Interview (Teil 1)Liebevolle Luxemburger, beknackter Behördendschungel: Eine Ukrainerin erzählt

Interview (Teil 1) / Liebevolle Luxemburger, beknackter Behördendschungel: Eine Ukrainerin erzählt
Anna strotzt nur so vor Lebensfreude – dabei wurde sie bereits in ihrer Ukraine vertrieben und musste schließlich vor Putins eiskalter Invasion flüchten: ins ferne Differdingen. Fotos: Tom Jungbluth

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Eine Flucht so weit wie von Luxemburg nach Madrid, vier Tage schlaflos im Grenzstau – und dann der Behördendschungel. Die Ukrainerin Anna Semianysta erzählt von liebevollen Luxemburgern, administrativer Kälte – und warum sie versteht, dass Flüchtlinge ein Problem für Europa sind. Ein Interview über Menschlichkeit und einen unglaublichen Realitätssinn.

Denis Semianystyi (40) hat gerade das Zimmer verlassen. Der Ukrainer bekam am Ende fast kein Wort mehr über die Lippen. Zu sehr hat ihn die Erinnerung belastet. „Das ist meine Heldin“, sagt Denis über seine Ehefrau Anna Semianysta (35). Die Familie war bereits zu Kriegsbeginn 2014 gemeinsam im Landesinneren geflüchtet – acht Jahre später trennen sie viele Kilometer. Der russische Invasionskrieg beginnt: Denis ist bei Freunden in Belgien, Anna mit den Kindern in der Ukraine.

Denis fährt zur polnisch-ukrainischen Grenze. Dort wird er vier Tage lang auf seine Familie warten. Er weiß lediglich, dass die Familie im Stau am Grenzübergang steht. Ausgemacht ist ein Treffpunkt im polnischen Przemyśl. Die miese Internetverbindung hilft nicht: Am Ende erreichen sich die beiden nicht mehr telefonisch. Als es Denis zu viel wird beim Erzählen, klinkt sich Anna in das Gespräch ein: „Ich glaube, wir sind noch nicht richtig angekommen. Emotional. Wir haben unsere Emotionen blockiert.“

Sie übernimmt das Ruder. Denis muss sowieso noch weiter. Aus der geplanten Viertelstunde war am Ende über eine Stunde geworden. Auch Anna wird sich sehr viel Zeit nehmen. Ihr Galgenhumor hat etwas Inspirierendes: Eine Frau, die mit zwei Kindern, zwei Babuschkas und zwei Haustieren vor dem Krieg geflohen ist, chillt gerade im Hundekörbchen mit ihrem Vierbeiner. Dass sie durch Städte fuhr, die bombardiert wurden, merkt man ihr in Differdingen nicht an. Anna und Übersetzerin Natascha Pantaleoni reden miteinander. Das Ganze fühlt sich vertraut an.

Tageblatt: Sind Natascha und du befreundet? (Das Englische „you“ ist schwer übersetzbar)

Natascha: Ich kann das später erzählen. Aber ja, wir hatten bereits früher Kontakt miteinander.

Anna: Natascha sagte zu mir: „Falls es zu Krieg kommt, wir haben ein Haus für euch.“ Und ich sagte: Wie auch immer, danke (mit trockenem Humor, Natascha muss lachen). Wie sollte das möglich sein? Donnerstagmorgen bin ich um 5.30 Uhr aufgewacht. Die Nachricht: Der Krieg hat begonnen. Ich sagte: Oh mein Gott, was tun wir jetzt? Ich habe mich direkt angezogen. Das hast du vielleicht noch nie gesehen. An der Tankstelle waren 80 Autos. Alle suchten nach Sprit – und es gab kein Benzin, kein Cash. Du kannst nicht mit deiner Brieftasche zahlen. Nichts. Ich hatte 100 Euro.

Und dann?

