FilmSix Feet Under, Six Feet Above: Am Drehort von „Himbeeren mit Senf“

Film / Six Feet Under, Six Feet Above: Am Drehort von „Himbeeren mit Senf“
Vater Ernst (Luc Schiltz) verliebt sich in Charlotte (Fabienne Hollwege)  Fotos: Ricardo Vaz Palma/Copyright: Amour Fou Luxembourg

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Verlängerte Tage am Set, Grenzschließungen, strenge Hygienemaßnahmen und Dreharbeiten, die sich überschneiden – die Filmbranche steht durch die aktuelle Corona-Pandemie vor neuen logistischen Herausforderungen. So auch die luxemburgische Filmproduktionsfirma Amour Fou, die momentan noch in den Dreharbeiten zum Kinderfilm „Himbeeren mit Senf“ steckt. Das Tageblatt war vor Ort – und hat sich mit Produzentin Bady Minck und den Schauspielern Fabienne Hollwege und Luc Schiltz unterhalten.

„Jeder Tag ist Rock ’n’ Roll. Man weiß nie, was passieren wird, und man muss sich darauf einstellen, dass sich zu jedem Zeitpunkt alles ändern kann“, erklärt die luxemburgische Schauspielerin Fabienne Hollwege. Gut, dass Improvisation Teil des schauspielerischen Metiers ist. Denn in Zeiten der Pandemie wird die Geschichte des Filmdrehs fast so spannend wie die Geschehnisse im Film selbst.

Am Montagmorgen sieht die Filmkulisse in Wellenstein nicht nur wegen des miesen Wetters anders als gewohnt aus. Der Außenstehende könnte fast den Eindruck erhalten, er würde sich auf dem Dreh eines postmodernen Metafilms befinden. Mögliches Szenario: In einer postapokalyptischen Kulisse versucht ein maskiertes Filmteam, inmitten einer verseuchten Welt einen poetischen Kinderfilm zu drehen. Auf dem Set laufen alle mit Mund- und Nasenschutz herum, man sieht dem Team eine gewisse Angespanntheit an – schließlich wurden während des Filmdrehs sieben Infektionen gemeldet, wovon sich allerdings zwei als Fehlalarm entpuppten.

Auch unter den Schauspielern gab es einen Corona-Fall, bestätigte Produzentin und Amour-Fou-Geschäftsführerin Bady Minck: „Eine der jungen luxemburgischen Schauspielerinnen hat das Virus erwischt. Sie ist mittlerweile negativ getestet worden und kann jetzt auch wieder mitdrehen. Alle, die bei uns positiv auf Covid-19 getestet wurden, waren aber nicht krank und sind auch wieder gesund und ans Set zurückgekehrt.“ Wurde jemand während der Dreharbeiten positiv auf Corona getestet, so übernahm das Gesundheitsamt das „Contact Tracing“. Da sich am Set allerdings immer alle an die Vorschriften gehalten haben (Maske, Einhaltung der Zwei-Meter-Distanz, offenes Fenster beim Autofahren usw.), konnten die Dreharbeiten wie gehabt weitergehen, nachdem sich alle Schauspieler und Crewmitglieder nochmals einem Test unterzogen hatten.

Filme drehen in Zeiten einer Pandemie

Dass der Filmdreh unter diesen Gegebenheiten teurer wird, ist unumgänglich. Der Film Fund hat den luxemburgischen Produktionsfirmen zwar versprochen, finanzielle Zusatzkosten, die durch die Pandemie entstehen, zu übernehmen – doch das bedeutet im Umkehrschluss auch, dass das Budget des Film Fund schneller aufgebraucht sein wird und folglich weniger Luxemburger Produktionen von ihm finanziert werden.

Plante Amour Fou für das Jahr 2020 vier Spielfilmproduktionen, so mussten drei davon wegen des Lockdowns verschoben werden, was dazu führte, dass die Dreharbeiten des Autorenfilms „Une histoire provisoire“ – der erste Film, der unter der Pandemie litt, aber auch die erste Produktion, die nach dem Lockdown gefilmt werden durfte – parallel zu denen von „Himbeeren mit Senf“ liefen. „Während drei Wochen haben sich die Dreharbeiten beider Produktionen überschnitten – ein Szenario, das die Produktionsfirma normalerweise zu vermeiden versucht. Wegen des Lockdowns war es dieses Mal leider nicht anders möglich“, so Bady Minck. Mit viel Organisationsaufwand gelang es Amour Fou letztlich, zwei verschiedene Teams für die Dreharbeiten aufzustellen.

