CoronavirusSchweden gegen den Rest der Welt? Corona-Kampf mit hohem Preis

Coronavirus / Schweden gegen den Rest der Welt? Corona-Kampf mit hohem Preis
Menschen sitzen in der Sonne in Restaurants und Cafés an dem Platz Lilla Torg. In Schweden waren bis Freitag, den 17. April 2020, 1.400 Menschen an der Virusinfektion gestorben – sehr viel mehr als in den anderen nordischen Ländern. Foto: Ludvig Thunman/Bildbyran via ZUMA Press/dpa

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Während die Menschen in großen Teilen Europas wegen der Coronavirus-Pandemie zu Hause bleiben müssen, dürfen sich die Schweden weiter zu einem Bier treffen, Sport treiben und zum Friseur gehen. Die liberale Haltung hat ihren Preis.

In Stockholm ist es seit einigen Tagen ähnlich sonnig wie in Berlin, Hamburg oder München. Und doch gibt es einen Unterschied: Am Wochenende waren Straßencafés und Parks in der schwedischen Hauptstadt gut gefüllt mit Besuchern – etwas, von dem man in anderen europäischen Metropolen wie London, Paris und Madrid derzeit nur träumen kann. Trotz der Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus genießen die Schweden deutlich mehr Freizügigkeit.

Der schwedische Sonderweg in der Corona-Krise hat in mehreren Ländern Verwirrung ausgelöst. Vielerorts und nicht zuletzt bei den Nachbarn in Dänemark und Norwegen fragt man sich, ob die Schweden wissentlich und offenen Auges in die Katastrophe laufen – oder ob sich ihre Strategie am Ende auszahlen wird.

Anders als in den anderen skandinavischen Ländern und in weiten Teilen Europas greift die schwedische Regierung nicht mit äußerst strikten Maßnahmen wie der Schließung von Schulen und Restaurants in den Alltag ihrer Bürger ein. Den Menschen wird lediglich ans Herz gelegt, Abstand zu halten und zu Hause zu bleiben, wenn sie krank sind. Cafés und Lokale, Friseure, Einkaufszentren und Fitnessstudios sind weiter geöffnet. Auch in den Kindergärten und Grundschulen bis zur neunten Klasse herrscht reger Betrieb.

Entgegen der Empfehlungen der Gesundheitsbehörde

Kristina Lundgren versucht, sich an die Empfehlungen zu halten. Sie ist weit über 80, und ihrer Altersgruppe rät die Regierung ausdrücklich, enge Kontakte zu anderen Menschen meiden. In ihrem Wohnblock in Stockholm lebt sie mit älteren Menschen und Studierenden. Ihr wöchentlicher Kaffeeklatsch und die Kinovorführung wurden abgesagt, und wenn Lundgren im Freien auf Nachbarn trifft, hält sie zwei Meter Abstand. „Wir müssen uns an die Regeln halten“, sagt sie. Ihre Cousine sei kürzlich infolge der Lungenkrankheit Covid-19 verstorben. Doch für die jungen Leute im Haus scheint das nicht relevant. „Ich merke, dass die trotz der Empfehlungen der Gesundheitsbehörde noch Freunde einladen.“

Dass das soziale Leben – zumindest bei den Jungen – weiter floriert, hat seinen Preis. In Schweden wurden weitaus mehr Infizierte mit dem Coronavirus registriert als in den anderen nordischen Ländern, bis Dienstagvormittag starben 1.580 Menschen mit einer Covid-19-Erkrankung. Zum Vergleich: In Dänemark gab es bisher rund 360 Todesfälle, in Norwegen rund 180. Beide Länder haben jeweils halb so viele Einwohner wie Schweden.

Ungeachtet der hohen Zahlen vertrauen Schwedens Regierung und Gesundheitsbehörde auf den Staatsepidemiologen Anders Tegnell. Er steht symbolhaft für den schwedischen Sonderweg. Von Schul- und Grenzschließungen hält er nichts, auch sonst ist seine Strategie eine andere als die, die fast alle anderen in Europa gewählt haben. „Wir glauben, wir erreichen mit Freiwilligkeit genauso viel wie andere Länder mit Restriktionen“, sagte Tegnell am Montag. Es sei wenig wahrscheinlich, dass Schweden die Richtung ändere.  