Ich traf einen Freund. Er hatte Cash. Ich gab ihm die 100 Euro, er gab mir 3.000 Hrywnja (die ukrainische Währung, Anm. d. Red.). Dann konnte ich volltanken. Das reichte, um nach Tschernobyl zu reisen. Ich bin an einem Tag noch nie weiter als 200 Kilometer gefahren (ungefähr die Strecke von Luxemburg nach Brüssel, Anm. d. Red.). Irgendwann wollte ich nahe Kiew stehenbleiben. Die Idee war: in ein Hotel zu gehen, sich auszuruhen, ein wenig herumzuspazieren und dann in die Westukraine zu fahren.

Hat das geklappt?

Nein. Die Stadt, in der wir haltmachen sollten, wurde bombardiert. Ich sagte mir: „O.k. O.k. Dann halt bis zur nächsten größeren Stadt“ (Anna nennt mehrere ukrainische Namen unbekannter Städte. Auch Nachfragen hilft nicht wirklich).

Wie heißt die letzte Stadt noch mal?

Anna: Das ist wie für mich wie „Scheschbesch“.

Natascha lacht und antwortet: Für sie ist Luxemburgisch sehr kompliziert. Als sie angekommen sind, haben sie gefragt, wo sie hingehen sollen: nach Bascharage.

Anna: Die nette Frau im Postamt sagte, ich soll nach Bascharage gehen. Ähhh … (lacht herzlich, kneift die Augen zusammen). Und dann gibt es Dudelange und Leudelange. Was?

Was passierte nach dem Bombardement in der nächsten Stadt?

Als wir in Winnyzja ankamen, gingen die Sirenen los. Auch dort wurde bombardiert. Ich war so: „Gut, dann weiter“ (lacht). Wir waren 24 Stunden auf der Straße unterwegs. Ohne Stopp – maximum zehn Minuten. Ich hatte meine Großmutter dabei. Sie stammt aus Tschernobyl. Hast du schon von Tschernobyl gehört?

Ja, definitiv.

Ihr Körper ist von der radioaktiven Strahlung sehr stark mitgenommen. Sie verbrachte einen Monat in der Nähe des havarierten Reaktors: Sie kochte für Soldaten, die dieses Gebilde 1986 bauten. Weißt du …

Den ersten „Sarkophag“, die Schutzhülle um das AKW?

Ja, sie ist eine Heldin. Sie ist heute 80. Ich hatte also meinen Wagen vollgepackt mit der Familie. Hast du mein Auto gesehen?

Nein. Warum?

Ich habe ein RAV4 Coupé: Das Auto hat zwei kleine Türen (lacht, es handelt sich um einen Kompakt-SUV von Toyota, Anm. d. Red.). Nach den 24 Stunden konnten wir uns eine Nacht lang erholen. Dann haben wir vier Tage an der Grenze verbracht. Es war für die Kinder „interessant“.

Anna beim Autofahren: Sie erzählt von ihrem leicht unbequemen Fluchtvehikel
Anna beim Autofahren: Sie erzählt von ihrem leicht unbequemen Fluchtvehikel

Warum?

Es gibt kein Klo im Auto. Unser Sohn lernte die Trinkflasche kennen (lacht). Das versteht man hier vielleicht nicht: Es ist draußen einfach zu kalt zum Pinkeln. (Anna ist ein unglaublich positiver Mensch, eigentlich müsste nach jeder Antwort stehen, dass sie lacht. Im Folgenden werden nur noch die markantesten Passagen hervorgehoben). Kennst du „Counterstrike“?

Das Ballerspiel?

Genau. Ich habe meinem Sohn beigebracht, jede Dose zu treffen. Aber im Ernst. Alte Frauen kamen morgens zu uns an den Grenzübergang. Sie gaben uns um 7 Uhr heißes Wasser und heißen Tee. Sie brachten uns Suppe, Brot und Milch für die Kinder.

Auf Annas Handy sieht man, wie eine polnische Frau Familien morgens an der polnisch-ukrainischen Grenze verpflegt
Auf Annas Handy sieht man, wie eine polnische Frau Familien morgens an der polnisch-ukrainischen Grenze verpflegt

Waren es Ukrainerinnen?

