Corona-KriseLäuft im Sonderweg-Schweden alles schief?

Corona-Krise / Läuft im Sonderweg-Schweden alles schief?
„In Malmö ist alles nah, aber jetzt müssen wir auf Distanz bleiben“, rät die Anzeige Ende Mai auf der Promenade – strengere Regeln als diese gab es in Schweden zu keinem Zeitpunkt der Pandemie Foto: AFP/Johann Nilsson

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Seit Beginn der Corona-Krise hat Schweden unbeirrt vom Rest Europas auf Bürgerverantwortungsbewusstsein statt Verbote gesetzt. Die Todeszahlen sind hoch, vor allem in Altersheimen. Ein Lockdown hätte das aber nicht verhindert, glaubt das Gesundheitsamt.

Die Bilder von vollen Cafés und Bars gingen um die Welt. Während andernorts Lockdowns mit Ausgangsverboten und Grenzschließungen verhangen wurden, um das Coronavirus einzudämmen, setzten die Schweden selbstbewusst und unbeirrt auf freiwilliges Verantwortungsbewusstsein.

Fast alles blieb erlaubt und geöffnet. Alle Geschäfte, Schulen bis einschließlich zur 9. Klasse, Kindergärten, Büros, Bars, Restaurants, Fitnessstudios, Büchereien und gar einige Kinos. Noch bis zum 29. März durften 500 Menschen zusammenkommen. Bis heute sind es maximal 50. Dies und ein Besuchsverbot in Altenheimen waren die einzigen Verbote. Stattdessen wurden das Händewaschen und das Zuhausebleiben, wenn man kann oder sich leicht krank fühlt, dringend empfohlen. Leere U-Bahnen und Stadtteile in Stockholm und GPS-Handyuntersuchungen zeigten, dass sich die meisten an die Empfehlungen hielten.

Eine Abkehr vom freiwilligen Weg, hinter dem, neben der derzeit im Umfragehoch schwelgenden schwedischen Regierung, auch die Opposition und die absolute Mehrheit der Schweden steht, ist nicht in Sicht. Während im Ausland derzeit fast höhnisch vom dramatischen Scheitern des schwedischen Sonderweges die Rede ist, gibt es in Schweden selbst nur vereinzelte, dann aber scharfe Kritik. Vor allem eine Gruppe schwedischer Wissenschaftler kritisierte den Sonderweg in einem Zeitungsartikel. Doch sie verbrannten sich die Finger daran, dass sie offenbar mit falschem Zahlenmaterial argumentierten.

Die Gesundheitsbehörde betreibt aber nicht die Altenpflege. Im Grunde geht es da um Dinge, die permanent funktionieren müssen, auch wenn es keine Pandemie gibt, etwa prinzipielle Hygieneregeln und Ähnliches.

Anders Wallensten, Vizestaatsepidemiologe

Die Corona-Gesamttodeszahl im 10,2 Millionen Einwohner zählenden Schweden ist – gemessen an der Bevölkerungsgröße – mit 4.125 Toten (Dienstag) tatsächlich deutlich höher als in den nordischen Nachbarländern und in Deutschland. Laut der Johns-Hopkins-Universität liegt die Quote für 100.000 Einwohner in Schweden bei 39,57 Toten. In Deutschland sind es nur 10,02, in Dänemark 9,7, in Finnland 5,58 und in Norwegen 4,42 Tote auf 100.000 Einwohner.

Ex-Staatsepidemiologin Annika Linde kritisierte deshalb, man hätte anfänglich einen Lockdown machen müssen, um Zeit zu haben, notwendige Vorkehrungen für die besonders gefährdeten Risikogruppen zu treffen. Ihr Nachfolger, Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell, entgegnet, dass ein genereller Lockdown die Sterbezahlen nicht vermindert hätte. So seien die Todeszahlen in Lockdownländern wie Spanien mit 57,43 Toten auf 100.000 Einwohner oder Frankreich mit 42,49 oder Großbritannien mit 55,64 Toten höher als in Schweden.

Todeszahlen vergleichen habe kaum Sinn

Todeszahlen zwischen Ländern zu vergleichen und sie mit der Strategie zu koppeln, sei statistisch problematisch. So würden in einigen Ländern nur Coronatote in Krankenhäusern, nicht aber wie in Schweden in Altenheimen mitgerechnet, sagte Tegnell. Es gebe zudem zu viele Zufallsfaktoren wie bestimmte Hotspots und Superspreader-Ereignisse, bei denen sich vereinzelt besonders viele Menschen schnell ansteckten, unabhängig von der Landesstrategie. Eine bessere Kennziffer für die Pandemie sei die Anzahl der Intensivstationspatienten, so Tegnell. Die ist in Schweden seit Wochen rückläufig.

