Musik / Einzelgänger aus Überzeugung: Zum 75. Geburtstag von Van Morrison
„Ich tue, was ich kann“, hat er mal in einem Interview gesagt, „und wenn die Leute es mögen – gut. Wenn nicht – auch gut. Ich tue, was ich tue. Nehmt es oder lasst es bleiben.“ So geht Van Morrison seinen Weg: unbeirrt, geradlinig, kompromisslos, eigenbrötlerisch, dickköpfig, unnahbar, misstrauisch und so hat er uns als Solokünstler seit über fünf Dekaden abseits von Mainstream und Moden ein musikalisches Werk geschenkt, das nur in dem von Bob Dylan oder Neil Young seinesgleichen sucht.
Der nordirische Sänger, Musiker und Komponist George Ivan Morrison wurde am 31. August 1945 in Belfast als Sohn eines Schiffsbau-Elektrikers geboren. Dieser sammelte alte Jazz- und Bluesplatten und nahm den sechsjährigen Ivan mit in Plattenläden. So kam der kleine Knirps in der Nachkriegszeit bereits frühzeitig mit amerikanischer Musik von Mahalia Jackson, Fats Domino, Muddy Waters oder Ray Charles in Berührung. Später begann sein Vater, auf einem Tonbandgerät Songs aufzunehmen, auf denen er seinen Filius auf der Mundharmonika begleitete, während dieser Leadbelly-Songs zum Besten gab. Als sie sich das Resultat anhörten, dachte der Teenager laut Eigenaussage: „Wow, ich habe definitiv eine eigene, unverwechselbare Stimme!“
Beschwörende Gesangsmonologe
Diese Stimme stellte George Ivan, den in der Zwischenzeit alle nur noch Van nannten, neben Saxofon- und Mundharmonika-Beiträgen, zu Beginn der 60er Jahre zunächst in den Dienst der selbst gegründeten, wenig erfolgreichen, Skiffle-Bands The Monarchs und The Manhattans, ehe er 1964 mit Them so richtig durchstartete. Der Sound dieser Band – eine raue, elektrifizierte, ausufernde Version des Rhythm and Blues – eignete sich hervorragend, die Stücke, vor allem bei Konzerten, mit langen Gesangsmonologen zu durchziehen, die Schranken zwischen Musiker und Publikum aufzulösen oder die Fans völlig in den Bann des Sängers zu ziehen. Nach persönlichen Differenzen und einer erschöpfenden US-Tournee stieg Van 1966 bei Them aus und startete auf Anraten seines Managers Bert Berns eine Solokarriere in den Staaten.
Nach einem ersten Überraschungserfolg mit „Browned Eyed Girl“ sollte es noch eine ganze Weile dauern, bis diese Solokarriere Fahrt aufnahm, wofür Van immer wieder die „Haie“ bei den Plattenfirmen oder generell im Musikbusiness verantwortlich machte, denen er bis heute misstraut. Trotz dieser Halsabschneider hat der „Belfast Cowboy“ in seiner über 55-jährigen Laufbahn ein wahrhaft monumentales Werk geschaffen, das neben unzähligen Bootlegs und Gastauftritten auf Platten diverser Kollegen 41 Studio- und sechs Live-Alben umfasst. Hinsichtlich der derzeitigen Arbeitswut des Nordiren scheint ein Ende noch lange nicht in Sicht. Auch seine Archive sind brechend voll: „Ich habe Unmengen unveröffentlichter Musik aus allen Epochen, die ich gerne rausbringen möchte, und sitze auch auf einer Menge guter Live-Mitschnitte“, gab er jüngst zu Protokoll.
Can you feel the silence?
Live weiß man bei „Van The Man“ nie im Voraus, was man kriegt: professionelle Routine, bei der während des Sets die Songs emotionslos runtergespielt werden und das Publikum kaum angesprochen wird, oder pure Magie, die man sein Leben lang nicht vergisst. Nachzuhören etwa auf der zehnminütigen Version von „Cypress Avenue“ auf Vans erstem Live-Album, als er den Song, die Band und sich selbst zu einem Fanal treibt. Das Wort „Babe“ wiederholend, lässt er seine Bläser-Sektion 41 Mal dieselbe Figur spielen, ehe er das Stück ganz abwürgt und die Zuschauer zappeln lässt. Jemand ruft: „Turn it on!“ Van antwortet: „It’s turning already!“ Dann schreit er dem Publikum entgegen: „It’s too late to stop now!“ und die Band darf endlich den Schlussteil des Songs schmettern, während sämtliche Beteiligten gleichermaßen in Ekstase geraten.
