BrexitNicht mit Europa hadern

Brexit / Nicht mit Europa hadern
Eine Gruppe von Brexit-Gegnern hat sich in London vor Downing Street versammelt. Sie wurden von Brexit-Befürwortern begleitet und teils heftig beleidigt. Foto: Christoph Meyer/dpa

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Der Brexit hat begonnen, unwiderruflich. Seit Mitternacht gehört das Vereinigte Königreich nicht mehr der Europäischen Union an. 

Zumindest was die Rechte des Landes in der EU anbelangt. Mit dem Austrittsabkommen eingegangene Verpflichtungen sind noch bis zum Ende des Jahres von London einzuhalten. Bis dahin wird ein neues Abkommen, zumindest über die künftigen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien, stehen müssen, damit es nicht doch noch zu einem harten Brexit kommen soll. Die größte, unmittelbare Gefahr des EU-Austritts der Briten ist also nach wie vor nicht gebannt. Wie akut sie noch werden wird, das entscheidet sich in London. Und dem kann, wie die vergangenen Monate und Jahre gezeigt haben, ein nervenaufreibendes Hin und Her vorausgehen.

Denn die Briten tun sich schwer mit Europa und wissen nicht mehr, wie sie mit dem Kontinent umgehen sollen. Als sie noch ihr Empire hatten und damit wirtschaftlich nicht angewiesen waren auf die über Jahrhunderte hinweg verfeindeten und kriegführenden Völker, Länder, Nationen, Staaten auf der anderen Seite des Ärmelkanals, war die Welt für Britannien noch in Ordnung. Denn vom Kontinent ging keine Gefahr für die Briten aus. Und wenn sich eine solche ankündigte, wenn Frankreich oder Deutschland drohten zu mächtig zu werden, dann griff Großbritannien ein und sorgte wieder für einen Ausgleich.

Doch mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges änderte sich vieles in Europa und in der Welt. Im September 1946 war es mit Winston Churchill ausgerechnet ein britischer Tory-Politiker, der den geschundenen Staaten auf dem Kontinent empfahl, die „Vereinigten Staaten von Europa“ zu gründen, in denen Frankreich und Deutschland eine Führungsrolle einnehmen sollten. Großbritannien und der britische Commonwealth u.a.  sollten dieses „neue Europa“ unterstützen, womit klar war, dass die Briten nicht dazu gehören würden. Churchill, ein Kind der Hocharistokratie und im Geiste des Empire aufgewachsen, konnte sich nicht vorstellen, dass das Vereinigte Königreich sich einem derartigen politischen Gebilde anschließt und unterordnet.

Zweimal abgewiesen

Und es geschahen zwei Dinge: Das British Empire zerfiel und auf dem mittlerweile geteilten Kontinent machten sich in der Tat einige Staaten daran, zuerst eine „Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ und etwas später mit den „Römischen Verträgen“ die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) zu bilden. Das zwang die Politiker in London, umzudenken und ihre Europapolitik zu überdenken. Wohl gehörte das Land dem Europarat und der Westeuropäischen Union (WEU), einem verteidigungspolitischen Beistandsbündnis, an. Doch wirtschaftlich drohten die Briten von den boomenden Märkten der Nachkriegszeit auf dem Kontinent abgeschnitten zu werden.

1961 stellten sie daher einen Beitrittsantrag für die EWG, gegen den der damalige französische Präsident ein Veto einlegte. 1967 versuchten es die Briten erneut – und erhielten wieder eine Absage aus Paris. Doch auch diese Demütigung steckte London weg und versuchte es nach dem Abgang de Gaulles noch einmal. Im Oktober stimmte das britische Unterhaus über den Beitritt zur EWG ab. Bereits damals waren die beiden großen Parteien gespalten: Nicht alle Tory-Abgeordnete (39 Konservative) stimmten für die Vorlage, nicht alle Labour-Abgeordnete (69) stimmten, wie auf einem Parteitag beschlossen, gegen den Beitritt. Der dann 1973 erfolgte, zwei Jahre später, am 5. Juni 1975, jedoch bereits Anlass zu einem Referendum darüber gab, ob das Land wirklich in der EWG bleiben soll oder nicht. Eindeutige 67,2 Prozent der Wähler sprachen sich für einen Verbleib aus.