Es gehe vor allem um punktuelle Schwachstellen, so Tegnell. So liegt die schwedische Achillesferse in den Altenheimen. Rund die Hälfte der Toten wurden aus ihnen gemeldet. Man sei daran gescheitert, diese Einrichtungen ausreichend zu schützen, gab der Epidemiologe zu. „Die Gesundheitsbehörde betreibt aber nicht die Altenpflege. Im Grunde geht es da um Dinge, die permanent funktionieren müssen, auch wenn es keine Pandemie gibt, etwa prinzipielle Hygieneregeln und Ähnliches“, so Vizestaatsepidemiologe Anders Wallensten. Schließlich seien alte Menschen grundsätzlich gefährdeter. Schwer Demenzkranke etwa seien extrem anfällig und würden fast immer an Infektionen sterben. Deren Infektionsschutz hätte deshalb schon vor Corona besser sein müssen.

Schwedens Altenpflege steht nach Kürzungen und Privatisierungen seit Jahren in der Kritik. Vor allem sozialschwache Zeitarbeiter ohne feste Anstellungen hätten möglicherweise das Virus in die Heime eingeschleust, weil sie nicht auf ihren Stundenlohn verzichten wollten und es zusätzlich in den Heimen an Schutzausrüstung wie Mundschutz fehlt, vermutet das Sozialministerium. Eine Untersuchungskommission wurde eingesetzt.

„Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt“

Länder mit scharfen Verboten hätten ähnliche Probleme, heißt es von der WHO: „So wie viele andere Länder in Europa wurde auch Schweden von einer Ansammlung von Erkrankungen in der Altenpflege getroffen. Das ist tragisch, aber nicht einzigartig. Eine Reihe von Ländern haben das Gleiche erlebt. Das muss genau untersucht werden. Unsere Alten sterben in ganz Europa“, sagte WHO-Nothilfedirektor Michael Ryan. „Schwedens Art zu reagieren kann ein zukünftiges Modell dafür sein, wie man einer Pandemie begegnet“, lobte er gar. „Es herrscht die Auffassung, dass Schweden keine Kontrollmaßnahmen ergriffen und nur die Ausbreitung der Krankheit zugelassen hat. Nichts ist aber weiter von der Wahrheit entfernt“, betonte er. Die Behörden hätten sich dabei aber auf ihr gutes Verhältnis zu den Bürgern und deren „Selbstregulierung“ verlassen, so der Experte. Schweden gelten in internationalen Rankings als besonders pflichtbewusst. Zudem ist das Land mit nur 25 Menschen pro Quadratkilometer eines der dünnbesiedelsten Europas.

Schweden ist derzeit auf zwei Fronten erfolgreich. Zum einen ergeben Studien, dass es dank Lockdown-Verzicht, der auch die Wirtschaft schonte, viel schneller als andere Herdenimmunität erreichen könnte. Wenn viele das Virus irgendwann in sich hatten und immun sind, kann es sich nicht mehr so schnell ausbreiten hin zu Risikogruppen, so der Grundgedanke. Eine zweite Infektionswelle nach Lockerungen, wie etwa in Südkorea, das schnell sehr strikte Eindämmungsverbote erließ, werde es in Schweden vermutlich nicht geben, sagte Staatsepidemiologe Anders Tegnell. Weil schon so viele das Virus in sich gehabt hätten und nun immun seien, würden auch die Kennziffern wie die Anzahl der Neuinfizierten und Schwerkranken in Intensivstationen derzeit zurückgehen, so Tegnell.

