FechtenFlavio Giannotte: „Zwei Schritte zurückgegangen, um die offenen Türen zu sehen“ 

Fechten / Flavio Giannotte: „Zwei Schritte zurückgegangen, um die offenen Türen zu sehen“ 
Flavio Giannotte hat noch nicht mit einer Teilnahme an Olympia abgeschlossen Archivbild: Luis Mangorrinha/Le Quotidien

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Nach einer schweren Verletzung im Jahr 2018 hatte sich Degenfechter Flavio Giannotte in die erweiterte Weltspitze zurückgekämpft. Im Frühjahr vergangenen Jahres wurde die Nummer 68 der aktuellen FIE-Rangliste von der Pandemie in seinem Elan gebremst. Im Gespräch mit Tageblatt hat der mehrfache Landesmeister erzählt, wie er diesen Einschnitt erlebt hat und die wettkampflose Zeit trotzdem wertvoll nutzen konnte. Der 25-Jährige hofft, seinem Tatendrang bald wieder freien Lauf lassen zu können.

Tageblatt: Wie sind Sie damit umgegangen, dass im vergangenen Jahr ein Turnier nach dem anderen abgesagt worden ist?

Flavio Giannotte: Mein letztes Turnier fand kurz nach dem ersten Lockdown in Belgien statt. Ich hatte gut gefochten und war dann im Finale mit 14:15 unterlegen. Das letzte große Turnier war der Worldcup in Budapest Anfang März. Es ist schwierig, zu trainieren, wenn du kein Ziel vor Augen hast. Nach so vielen Jahren auf hohem Niveau geht es dir weniger ums Fechten als vielmehr ums Gewinnen. Wenn du dich nirgends beweisen kannst, ist das natürlich problematisch. Deswegen habe ich drei Wochen sehr intensiv trainiert und danach eine zweiwöchige Pause eingelegt. Regelmäßig kontaktiere ich auch meine Sportpsychologin. Meine Motivation beziehe ich derzeit aus der Vorbereitung auf die anstehenden Examen. Danach lege ich den Fokus wieder aufs Fechten. Wenn du immer auf ein Ziel hinarbeitest, gehen die Motivation, der Einsatz und die Moral nicht verloren.

Wie haben Sie die Absage der Olympischen Spiele aufgenommen?

Ich hatte mein großes Ziel, die Olympischen Spiele in Tokio, vor Augen. Anstatt die Situation negativ zu sehen, wollte ich das Beste daraus machen. Wenn du vor einer verschlossenen Tür stehst, siehst du nicht, was sich dahinter verbirgt. Machst du jedoch ein paar Schritte zurück, siehst du daneben zwei offene Türen. Ich entschloss mich also, Tokio etwas in den Hintergrund zu schieben, um mich voll und ganz auf meinen Uni-Abschluss zu konzentrieren. Während des Lockdowns habe ich meine Diplomarbeit fertiggestellt.

Worum ging es in Ihrer Abschlussarbeit? 

Das Thema war der Ausschluss von Schülern beim Schulsport. Schwerpunkt meiner Arbeit, die 18 von 20 möglichen Punkten bekam, war das Erkennen des Problems anhand einer Tabelle. Eine solche Analyse gab es in der Form bislang noch nicht und meine Lehrer hatten mir angeboten, noch ein paar Jahre dranzuhängen. Allerdings wollte ich mich wieder dem Sport widmen.

Wie schafft man es, Hochleistungssport und Studium zu kombinieren?

Mein erstes Ziel, auch während der Jahre auf der Uni, war immer das Fechten. Deshalb bin ich nach Reims gegangen, wo ich die Möglichkeit hatte, mit der französischen U23-Nationalmannschaft auf hohem Niveau zu trainieren. Beides zusammen ist machbar und einfach eine Frage der Organisation. Man hat zwar nicht viel Freizeit, aber nachher ist es umso schöner, wenn du dein Diplom in der Hand hältst und zudem auch gute Ergebnisse im Fechten erzielst. Da es im Fechtsport kein Geld zu verdienen gibt, ist es umso wichtiger, sich schulisch abzusichern.

Was machen Sie zurzeit? 

Im Mai bekam ich mein Diplom und fragte mich, ob ich den Weg als Sportsoldat gehen soll. Aufgrund der unsicheren Situation zog ich es vor, die Zeit zu nutzen, um mich auf die Karriere als Sportlehrer vorzubereiten. Es war der optimale Zeitpunkt, da keine Turniere stattfanden. Seit September hab ich den Kopf in den Büchern, um mich auf den anspruchsvollen „Concours“ vorzubereiten. Derzeit absolviere ich meinen „Stage“ im „Lycee international Differdange-Esch“, von wo ich mich gleich in die benachbarte Fechthalle begeben kann. Nach den Examen Anfang Februar will ich meine Lehre abschließen.

Nach so vielen Jahren auf hohem Niveau geht es dir weniger ums Fechten als vielmehr ums Gewinnen. Wenn du dich nirgends beweisen kannst, ist das natürlich problematisch.

Flavio Giannotte, über die Zwangspause

Und dann geht’s wieder auf die „Planche“? 

Der ganze Plan ist mit dem COSL abgesprochen. Raymond Conzemius hat in dieser Hinsicht viel Erfahrung, da er vorher Direktor vom Sportlyzeum war. Wenn die Rechnung aufgeht, bleiben mir nach der Ausbildung zum Sportlehrer noch zwei Jahre, um mich professionell auf das Fechten und das Fernziel, die Olympischen Spiele in Paris 2024, zu konzentrieren.