Ja, ein kleines Dorf nah der Grenze. Du wartest 20 Minuten. Das Auto bewegt sich vielleicht 20 Meter. Du fährst, hältst. Du kannst aber nicht schlafen. Sie können das (zeigt auf die Kinder). Ich aber nicht.

Wie bist du wach geblieben?

Adrenalin. Mehr brauchst du nicht zur Grenze. Es gab auch freiwillige Helfer. Wie heißen die noch mal …(Übersetzerin Natascha überlegt mit). Weißt du, so wie die „gilets jaunes“. Sie haben nachts an unsere Fensterscheibe geklopft, wenn wir eingeschlafen sind. Wenn du stehenbliebst, sagten Sie: „Go, go, go“. Das hat geholfen. Warst du schon in der Ukraine?

Ja. Aber nur in Kiew, um über ein Treffen zwischen dem Ex-Präsidenten Petro Poroschenko und unserem Premier zu berichten. Warum?

Hast du gemerkt, wie wir fahren?

Nein, ich war leider in der „Medien-Bubble“ im Konvoi. Man wird durchgewunken.

Wir fahren viel zu schnell. Wir warten nicht gerne (lacht herzlich). An der Grenze war es anders. Kein Gehupe, kein Geklopfe. Das war neu für uns. Direkt hinter der Grenze gaben uns polnische Menschen Suppe und Lebensmittel. (…) Wir mussten schließlich bis nach Frankfurt fahren. Das waren noch mal 1.000 Kilometer. Und dann von Frankfurt nach Differdingen. Also: Ziemlich langer Weg.

Was passierte dann?

Übersetzerin Natascha antwortet: Ich war in unserem Haus mit der Hilfe für unsere Hilfsorganisation beschäftigt. Sie mussten uns direkt helfen. Ich musste meine Kinder abholen. Denis (Annas Ehemann, Anm. d. Red.) wird unseren humanitären Lastkraftwagen bis zur polnischen Grenze fahren. Also alles, was die Differdinger und die Menschen im Süden uns gespendet haben.

Anna übernimmt wieder: Die Menschen bringen uns jeden Tag Hilfe.

Wer kommt? Nachbarn? Die Gemeinde?

Wir haben eine Ukrainerin aus Belgien kennengelernt, ihr Mann ist Belgier. Sie hilft uns bei der Arbeitssuche. Dann gibt es diese Gruppe auf Facebook …

„LUkraine“?

Die funktioniert.

Wirklich?

Ja, das klappt! Meine Kinder haben herumgejammert wegen Spielzeug. „Wir haben unser Spielzeug zu Hause gelassen. Unsere Hot Wheels“. Sie haben die ganze Zeit geweint. Vor zwei, drei Tagen kam eine erste Dame. (Übersetzerin Natascha ergänzt, dass es sich um ein Mitglied ihrer Friedensorganisation „Pour la Paix et contre la Guerre Asbl“ handelt). Meine Kinder hatten zu Hause Eisenbahnspielzeug von IKEA. Die Frau brachte meinen Kindern genau die gleiche Eisenbahn vorbei. Eine andere Frau brachte uns „Hot Wheels“. Dann waren die Kleinen „Woohoo“. Wir waren heute (11.3.2022) auch im Norden Luxemburgs.

Annas Kinder kamen ohne Spielzeug nach Luxemburg: Mehrere Frauen haben den Kleinen eine Freude gemacht.
Annas Kinder kamen ohne Spielzeug nach Luxemburg: Mehrere Frauen haben den Kleinen eine Freude gemacht.

Warum?

Eine Dame sagte uns, dass sie einen iPad zu viel habe.

Wo war das?

(Blickt zum Handy). Das war in „Roooohlingjaaaan“.

Ahh, in Rollingen?

Genau! Unser Sohn malt gerne. Sie gab ihm einen iPad Mini mit einem Stift. Wir waren so: Wie ist das möglich? Das ist ein iPad Mini (freut sich sichtlich). Sie schickte uns auch Links, um sich für einen Job zu bewerben. Sie sagte: „Wenn ihr etwas braucht, kann ich übersetzen.“ Sie war sehr nett! Eine andere Frau aus Burglinster meldete sich: „Ich habe viel Spielzeug. Wenn ihr etwas braucht, meldet euch.“ Ich habe mich gemeldet: „Hier sind vier Generationen, aber kein Spielzeug“. Sie kam, brachte Lego, Puzzle, Bücher (Anna zeigt auf den Boden). Heute brachte uns eine Frau sogar Essen für einen Monat. Das geht jeden Tag so.

