien unterstehen. Die Gründung der übergreifenden Stiftung „Solina“ erlaubt die Bündelung der Ressourcen. „Trotzdem ist die Sache sehr komplex und arbeitsintensiv“, sagt Jones. Verwaltungsrat und Direktion sind gefordert, um einerseits alle legalen Rahmenbedingungen zu erfüllen und andererseits der sozialen Arbeit mit den Menschen die notwendige Sorgfalt und Zeit zu geben.

Und deshalb findet sie es nicht fair, wenn wie im Fall des „Blannenheeem“ der Verwaltungsrat unter Beschuss steht: „Man darf nicht vergessen, dass die Verwaltungsräte aus Freiwilligen bestehen, die für ihr Engagement kein Geld bekommen. Und dass sie die gesamte Verantwortung tragen. Geschieht ein Unfall, dann sind sie es, die haftbar sind.“ Deshalb müsse man den Status der Ehrenamtlichen stärken, findet Jones, ähnlich wie bei der Reform des Rettungsdiensts CGDIS geschehen. Hier ist das Ministerium gefordert. Zumal es in der heutigen Zeit schwierig ist, die Verwaltungsräte zu erneuern und jüngere Generationen dazu zu bewegen, sich ehrenamtlich zu engagieren. Jones investiert rund zehn Stunden pro Woche in das „Jongenheem“. „Die Anforderungen sind im Laufe der Jahre immer größer geworden. Es braucht Leute vom Fach: Finanzspezialisten, Anwälte und natürlich Leute aus sozialen Berufen.“

Das jeweils zuständige Ministerium setzt mit den Konventionen die Rahmenbedingungen für die Einrichtungen. Und engagiert sich zum Beispiel finanziell bei Infrastrukturarbeiten. Aus dem Tagesgeschäft hält man sich weitestgehend heraus, was dem Familienministerium von Corinne Cahen (DP) im Fall „Blannenheem“ einige Kritik einbrachte. „Es ist nicht so, dass das Ministerium in den privat geführten Häusern keine Handhabe hat. Im ASFT-Gesetz (das ASFT-Gesetz von 1998 regelt die Beziehungen des Staates mit den Trägern im sozialen, familiären und therapeutischen Bereich, Anm. d. Red.) sind im Artikel 9 die Eingriffsmöglichkeiten des Ministeriums klar definiert.“ In der Tat gehen diese Kompetenzen recht weit, so ist z.B. der Zutritt in die Einrichtungen jederzeit möglich. „Die Rollenverteilung zwischen den Vereinigungen und dem Ministerium ist demnach ziemlich klar. Gut wäre es vielleicht, die Prozesse und auch die Rechte und Pflichten aller Beteiligten, also auch der Bewohner, noch einmal unter die Lupe zu nehmen und sie gegebenenfalls anzupassen“, sagt Ginette Jones. Wenn jeder genau weiß, wo er dran ist, dann klappt das Zusammenspiel auch besser, so der Gedankengang.

Die Situation im „Blannenheem“

Seit Anfang Juni ist Christian Erang nun Interimsdirektor im „Blannenheem“. Seitdem hat sich die Lage der Bewohner des Heims zum Besseren gewendet, zieht Patrice Klepper-Boever gut einen Monat nach der Ablösung von Jean-Paul Grün an der Spitze der Einrichtung Bilanz. „Die Atmosphäre ist eine andere. Der neue Direktor hat von Anfang an versucht, Ruhe ins Haus zu bringen. Das ist ihm gelungen“, sagt sie. Auch die Versammlungen zu seiner Vorstellung seien ein Erfolg gewesen. Der alten Generaldirektion wurde vor allem ein Mangel an Kommunikation vorgeworfen. Mit Erang sei genau das Gegenteil der Fall, was sich positiv auf die Bewohner auswirkt: „Viele sind wieder viel offener geworden. Sie wissen, dass ihnen nun zugehört wird“, sagt Patricia Klepper-Boever. Auch die Affäre um die Mietzahlungen der Familie Heirens ist inzwischen ad acta gelegt. „Eineinhalb Jahre Streit, der die Anwälte beschäftigt hat, ist in zehn Tagen beigelegt worden“, so Robert Heirens gegenüber dem Tageblatt.