Zudem sei es Schweden auch ohne Lockdown gelungen, sein mit anderen Ländern gemeinsames Hauptziel zu erreichen: Das Gesundheitssystem war zu keinem Zeitpunkt überlastet. „Wenn die Leute sagen, wir in Schweden machen ein Experiment mit unserem Sonderweg, würde ich antworten, dass es ein äußerst, äußerst kniffliges Experiment ist, die gesamte Bevölkerung eines Landes vier bis fünf Monate einzusperren“, verteidigte gar Gesundheitsbehördenchef Johan Carlson den schwedischen Sonderweg. Man müsse auch daran denken, dass sich die Erkrankungs- und Sterblichkeitsrate für Menschen in psychisch und körperlich gesundheitsschädlicher Isolation und mit wirtschaftlichen Problemen deutlich erhöhten. Man müsse das Gesamtbild der Volksgesundheit im Auge behalten und nicht nur die Zahl der Toten aufgrund einer einzelnen Ursache, so der Gesundheitsbehördenchef. Auch Grenzschließungen zwischen europäischen Ländern, in denen sich das Virus ja schon so stark ausgebreitet habe, kritisierte er als unnütz.

Wegen Schwedens vermeintlich unvorsichtigen Sonderwegs regen sich nun Bedenken in den nordischen Nachbarländern bei Grenzwiedereröffnungen in diesem Sommer, auch schwedische Touristen hineinzulassen. In Dänemark wollen mehrere Oppositionsparteien, dass die Grenzen schnellstmöglich für die wirtschaftlich wichtigen deutschen Touristen geöffnet werden, aber nicht für schwedische. Auch in Norwegen bestehen Bedenken, dass eine Grenzöffnung zum südlichen Nachbarn Schweden zu mehr Ansteckungen führen könnte. „Gerade das untersucht die Regierung derzeit. Wann können wir die Grenzen für Schweden öffnen? In Schweden gibt es mehr Infizierte“, sagt Frode Forland, norwegischer Ansteckungsschutzchef. Auch aus Finnland ist Ähnliches zu hören.

Zudem scheint Schwedens Strategie die Wirtschaft nicht ganz so geknebelt zu haben. Zumindest für den Binnenmarkt sieht es tatsächlich besser aus als im Rest Europas. So ist die Zahl der Kurzarbeiter deutlich geringer als in anderen europäischen Ländern. Auch die Umsätze im Einzelhandel sind nicht so eingebrochen wie andernorts. Dennoch leidet auch Schweden, weil es sehr exportabhängig ist.

Joëlle
28. Mai 2020 - 12.37

3-10 mal so viele Tote wie die Nachbarstaaten, wenn das ein 'guter' Sonderweg ist ... Wenigstens sind die Altenheime leer wenn's fertig ist.

guillaume koppers
28. Mai 2020 - 9.42

ni behöver bara at kommar hit och se vad skulle vara " fel " dir brauch jo just heihin ze kommen fir ze gein wat " schief " leeft !

Jean Muller
27. Mai 2020 - 22.32

"Wenn Schweden so falsch läge,gäbe es schon keine Schweden mehr" Und Weissrussland wäre auch ziemlich leer ;) Der politische Beissreflex gegenüber Schweden dient ja bloss dazu davon abzulenken, dass man am Anfang eventuell etwas über- bzw falsch reagiert hat. Menschlich verständlich, aber irgendwann sollte es dann doch gut sein. Dass im Rahmen der Zwangsmassnahmen die Selbstmordraten sehr stark hochgeschossen sind, viele Menschen mangels regelmässiger Behandlung an Herz-/Kreislauf-/Blut-/Krebskrankheiten usw. gestorben sind 'übersieht' man einfach. Eigentlich sollte man eher die für die Panik verantwortlichen 'Experten' hinter schwedischen Gardinen verstauen!

HTK
27. Mai 2020 - 19.11

Wie ist den das Durchschnittsalter der Verstorbenen im restlichen Europa? Wir hier in Frankreich waren jetzt zwei Monate "en guerre" und was hat's gebracht? Was das Land(und noch andere) in Jahrzehnten verpasst oder ignoriert hat ist jetzt als Bumerang zurückgekommen.Nämlich die Modernisierung des Gesundheitswesens voranzutreiben und alten Menschen eine angemessene Altersversorgung zukommen zu lassen. Es wird die Alten und die gesundheitlich Angeschlagenen treffen, Dass man sie extra schützen muss steht ausser Frage,aber eine ganze Wirtschaft und das Gesellschaftsleben zum Teufel zu jagen aus Angst vor der eigenen Ignoranz oder Courage ist doch reine Hysterie. Die vielen Spezialisten haben es sich nicht nehmen lassen den Worst Case an die Wand zu malen.Aber es gibt eben auch Spezialisten die unabhängig sind und sagen können was sie wirklich meinen ohne zu riskieren ihren Job zu verlieren. Wenn Schweden so falsch läge,gäbe es schon keine Schweden mehr.