Parallel laufende Dreharbeiten sind weitaus nicht die einzigen organisatorischen Schwierigkeiten, vor denen die Produzentin und ihre Crew stehen. Verlängerte Drehtage stehen ebenfalls auf dem Programm, was bei einem Kinderfilm wiederum zu Problemen führt, da es den Kinderdarstellern nicht erlaubt ist, Überstunden zu machen. Konnte man sonst alle Schauspieler, die im selben Hotel wohnten, mit demselben Auto und Fahrer abholen lassen, benötigen alle Beteiligten nun zudem ihren persönlichen Fahrer, der dann auch jede Woche einen negativen Corona-Test vorlegen muss – eine teure Angelegenheit!

Der Film sollte ursprünglich in drei Ländern gedreht werden – ein Vorhaben, das die Dreharbeiten aufgrund der Corona-bedingten Grenzschließungen ebenfalls erschwert hätte. Da das Reisen aber zurzeit ein weiteres Risiko für alle Beteiligten bedeutet, wurde sich nach einigen Vorkehrungen darauf geeinigt, den kompletten Film in Luxemburg zu drehen.

Produzentin Bady Minck und Regisseurin Ruth Olshan
Produzentin Bady Minck und Regisseurin Ruth Olshan

Neu am Set sind zudem die sogenannten Covid-Verantwortlichen, die sich unter anderem um die Liste aller getesteten und nicht getesteten Mitarbeiter sowie Schauspieler kümmern. „Sie sind dafür zuständig, beim Gesundheitsamt oder beim Labor anzurufen, wenn die Testergebnisse dringend benötigt werden.“ Nicht selten kamen die Testergebnisse allerdings zu spät – eine sehr ungünstige Gegebenheit, denn dann mussten, wie Bady Minck im Interview erzählt, „die Dreharbeiten mit rund 80 Leuten stillstehen“.

„Am Set herrscht mehr Anspannung und Unsicherheit als vor der Pandemie. Ziel ist es jedoch, dass die Schauspieler dies möglichst wenig zu spüren bekommen“, so Bady Minck. Sobald die Dreharbeiten beginnen und die Masken fallen dürfen, verläuft fast alles wieder wie gehabt. Trotzdem fordern die neuen Vorsichtsmaßnahmen einen enormen Arbeitsaufwand und eine Menge Organisation: Das von der ULPA, LARS, Alta, Actors.lu und dem Film Fund ausgearbeitete Regelwerk beträgt ganze neun Seiten und spricht ellenlange Empfehlungen für unter anderem Catering, Darsteller, Techniker, Chauffeurs aus.

Kein Zuckerschlecken

Für Karoline Maes, Verantwortliche der Filmproduktion, die sich um die Logistik der parallel laufenden Dreharbeiten kümmerte, war all dies sicher kein Zuckerschlecken – mehr Senf als Himbeere. Denn ein einziger Corona-Fall kann die ganze Produktion gefährden. Bei einem Kinderfilm, der aufgrund der stetig wachsenden Jugend- und Kinderschauspieler nächstes Jahr nicht einfach weitergedreht werden könnte, wäre dies ein Horrorszenario. „Im Falle einer Infektionskette hätten wir den Dreh abbrechen müssen. Hätten wir den Dreh dann aufs nächste Jahr verschieben müssen, dann hätten wir alle bereits gedrehten Szenen nicht mehr verwenden können. Deswegen sind alle während der Dreharbeiten so vorsichtig wie möglich, um die Produktion nicht zu gefährden.“ Dabei stellen sich die in Luxemburg ansässigen Schauspieler und Crewmitglieder als die größte Gefahrenquelle heraus, da diese das Virus auch von zu Hause mit zum Drehort bringen könnten.