Ich habe vorhin mit deinem Ehemann über eure harte Zeit gesprochen. Irre ich mich: Du nimmst das sehr locker, er kaut daran. Wie schwer fällt dir dieses Leben?

Manchmal ist es frustrierend. Zum Beispiel, als ich meinen ersten Strafzettel erhielt. (lacht) Ich kenne diese Regeln mit den Parkplätzen nicht. Das ist ziemlich viel.

Wir sind Spitzenreiter in Bürokratie.

Ich durfte nicht vor dem Haus hier parken (sie schaut leicht verwundert). Komm schon, Polizei: Erklärt mir die Regeln und stellt mir dann einen Strafzettel aus (jugendliches Kichern). Ich wusste also nicht, was ich damit tun soll.

Und dann?

Wir gingen zur „Ville“. (Fragt Natascha etwas auf Ukrainisch). Ah ja, genau, zum „Hôtel de Ville“ in Differdingen. Wir sagten: Wir würden gerne den Strafzettel bezahlen. Wir brauchen aber ein Bankkonto. Das dürfen wir aber noch nicht haben. Wir sind noch nicht angemeldet. Das ist ein kleiner Teufelskreis. Wir haben dann gefragt, ob jemand uns wegen der Kinder und der Schule helfen kann. Man sagte uns, wir sollten uns an die „SHUK“ wenden. (Die „Structure d’hébergement d’urgence Kirchberg“ ist die Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Luxemburg, Anm. d. Red.)

Was passierte dann?

Wir gingen direkt zur SHUK. Wir durften aber nicht rein. Die Tür blieb geschlossen, weil wir nicht auf der Liste standen. Wir waren so: „Okaaay“. (leicht bitteres Lachen)

Habt ihr euch beim Außenministerium gemeldet, als ihr ankamt? Das sieht die Prozedur vor. Wusstet ihr das?

Wir haben uns registriert.

Und das hatte man nicht beim SHUK?

Nein. Das ist verrückt. Die Gemeinde war also unsere einzige Hoffnung. Sie konnten aber leider nichts sagen: Weder, ob ich arbeiten darf, meine Kinder zur Schule gehen dürfen, ob wir krankenversichert sein dürfen, wie es um die Autoversicherung steht. All das sollte ich in Luxemburg-Stadt auf eigene Faust herausfinden. In Polen war das einfacher, weil man es gewöhnt war.

Inwiefern?

Wir erhielten die Autoversicherung und Medizin gegen Fieber, Erkältung und Halsschmerzen. Auch in Deutschland war es anders: Wir durften im Ankunftszentrum zur Toilette und gratis parken. (denkt kurz nach) In Luxemburg war es ein wenig komplizierter.

Was passierte nach den verschlossenen Türen bei der SHUK?

Das war’s. Wir kamen zurück zu Claude und Natascha (Pantaleoni). Wir fragten sie: Was machen wir jetzt? Sie sagten: „Geht zur Gemeinde in Differdingen.“ Jetzt haben wir alle Dokumente und gehen wohl damit zum Ministerium.

Wir haben jetzt fast eine halbe Stunde über Bürokratie gesprochen. Aber wie geht es dir eigentlich?

Ich habe mich vor einigen Tagen mit Natascha darüber unterhalten: Es ist wie ein Spiel. Als wir zum ersten Mal in der Ukraine nach Pawlohrad fliehen mussten, hatten wir ein Level erreicht. Wir bauten eine neue Existenz auf. Wir kauften ein Appartement, renovierten es. Wir eröffneten später eine Englischschule. Ich habe meine Lizenz von der Berufskammer erhalten. Es war o.k. Für die Ukraine. Ich habe 1.500 Euro pro Monat verdient. Das war ein gutes Gehalt – für Frauen. Dann kam der Krieg (leicht verzweifeltes Lachen). Dieses Level habe ich also überstanden. Jetzt muss ich das nächste überstehen … und ich weiß nicht, was ich tun soll. (Sie sagt es mit einer unglaublichen Leichtigkeit, bei der man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll.)