Wie wichtig ist Ihnen dabei Ihr „Maître d’Armes“?

Mit Maurice Pizay, der praktisch mein Nachbar ist, mache ich alles zusammen. Er ist mein Trainer, aber auch Vaterfigur, Bruder und bester Freund in Personalunion. Ich sehe ihn öfters als meine Freundin (lacht). In Frankreich wird er „le magicien“ genannt, da er es im kleinen Luxemburg fertiggebracht hat, mich auf dieses Niveau zu hieven.

Diesen Sieg – gegen den französischen Weltmeister und Olympiasieger – werde ich nie vergessen. Die ganze Fechtwelt hat damals darüber gesprochen.

Flavio Giannotte, COSL-Athlet

Was würden Sie heute als Ihren bislang größten sportlichen Erfolg bezeichnen?

2019, beim ersten Olympia-Qualifikationsturnier in Cali (COL), traf ich im 64er-Tableau auf den Weltranglistenersten Yannick Borel, der seit drei Jahren ungeschlagen war. Diesen Sieg – gegen den französischen Weltmeister und Olympiasieger – werde ich nie vergessen. Die ganze Fechtwelt hat damals darüber gesprochen. Dazu eine kleine Anekdote. Zurück in Reims, schickte der Trainer mich für zwei Wochen nach Hause. „Du hast ja gegen den Weltbesten gewonnen, also brauchst du nicht zu trainieren“, meinte er grinsend. Einen großen Motivationsschub erlebte ich auch ein Jahr zuvor, als es mir bei der WM gelungen war, Park Sang-young (KOR), den frischgebackenen Olympiasieger von Rio de Janeiro, zu bezwingen.

Bei welchen Dingen gibt es noch Verbesserungspotenzial?

Ich weiß jetzt, dass ich in der Lage bin, gegen jeden zu gewinnen. Seit geraumer Zeit arbeiten wir an meiner Konstanz. Zuletzt lief es in dieser Hinsicht bereits besser, da ich bei den Weltcups regelmäßig ins Hauptfeld der besten 64 kam. Wenn es wieder losgeht, hoffe ich, dort anknüpfen zu können.

Dabei wäre Ihre Karriere vor drei Jahren fast beendet worden …

2018 war ein schwarzes Jahr. Bei der Vorbereitung zur EM ist mein Degen gebrochen und bohrte sich in den Oberschenkel. Ich musste ein paar Mal operiert werden und wusste nicht, ob ich überhaupt noch einmal Sport betreiben könnte. Mir wurde klar, wie schnell eine Karriere zu Ende sein kann. Auch dank der Unterstützung meines Umfeldes und des COSL kämpfte ich mich zurück. Diese Phase hat mich mental gestärkt.

Wie lauten Ihre sportlichen Ziele?

Derzeit ist es schwierig, kurzfristige Ziele zu formulieren. Es ist möglich, dass die Spiele aus finanzieller Sicht durchgeboxt werden. Um in Tokio dabei sein zu können, will ich das Qualifikationsturnier unbedingt gewinnen. Langfristig strebe ich an, zu den Weltbesten zählen. Ob ich es, wie bei den Junioren, in die Top 20 schaffe, weiß ich nicht. Ich will zumindest alles daransetzen, um dieses Ziel zu erreichen. Mein Traum ist der Gewinn einer Medaille bei einer EM oder WM und die Teilnahme bei Olympia.

Haben Sie neben dem Fechtsport eigentlich noch andere Vorlieben?

Ausdauersportarten, wie das Radfahren, kommen mir entgegen. Letzten Sommer wollte ich mit einem Freund mit dem Rad nach Turin. Wegen der Corona-bedingten Einschränkungen mussten wir auf halber Strecke umkehren, haben aber binnen sechs Tagen immerhin 1.000 km absolviert. Was mich nicht erst seit der WM in Beles fasziniert, ist der Cyclocross. Es ist eine extreme Sportart, bei der man sich richtig quälen muss. Wenn sich die Gelegenheit bietet, werde ich im kommenden Winter an einem Rennen teilnehmen. Eine andere Sportart, dir mir gut gefällt, ist der moderne Fünfkampf, diese Kombination aus Fechten, Schwimmen, Reiten, Laufen und Schießen.

Steckbrief

Flavio Giannotte
Geboren am 6. Mai 1995 (25)
Kader: Elitekader des COSL, aktuell Platz 68 der Weltrangliste
Diplom: „Master en métiers de l’enseignement, de l’éducation et de la formation en éducation physique et sportive“ (Universität Reims)
Waffe: Degen (Rechtshänder)
Vereine: Cercle Escrime Sud (L), Escrime 3 frontières (F), Accademia Scherma Marchesa Turin (I)
Größte Erfolge: Fünfmal Landesmeister, Platz 32 bei der WM in Leipzig (2017); Platz 66 bei der Universiade in Taipeh (2017), 1. Platz beim „Championnat de France universitaire“ (Einzel und Mannschaft 2017), 49. beim Grand Prix Budapest (2018); 56. beim Weltcup Paris (2018) sowie der 1. Platz bei der Meisterschaft der Region Piemont (I), 40. Platz bei der WM in Budapest (2019), 14. Platz bei der EM in Düsseldorf (2019), 9. Platz bei der Universiade in Neapel, 1. Platz „Championnat de France universitaire“ (Einzel und Mannschaft 2019)