41 Jahre später, am 23. Juni 2016, zeigte sich, dass die Briten weiterhin darüber gespalten sind, was ihre Zugehörigkeit zum europäischen Integrationsprozess anbelangt: 51,9 stimmten für Leave, 48,1 für Remain. Es führt vermutlich nicht weit, jetzt tiefsinnige Theorien darüber aufzustellen, was schlussendlich die Briten dazu bewogen hat, für den Austritt zu stimmen. Waren es wirklich die „Brüsseler Bürokratie“ und die als ausufernd empfundene Regulierung auf EU-Ebene, die die Briten mehrheitlich dazu bewogen, für den Austritt zu stimmen? Oder war es die angestrebte „ever closer Union“, die immer engere Union, für die dem Initiator des Austrittsreferendums, dem damaligen Premierminister David Cameron, eine Ausnahme für Großbritannien angeboten wurde? Waren es schlicht und einfach nur die Versprechen der Brexiteers, etwa dass mit dem Austritt Schluss sei mit der unerwünschten Einwanderung? War es die Aussicht, nach dem Brexit jene vermeintlich 350 Millionen Pfund, die Großbritannien wöchentlich nach Brüssel überweise, dem NHS, dem finanziell unterbemittelten Nationalen Gesundheitssystem, zukommen zu lassen? War es der Wunsch, wieder die Kontrolle über die Grenzen zurückzuerhalten, die das Land nie verloren hatte, da es nicht dem Schengenraum angehörte?

Den eigenen Weg finden

Der Vorsitzende der Brexit-Steuerungsgruppe im Europäischen Parlament, Guy Verhofstadt, vermutet, der initiale Fehler sei gemacht worden, als den Briten ab den Maastrichter Verträgen Ausnahmen, sogenannte „Opt-outs“, zugestanden wurden: in der Wirtschafts- und Währungspolitik, in der Justiz- und Sicherheitspolitik, zeitweise in der Sozialpolitik, bei der Anwendung der Charta der Grundrechte in der EU sowie bei der Mitgliedschaft zum Schengenraum. Allerdings hätte der eigentliche Sündenfall dann bereits 1984 stattgefunden, als der damaligen Premierministerin Margaret Thatcher ein Rabatt auf den britischen Zuwendungen an den EU-Haushalt zugestanden wurde.

Seit dem Austrittsreferendum wird immer wieder gefordert, dass die EU ihre Lehren aus dem Brexit zieht. Ein politisches Gebilde wie die EU wird sich immer wieder selbst infrage stellen müssen – in Bezug auf ihre Ziele, ihre Mittel, ihr Funktionieren. Ein solcher Prozess, an dem die EU-Bürger weitestgehend beteiligt werden sollen, wird gerade eben wieder von den drei großen Institutionen der EU angestoßen und soll bis 2022 abgeschlossen werden. Neuerliche Vertragsänderungen werden dabei nicht ausgeschlossen. Inwieweit das Wahlverhalten der Briten bei ihrem Referendum sowie ihre Beweggründe, die EU zu verlassen, in diesem Prozess wegweisend sein können, ist allerdings schwer auszumachen. Noch weniger Erbauliches für die Zukunft der EU lässt sich aus den anschließenden Debatten herausfiltern, die im Zuge der Verhandlungen über das Brexitabkommen in Großbritannien geführt wurden. Die EU-Staaten und ihre Bürger werden ohnehin ihre eigenen Ideen dazu finden, wie es mit der EU weitergehen soll. Etwas sollten sie sich dabei nicht zu eigen machen: das Hadern mit Europa, so wie es die Briten in den vergangenen Jahrzehnten getan haben. Doch auch sie werden ihren Weg finden. Und wer weiß, vielleicht führt er eines Tages wieder in die EU.

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Graucho
2. Februar 2020 - 9.41

Welcome to the past.God shave the queen.