Wie schwer war diese erste Flucht?

Es war viel härter. Ich war jünger. Viel jünger.

Das fragt man nicht, aber wie alt bist du heute?

35. Jetzt habe ich mehr Erfahrung. Aber das hier ist ein anderes Level – ich habe zwei Kinder und eine Großmutter dabei. Aber es ist iiiiinteressant. (Anna wirkt, als ob sie kurz etwas vergessen hätte oder sich einfach nur Mut einreden müsste). Wir haben natürlich Helfer.

Auch damals während der ersten Flucht 2014? Denis hat erzählt, dass ihr teilweise kein Geld mehr hattet. Ihr hattet keine Hilfe, oder?

Ja, eigentlich waren wir damals allein in der Stadt. Das war frustrierender. Jetzt waren wir bereit.

Das merkt man.

Wir wussten, dass wir packen müssen und gehen. Wir erwarteten nicht, dass Europa uns mit offenen Armen empfangen würde: Niemand will Flüchtlinge.

Hattest du Angst, dass die Menschen sagen, „geh dahin zurück, wo du herkommst“?

Es ist einfach, zu helfen, wenn du spendest. Aber es ist etwas anderes, die Tür zu deinem Haus zu öffnen. Das ist schwer. Und ich kann die Menschen verstehen. Sie teilen nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihre Arbeitsplätze mit uns. Mehr als zwei Millionen Ukrainer wurden zur Flucht gezwungen. Das sind viele Menschen. Wir sind bereit, für niedrigere Gehälter zu arbeiten. Das sind bittere Realitäten. Verstehst du das?

Ja, Lohndumping geht gar nicht. Aber es ist bitter: Weil es stimmt.

Flüchtlinge werden dadurch zur Belastung für Europa. In einem Jahr müssen wir wahrscheinlich die Europäer fragen: „Wie geht es euch mit diesem ganzen Krieg?“ (Annas Galgenhumor sollte nicht fehlinterpretiert werden, sie erzählt das Ganze fast spielerisch.)

Übersetzerin und Historikerin Natascha platzt der Kragen. Sie ergreift das Wort: Es gibt einen anderen Ausweg: Macht den Gashahn jetzt zu! Keine Öllieferungen, keine Gaszahlungen, finanziert nicht Putin! Dann bleiben die Ukrainer zu Hause! (Anna reißt die Augen weit auf, sie wirkt überrascht. Die Lage ist angespannt. Ruhiges Zuhören hilft, die Wut hat sich aufgestaut). Das ist der andere Weg: Finanziert nicht den Krieg, dann bleiben die Ukrainer alle zu Hause!

Du hast mit Natascha eine gute „Anwältin“. Wie erleben deine Kinder die Flucht?

Meine Kinder haben kein Problem mit den Ortswechseln. Ich habe als Englischlehrerin mit Amerikanern zusammengearbeitet: Mein Sohn hat kein Problem mit Fremden. Es fällt ihm aber schwer, weil er sich langweilt. Er kann nicht am Sportleben teilnehmen. Er wartet auf die Schule. Sehr viel. Nataschas Kinder sprechen zum Glück Russisch. Sie können miteinander spielen. Wir haben auch mit drei weiteren ukrainischen Familien, die Kinder haben, Kontakt. Natascha lädt uns zu Sonntagsessen bei sich zu Hause ein. Kannst du dir das vorstellen?

Nein, nicht wirklich.

Das sind mehr als 20 Menschen in einem Haus. Zehn Kinder …

Natascha ergänzt: Es werden noch mehr, heute sind noch welche angekommen.

Anna: Meine Babuschka kocht Borschtsch …

Diese Suppe aus roter Beete und mit saurer Sahne?

Hast du sie schon gegessen?