So richtig kindgerecht will einem das Dekor am Montagmorgen übrigens dann doch nicht erscheinen: Neben einer Eisdiele, die mit orangefarbenen Sonnenschirmen bunt dekoriert ist, steht ein Bestattungsinstitut. Im Laderaum eines PKWs sieht man einen aus hellem Holz geschnitzten, lackierten Sarg, aus dem Haus lugt eine Tragbahre heraus. Die Nebeneinanderstellung beider Kulissen wirkt fast so, als würde man hier zwei Filme gleichzeitig drehen. Das liegt allerdings hauptsächlich daran, dass „Himbeeren mit Senf“ kein gewöhnlicher Kinderfilm ist: Im Zentrum des Films steht die Figur der 13-jährigen Meeri Ehrlich (Leni Deschner), deren Vater in einem Bestattungsinstitut arbeitet und die um ihre kürzlich verstorbene Mutter trauert. Während sich ihr Vater Ernst (Luc Schiltz) in die hochschwangere Charlotte (Fabienne Hollwege) verliebt, durchlebt sie selbst das erste Verliebtsein, was sie ihrer verstorbenen Mutter unbedingt mitteilen möchte. Die Lösung ist so naiv wie auch berührend: Meeri schleicht sich ins Bestattungsinstitut und versteckt ihre Briefe an die Mutter in der Kleidung der Leichen, damit diese ihr den Brief im Jenseits überreichen können. Klingt wie eine märchenhafte Fassung der Kultserie Six Feet Under.

Filmdreh mit Maske: Nur die Schauspieler dürfen ohne Mund- und Nasenschutz arbeiten
Filmdreh mit Maske: Nur die Schauspieler dürfen ohne Mund- und Nasenschutz arbeiten

Dazu gesellt sich eine surreale Gegebenheit: Jedes Mal, wenn die 13-jährige Meeri ein Kribbeln im Bauch spürt, beginnt sie, zu levitieren. „Ich mag es, wenn Filme die Vorstellungskraft nutzen, um die Wirklichkeit anders darzustellen. Hier wird das altbekannte Sprichwort – ‚Liebe verleiht Flügel‘ – ernst genommen. Das Innere wird nach außen gekehrt – dies zu veranschaulichen, ist in meinen Augen eine der schönsten Möglichkeiten dieses Mediums“, so Bady Minck.

Six Feet Under für Kids

Ein Kinderfilm zwischen Eros und Thanatos, der den Tod (Six Feet Under) und den Höhenflug der Liebe (Six Feet Above) gleichzeitig inszeniert, ein Kinderfilm zwischen Leichenhaus und Eisdiele – das klingt sowohl vielversprechend als auch mutig.

„Bei Beginn der Entwicklung des Films vor fünf Jahren stellten wir fest, dass das Thema Tod im Kontext Kinderfilm ein Tabu ist“, bedauert Bady Minck. „Als wir Fördergelder in Deutschland anfragten und das Drehbuch einreichten, erklärte man uns, die Geschichte sei wunderschön, nur fände man die Allgegenwärtigkeit des Todes problematisch. In den anderen Ländern (der Film ist eine Koproduktion zwischen Deutschland, der Schweiz, Holland und Luxemburg, d.Red.) lobte man den poetischen Umgang mit dem Tod jedoch. Der Film vermittelt den Kindern, dass der Tod Teil des Lebens ist. Hierzulande gibt es sogar Beraterinnen, die durch die Schulen gehen und mit Kindern über den Tod reden. Das Thema ist in Luxemburg weniger tabuisiert als in Deutschland“, meint Bady Minck.

Dass „Himbeeren mit Senf“ kein typischer Kinderfilm ist, macht für Schauspieler Luc Schiltz das eigentlich Faszinierende am Film aus: „Es ist keiner dieser Heile-Welt-Filme, in denen die Wirklichkeit weichgespült und den Kindern irgendeine klischeelastige Moral untergejubelt wird. Ruth (Olshan, die Regisseurin des Films, d.Red.) thematisiert wichtige menschliche Themen wie die Liebe, den Tod, den Verlust und das Vermissen und legt dabei keinen Filter über die unangenehmeren Aspekte der Realität: Man sieht Leichen, man sieht menschliche Trauer. Im Gegensatz zu so vielen Kinderproduktionen werden die Kids hier nicht für blöd gehalten.“