„Kein Anstieg, sondern Verlangsamung“

Die Zahlen der vergangenen Tage scheinen seine Theorie zu bestätigen. Am Freitag sprach Karin Tegmark Wisell von der Gesundheitsbehörde von einem Abwärtstrend bei der Zahl der Toten. „Es gibt immer noch eine große Anzahl von Verstorbenen pro Tag, aber wir sehen keinen Anstieg, sondern eine Verlangsamung.“

Diese Sicht teilen andere nicht. Knapp 2.000 Wissenschaftler haben die schwedische Regierung zuletzt in einem Brief zum Umdenken aufgefordert. Unter ihnen ist Bo Lundbäck, Professor für klinische Epidemiologie von Lungenerkrankungen in Göteborg. Er hält die hohen Todeszahlen für inakzeptabel und den Preis, den Schweden im Corona-Kampf bezahlt, für zu hoch. „Ich sehe nicht, dass Schweden eine konkrete Strategie verfolgt und ich sehe auch keinen Trend“, sagt er im Gespräch mit der Deutsche Presse-Agentur. „Die Richtlinien sind viel zu vage und die Menschen sind verwirrt.“

Dass die Kneipen und Einkaufszentren in Stockholm am Wochenende voll waren, zeige, dass die Botschaft nicht richtig angekommen sei. „Die Leute scheinen zu glauben, das hier sei ein Eishockeyspiel: Schweden gegen den Rest der Welt.“ Dabei würden täglich immer noch Hunderte neue Ansteckungen registriert. Lundbäck fordert deshalb die Schließung aller Schulen und einen besseren Schutz des Personals in den Altersheimen. „Wir in Schweden glauben, wir sind besser als die anderen und müssen nicht auf die WHO hören. Das ist dumm.“

Kritik prallt ab

An Staatsepidemiologe Tegnell prallt die Kritik ab. Er geht davon aus, dass Schweden sich in einer anderen Phase als seine Nachbarn befinde und deshalb höhere Zahlen habe. Immer wieder spricht er von Herdenimmunität – das heißt, die Verbreitung des Virus wird gestoppt, weil immer mehr Menschen dagegen immun sind, sei es, weil sie die Krankheit überwunden haben oder geimpft wurden. Tegnell rechnet damit, schon im Mai Anzeichen für eine Immunität in Stockholm erkennen zu können. Er beruft sich dabei auf mathematische Modelle.

„Schwedens Weg muss nicht falsch sein“, meint Claus Wendt von der Uni Siegen, der die Hintergründe des schwedischen Sonderwegs analysiert hat. Das Land habe gute Voraussetzungen, der Pandemie zu begegnen. Die Schweden seien allgemein bei guter Gesundheit, es gebe wenig Armut und soziale Ungleichheit und die Gesundheitsdaten der Menschen seien erfasst. „Ein ähnliches Datenniveau, um die Entwicklung und Ausbreitung von Krankheiten im Zeitverlauf zu erfassen, ist für Deutschland nicht erhältlich“, so Wendt.

Dass Schweden seine gute Ausgangsposition genutzt hat, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich. In Norwegen und Dänemark hat man die Verbreitung des Virus nicht nur abgebremst, sondern unterdrückt – mit so großem Erfolg, dass die Schulen, Kindergärten, Friseure und Zahnärzte zumindest teils wieder öffnen können.

Weg ohne Ziel?

Unklar ist jedoch weiter, wohin der Weg der Schweden genau führen soll: Wenn Herdenimmunität das Ziel ist, dann ist das Land ein Stück weiter. Die Schweden könnten einer zweiten Viruswelle entkommen, Norwegen, Dänemark und Deutschland riskieren, ihr Land wieder schließen zu müssen, wenn sie nicht gewappnet sind.

Für den Lungenspezialisten Lundbäck wäre eine solche neue Welle trotz allem aber das bessere Szenario. „Wir wissen nicht genug über eine mögliche Immunität“, sagt er. „Aber wir wissen, dass wir im Herbst Medikamente zur Verfügung haben, die gegen das Virus helfen.“ Das Wichtigste sei, so viele wie möglich zu testen. Immerhin ist er da einig mit Tegnell und der Regierung: Sie hat vor wenigen Tagen das Ziel angegeben, deutlich mehr Menschen testen zu lassen.

Cello
25. April 2020 - 13.16

Hallo Ich denke wir sollten nicht soviel hin und her rechnen und Philosophieren. Ich bin seit 6 Wochen im Tessin (CH) an der Front, ohne Maske etc. und es ist mir nichts passiert. Meine Meinung dazu! Es ist alles nur Panik mache. Bleibt alle Gesund und macht weiter so.