Ja, sie ist köstlich!

(Freut sich, spricht jetzt in herrlich sarkastischem Ton) Ja, wir leben also jetzt wie Zigeuner.

Ist dir Politik wichtig? Oder sagst du: Lasst mich in Ruhe, ich will ein neues Leben beginnen?

Wir kümmern uns darum. Wir können aber nichts an der Politik ändern. Mein Ehemann ist deswegen bereit, mehr als 1.000 Kilometer zu fahren, um diese Hilfe aus Luxemburg in die Ukraine zu fahren. Wir versuchen für Frauen mit Kindern Unterkünfte zu finden. Wir versuchen, Menschen miteinander in Kontakt zu bringen. Wir versuchen, Menschen zu helfen, die nicht krankenversichert sind. Ich helfe Natascha, weil sie damit einverstanden ist. Wir können Menschen helfen. Auf die Politik haben wir aber keinen Einfluss.

Was macht das mit einem?

Ich versuche gerade meine Tante in Mariupol zu finden. Kennst du das?

Ja, die russischen Angriffe dort werden mit den Grausamkeiten in Aleppo verglichen.

Wir haben seit einer Woche nichts von ihr gehört. Die Menschen haben kein Licht, kein Wasser, kein Gas.

Besonders bitter: Das Warten. Auf die Behörden, Lebenszeichen von Verwandten – auf ein wenig Stabilität.
Besonders bitter: Das Warten. Auf die Behörden, Lebenszeichen von Verwandten – auf ein wenig Stabilität.

Natascha ärgert sich erneut: Ich bin nicht einverstanden, wenn du sagst: „Wir können nichts machen“. Ich bin wütend, wenn ich das deutsche Radio höre und die Journalisten sagen: „Es gibt zahlreiche Informationen über Beschüsse auf eine Geburtsklinik in Mariupol. Die russische Seite sagt aber: Sie schießen nicht auf Zivilisten, sie haben keine überprüften Informationen.“ (Natascha wird richtig wütend). Lieber Herr Journalist, geh mal selber hin, und prüfe diese Informationen vor Ort. Das ist das Spiel für die russische Seite. Wenn wir alle sagen, wir haben keine geprüften Informationen, weil gerade Krieg herrscht, spielen wir das Spiel von Herrn Putin. Und wir verbreiten hier die Lüge, dass es nicht so schlimm ist, wie die Ukrainer sagen. Das ist einfach eine Lüge. Man muss einfach wahrnehmen, dass die Menschen dort sterben: Schwangere, Neugeborene.

Anna will etwas sagen. Natascha redet weiter. Sie regt sich noch heftiger auf.

Lesen Sie in der morgigen Ausgabe (16.3.2022), wie das Interview weitergeht.