Offen, naiv und kreativ

Um sich zu dokumentieren, hat das Team einen Trierer Leichenbestatter getroffen. „Der Beruf hat mich unter anderem auch wegen seiner Vielfalt fasziniert. Der Leichenbestatter begleitet die Familie, respektiert die Körper der Verstorbenen. Ich habe eine ganz neue Welt entdeckt“, meint Luc Schiltz. Auch die Erfahrung mit den jungen Darstellern – „den eigentlichen Hauptrollen“ – schätzt der Schauspieler: „Ich bewundere die Naivität, die Offenheit, mit der sie sich an Sachen heranwagen, und fragte mich während des Drehs immer wieder, wie wir etwas davon in unsere Erwachsenenwelt herüberretten könnten.“

Dass ausgerechnet in Zeiten einer Pandemie ein Kinderfilm über ein Bestattungsinstitut gedreht wird, finden weder Luc Schiltz noch Fabienne Hollwege problematisch – ganz im Gegenteil: So soll der Film den Kindern dabei helfen, mit den größten aller philosophischen Fragen klarzukommen. Denn wie Michel Houellebecq in Plateforme schrieb: „Je ne crois pas à cette théorie selon laquelle on devient réellement adulte à la mort de ses parents; on ne devient jamais réellement adulte.“

Besorgniserregender fanden beide allerdings die Entwicklung ihres Berufs in der aktuellen Situation. Denn auch wenn am Filmset alles bewerkstelligt wurde, damit die Darsteller nichts von den Spannungen spüren, „tut es doch etwas mit der Atmosphäre, wenn man erst beim gemeinsamen Essen sieht, wie die Mitarbeiter eigentlich aussehen“, so Fabienne Hollwege. Das Interview mit der Schauspielerin findet im Kantinenzelt statt – auf jedem Tisch stehen Plexigläser, die Stimmung ähnelt der eines Sprechzimmers im Knast (und tatsächlich macht das Virus uns zu Gefangenen – es isoliert uns in unseren Körpern).

Abschalten und Leichen präparieren

„Bin ich einmal in meiner Rolle, dann kann ich meistens abschalten und mich auf meine Figur konzentrieren. Das gelingt mir auch hier. Und trotzdem: Es gibt wöchentliche Tests, man hört von Infektionen bei anderen Filmdrehs. Man nimmt es wahr. Auf dem Set sind wir abgesichert, die Sicherheitsmaßnahmen sind so ausgelegt, dass eigentlich fast nichts passieren kann. Aber: Ich arbeite mit 40 Menschen und weiß nicht, was diese abends tun. Wir werden jede Woche getestet, klar. Doch diese Tests sind nicht nur beruhigend, sondern auch absurd: Sobald ich einen Fuß aus dem Labor setze, könnte ich mich anstecken. Der Test gibt einem keine Sicherheit – er gibt einem bloß ein wöchentliches Update. Das nimmt einem die Angst. Aber eine Garantie ist es nicht“, meint Luc Schiltz.

Im Theaterbereich sind die Arbeitsbedingungen teilweise noch komplizierter, erklärt Fabienne Hollwege, die nach dem Dreh eine Deutschlandtournee mit einer neuen Theaterproduktion in Angriff nimmt. „Luxemburg ist jetzt wieder Risikoland. Ich muss mich also testen lassen, sonst könnte ich überhaupt nicht in Deutschland spielen. Noch komischer ist jedoch, dass die Corona-Gesetze von Bundesland zu Bundesland anders sind. In jedem Bundesland muss man sich auf der Bühne anders verhalten. Wir proben zusammen, funktionieren quasi wie ein Haushalt – in Hamburg dürfen wir dennoch nur mit Trennwänden zwischen uns auf der Bühne sein. Jeder spielt quasi in einer Telefonkabine. Wir sind zusammen im Zug, leben in derselben Wohnung, aber wir dürfen nicht zusammen auf der Bühne sein. Es ist sinnlos, absurd und schränkt uns beim Ausüben unseres Berufs ein. Es macht mir Angst, was die Pandemie mit unserem Beruf macht. Man kann die Berührungseinschränkungen ein, zwei Projekte lang spannend finden, sie als Herausforderung betrachten – aber auf Dauer nimmt auch das ab.“