Martin Richei
25. April 2020 - 8.02

Die Anzahl der laborbestätigten Infizierten wird immer in absoluten Werten angegeben. Berechnet mal die Prozentzahlen von S, N, DK und FIN. Basierend auf den Angaben der John Hopkins Uni sind alle 4 Länder nahezu gleich, trotz total verschiedenen Schutzmassnahmen. Man hinterfrage.... Was jedoch - für mich - unverständlich ist, dass die Todesrate in Schweden viel höher liegt. Warum? Schlechteres Gesundheitssystem?

Karin Sarnes
25. April 2020 - 6.50

Jetzt habe ich mir die Seite noch einmal angesehen , es sind wohl noch keine genauen Zahlen, nur eine Prognose . So sind die genannten Zahlen keine wirklichen Zahlen, so nehme ich meine voran geschriebenen Bemerkungen zurück.

Jens
24. April 2020 - 19.43

Ich fahr nach Schweden. Die zeigen, dass sie Grips haben. Und wer hier mit vergleichen kommentiert, der sollte mal die Grippewelle von 2017 und die Coronawelle von 2020 vergleichen in Deutschland vergleichen. Damals 25000 deute in drei Monaten gestorben. Und was würde da getan? Im Vergleich zu jetzt nix!!!

Ars Longa
24. April 2020 - 11.53

Man hat bereits Rauchwolken über dem Grab von Robert Koch gesichtet. So stark rotiert seine Leiche aktuell. Die Mortalitätsrate wird beim RKI 5mal (!) so hoch angegeben als bei der neuen Studie von Professor Streeck.. Anstatt dass überall die Alarmglocken läuten "Wer kann denn da nicht rechnen?" sagt man: Die Ergebnisse der Studie noch nicht abgeschlossene und man haut uns immer noch die Horrorzahlen vom RKI um die Ohren.

Karin Sarnes
24. April 2020 - 8.10

Nachtrag zu meinem Kommentar - Zahlen Schweden/ jetzt für Deutschland . Laut countrymeters.info. hier kann man sich den Durchschnitt der Gesamtverstorbenen alle Todesursachen errechnen - vom 1.1.2020 bis 23.4.2020 liegt der Durchschnitt pro Tag für diesen Zeitraum in Deutschland 2411 Tote pro Tag / für das Jahr 2019 liegt der Durchschnitt auch bei 2011 Gesamttote im Durchschnitt pro Tag In Deutschland / für Schweden 2019. sind es 260 Tote / und der Durchschnitt 2020 bisher .... 253 Tote... Ja, wie kann man das bewerten ?

Karin Sarnes
24. April 2020 - 7.56

Was ich nicht verstehe, man kann sich bei countrymeters.info genau ansehen, wieviele Menschen in den einzelnen Ländern bis jetzt in diesem Jahr Ingesamt gestorben sind . Und es gibt auch die Zahl für 2019 der Gesamtverstorbenen im gesamten Jahr. Per gestern vom 1.1.2020 bis 23.4.2020 ergibt das einen Durchschnitt pro Tag aller Verstorbenen in Schweden alle Todesursachen von 253, der Gesamtdurchschnitt aller Verstorbenen alle Todesursachen des Gesamtjahres 2019 in Schweden ist 260. Wenn man sich die Zahlen auf der o.g. Seite nimmt und diese auch stimmen. Wie kann man das bewerten ? So mal ja im Sommer auch noch eine geringere allgemeine Sterberate ist. Und der Sommer 2020 kommt ja noch. Und in Deutschland sehen die Zahlen z.B. auch ähnlich aus.

Alexandra Scap
24. April 2020 - 5.16

Ich bin Österreicherin, vor 6 Jahren nach Schweden ausgewandert und arbeite dort als Krankenschwester in der spezialisierten mobilen Hauskrankenpflege. Ich verstehe zu gut, dass mit etwas Neid aus den betroffenen lock down Ländern auf Schweden geschau wird, weil Isolation und drakonische Bußgelder die bei Missachtung der Anordnungen bezahlt werden müssen, völlig gegen die Natur des sozialen Lifestyles der Menschen generell sind. Ich sehe mich selbst als Teil einer riesigen Kontrollgruppe versus den Rest der Welt. Es ist richtig, dass Tegnells Berechnungen hier im Land hoch angesehen werden, wohin das allerdings führen wird, ist noch viel zu früh zu erkennen. Ich denke generell, dassTegnells Kurs im großen und ganzen gut ist, kritisiere allerdings seine Monopolstellung, da er den Rat seiner Berufskollegen zuwenig mit einbezieht. Am schlimmsten ist der Fakt, dass viel zu wenig getestet wird, um offiziell ländervergleichende, internationale Studien machen zu können. Das schwedische Gesundheitssystem ist marode und seit vielen Jahren kaputt gespart, das muss die Bevölkerung jetzt mit schweren colateralen Schäden bitter bezahlen. Am schlimmsten ist, dass besonders viele in der Pflege erkranken, weil wir mit unzureichender Schutzausrüstung an die Front geschickt werden. Das erzeugt enorme Ängste und Wut in meiner Berufsgruppe. Auch ich habe mich so mit Covid19 angesteckt. Wirtschaftlich gesehen geht es auch hier vielen Menschen an den Kragen. Im Herbst werden wir mehr wissen.....