Krieg in der Ukraine

Russland intervenierte bereits 2014 militärisch, als nach Massenprotesten der prorussische Präsident Viktor Janukowitsch geschasst wurde. Moskau annektierte die ukrainische Halbinsel Krim. Der Krieg hatte weitreichende Folgen: Die europäische Friedensordnung wurde infrage gestellt, die Ukraine als Spielball der Großmächte bei der Verhandlung sicherheitsstrategischer Fragen instrumentalisiert. Moskau stützte im Donbass prorussische Milizen und Separatisten. Putin destabilisierte das Land an seiner russischen Flanke. Die USA und die EU bestraften Russland wiederum mit Sanktionen. Die Minsker Abkommen und das sogenannte Normandie-Verhandlungsformat waren der Versuch, den Krieg in der Ostukraine zu beenden. Er wurde aber nur eingedämmt: Über 14.000 Menschen starben. Russland lieferte sich in der Zwischenzeit mit den USA Stellvertreterkriege. Besonders brutal: wie die geopolitischen Interessen auf dem Rücken der syrischen Bevölkerung ausgetragen wurden. Seit der Eskalation dieses Konflikts ging es eigentlich nur noch bergab mit den Beziehungen. Die Trump-Präsidentschaft kann als Ära eines erpressbaren „useful idiot“ bezeichnet werden. Mit der Wahl Joe Bidens zum US-Präsidenten traf Putin auf einen Gegenspieler, den er noch aus dessen Zeit als Vizepräsident von Barack Obama kannte. Während Obama Putin öffentlich brüskierte, aber zum Beispiel bei den berühmten „roten Linien“ in Syrien zögerte, auf direkte militärische Konfrontation mit Russland zu gehen, galt Biden als der angriffslustigere Part. Während seiner Präsidentschaft scheint Biden jedoch auf die gleichen realpolitischen Probleme wie Obama zu treffen: Putin stellt die immer gleichen Forderungen (keine NATO-Osterweiterung usw.), ist unberechenbar – und geht notfalls mit der militärischen Brechstange vor. Die Vorboten für den aktuellen Ukraine-Krieg gab es am 21. Februar 2022: Der russische Staatsterrorist erkennt die selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk an. Soldaten werden später in die Separatistengebiete entsandt. Der Konflikt eskaliert zunehmend. Am 22. Februar wird die Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 von den Deutschen auf Eis gelegt. Am 23. Februar kündigt der ukrainische Präsident Selenskyj den Ausnahmezustand an. Die Separatisten in der Ostukraine bereiten Putins Angriffskrieg vor: Sie bitten Moskau um Militärhilfe. Am 24. Februar geschieht das für die Weltgemeinschaft Unvorstellbare: Russland greift die Ukraine in einem völkerrechtswidrigen Krieg an. Die NATO unterstreicht, dass sie die Ukraine nicht militärisch unterstützen wird. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, der den unglaublichen Mut der Ukrainer zeigt – aber auch die russischen Streitkräfte vorführt. Veraltetes Material, falsche Risikoeinschätzungen und eine Überraschung spielen sich vor unser aller Augen ab: Putins Streitkräften gelingt es trotz ihrer krassen Überlegenheit nicht, die Lufthoheit über der Ukraine zu gewinnen.

Kriegsverbrecher Putin terrorisiert die Ukraine. Wer Glück hat, kann fliehen. Diese ukrainische Familie wurde von der Luxemburger Friedensorganistion „Ad pacem servandam Asbl.“ gerettet. Von links nach rechts: Claude Pantaleoni (Asbl-Präsident und Lehrer), seine Ehefrau Natalya Pantaleoni (ukrainische Historikerin und Vizepräsidentin der Asbl), das Ehepaar Denis Semianystyi (40) und Anna Semianysta (35) sowie ihre beiden Kinder und Annas Mutter Veronika Shcherbyna (57) mit der Babuschka.
Kriegsverbrecher Putin terrorisiert die Ukraine. Wer Glück hat, kann fliehen. Diese ukrainische Familie wurde von der Luxemburger Friedensorganistion „Ad pacem servandam Asbl.“ gerettet. Von links nach rechts: Claude Pantaleoni (Asbl-Präsident und Lehrer), seine Ehefrau Natalya Pantaleoni (ukrainische Historikerin und Vizepräsidentin der Asbl), das Ehepaar Denis Semianystyi (40) und Anna Semianysta (35) sowie ihre beiden Kinder und Annas Mutter Veronika Shcherbyna (57) mit der Babuschka.

 

 

charles.hild
15. März 2022 - 13.55

Ich muss hier etwas los werden. Ich selbst war im letzten Weltkrieg noch nicht geboren. Meine Eltern haben nicht viel erzählt. Das was sie mir jedoch eindrücklich erklärten, das ist die unendliche Freude die sie verspürten, als endlich die Amerikaner aktiv wurden. Dass die deutsche Bevölkerung das nicht so in Erinnerung hat ist wohl klar. Aber wieso, wieso geht niemand von uns anderen: Frankreich, England, Amerika, Belgien, Luxemburg usw, jetzt hin und hilft den Ukrainern wirklich, militärisch? Geldspenden und Flüchlingshilfe genügen nicht! Der dritte Weltkrieg hat doch eh schon begonnen. Der unmenschliche Grobian ist diesmal Putin. Man muss ihn stoppen. Jetzt. Sofort.