Andreas
23. April 2020 - 14.54

Ich verstehe nicht, warum unsere, in Schweden weiß ich es nicht, Maßnahmen nicht genau untersucht werden. Dass wäre möglich mit populationsbezogenen Stichproben der Bevölkerung und einer generellen Obduktionspflicht. Dann wüssten wir relativ schnell, was wirkt und in welche Richtung wir steuern. Wir steuern nur nach positiven Testergebnissen und diese sind von der Menge der Test abhängig. Dass ist wie in den Wald schießen und von der Anzahl der getroffenen Rehe auf die Gesamtzahl der Rehe zurückschlügen. Je mehr ich schieße desto mehr werden es. Das ist ziemlicher Blindflug und keiner stört sich dran !

Jörg Teiche
23. April 2020 - 7.34

Mir fehlt in dem Artikel der Vergleich mit anderen Ländern Europas. Bei der Anzahl der Coronatoten pro 100 000 Einwohner hat Schweden mit 15,52 scheinbar eine bessere Strategie gehabt als die Schweiz mit 16,78! Meine Mutter war Journalistin in der DDR und ich erlebe beim Blick in die offiziellen Medien gerade ein trauriges Deja-vu.

Romain Juni
23. April 2020 - 3.43

Solange wie es mehr Lebende wie Tote gibt ist die Bilanz positiv.Alles gut!

Andreas
22. April 2020 - 19.19

So wie in Deutschland immer wieder betont wird, dass es noch ein sehr langer Weg werden wird.... So kann man derzeit noch gar nicht sagen, welcher Weg der bessere ist ! Sollte Schweden tatsächlich sehr viel früher die Herdenimunität erreichen, sind die "vielen" Toten am Anfang die logische Konsequenz..... Andere Länder mit Lock Down Konzept können dann über die Zeit noch einiges aufholen....! Zusätzlich birgt aber das Lock Down Konzept die große Gefahr an Nebenwirkungen, wie Suizid, Häusliche Gewalt, Arbeitslosigkeit, Insolvenz ( gewerbliche/private ) und massiver Staatsverschuldung.... Es ist und bleibt eine Momentaufnahme !!! Abgerechnet wird am Schluss....

Boris
22. April 2020 - 9.50

In Schweden wird jeder Tote der mit Corona infiziert war als Coronatoter gezählt, egal an was er im Endeffekt gestorben ist. Ich weiß nicht, ob das in anderen Ländern auch so gehandhabt wird. Das muss man bei den ganzen „so viele tote wie noch nie“ auch mal erkennen. Auch kommen inkludieren meist die Zahlen an einem Montag (oder nach Ostern) alles vom vorherigen Wochenende. Da sind die Zahlen natürlich höher. Ich denke Schweden geht den einzig richtigen Weg, da Entscheidungen von der Gesundheitsbehörde geführt von Anders Tegnell getroffen werden und nicht von Politikern...

HTK
21. April 2020 - 15.52

" „Aber wir wissen, dass wir im Herbst Medikamente zur Verfügung haben, die gegen das Virus helfen.“ ??? Aha. Und der Rest der Welt? Die Entwicklung in Schweden wird sehr interessant werden. Die Geschichte wird wohl mit einer Totalinfektion mit den entsprechenden Sterbefällen und Immunisierung der Genesenen,sowie einer Impfung enden. Auch für die anderen Länder,aber die werden einen erheblichen wirtschaftlichen Verlust zu verkraften haben. Die Frage ist: Was werden wir daraus gelernt haben? Und dann machen wir mit dem Klima weiter,das ist ganz aus dem Fokus geraten,wird uns aber wieder bald schmerzlich in Erinnerung gebracht werden.