Oder während des Liedes „Summertime in England“ in der Rockpalast-Nacht vom 3. April 1982 in der Essener Grugahalle, als der Prediger Van mit geschlossenen Augen, völlig entrückt, zuerst seine Band, dann das Publikum nach und nach verstummen lässt, indem er mantraartig einfordert: „Listen to the silence … Can you feel the silence?“ Oder in Sankt Goarshausen 1999, als er gegen Ende des Sets plötzlich in Laune gerät und mit seiner Band die Loreley förmlich erbeben lässt, indem er eine zwölfminütige Version von Sonny Boy Williamsons „Help me“ raushaut, in der er auf der chromatischen Mundharmonika eindrucksvoll unter Beweis stellt, was ihm der Urheber des Songs beigebracht hat, ehe sich Fred Wesley an der Posaune und Candy Dulfer am Saxofon nach dem Motto „Der Chef hat uns grünes Licht gegeben“ in einen Rausch spielen.
Kaum etwas davon ist einstudiert; es geschieht oder es geschieht eben nicht. Der ebenso legendäre wie gefürchtete Musikjournalist Lester Bangs, vor dessen Verrissen nur die wenigsten sicher waren, versah Morrison 1978 mit dem Prädikat „absolute Antithese zu jeglichem Superstar-Image“ und bescheinigte dem Album „Astral Weeks“, die Rockplatte mit der größten Bedeutung in seinem bisherigen Leben zu sein.
Zum Schluss noch eine der besten Anekdoten, die man sich über den nordirischen Sonderling erzählt: Bevor „Browned Eyed Girl“ zum Hit wurde, war Van so knapp bei Kasse, dass er nicht mal eine eigene Gitarre besaß. Für einen Auftritt in Belfast lieh er sich vom Bruder eines Bandkollegen eine teure Gibson. Betrunken und mies drauf, weil der Gig ziemlich in die Hose gegangen war, zerschlug er nach der letzten Nummer die Gitarre auf dem Bühnenboden. „Why did you do that?“, fragte der erschütterte Besitzer. Morrisons lapidare Antwort: „That’s art, man.“
In diesem Sinne, alles Gute Van!
Zehn bedeutende Alben aus Van Morrisons produktivem Schaffen in 55 Jahren
Seit April 1964 rocken Van und seine Mitstreiter von Them als Hausband den Maritime-Ballsaal in Belfast mit ihren rauen Versionen alter Blues-Nummern und einer aggressiven Bühnenshow. Die späteren Plattenaufnahmen, so erklärt der Sänger beharrlich, seien dem wahren Geist der Gruppe nie gerecht geworden.
Aber man braucht sich bloß die ersten Takte des Einstiegssongs „Mystic Eyes“ anzuhören mit dem hypnotischen Dschungelgroove, der hektischen Harmonika und der Hammer-on-Gitarreneinlage, ehe Van die ersten Textzeilen ausspuckt („One Sunday Morning we went Walkin’ down by the Old Graveyard“), um zu begreifen, dass hier – viel konsequenter als die Stones zu jenem Zeitpunkt – gegen die Pop-Leichtigkeit der Beatles angekämpft wird. Das Gitarrenintro ihrer ersten Single „Baby please don’t go“ ist ein Riff für die Ewigkeit. Doch wer ist Gloria oder vielmehr G-l-o-r-i-a?
Produzent Lewis Merenstein holt Jazzmusiker wie den Bassisten Richard Davis (Eric Dolphy Quintet), den Schlagzeuger Connie Kaye (Modern Jazz Quartet) oder den Gitarristen Jay Berliner, der mit Charles Mingus gearbeitet hat, ins New Yorker Studio, die zu Morrisons bildhaft-komplexen Texten über Sehnsucht, Selbstzweifel und Selbstverlust, welche dieser förmlich in Trance vorträgt, mehr oder weniger improvisieren.
Van beginnt im Titeltrack mit diesen Worten: „If I ventured in the Slipstream; between the Viaducs of your Dream; where Immobile Steel Rims crack; and the Ditch in the Backroads stop; could you find me, would you kiss my Eyes; and lay me down in Silence easy; to be born again, to be born again.“ Es folgen weitere 45 Minuten Poesie und freischwebende Musik, die mit nichts zu vergleichen ist, was man je gehört hat. Das Album gilt bis heute als Morrisons Geniestreich; er ist gerade mal 23 Jahre alt, als er es einsingt.
Van ist verliebt und das hört man seiner Musik an. Er zieht mit seiner Angebeteten „Janet Planet“ in die Künstler-Kolonie Woodstock, stellt eine neue Band zusammen, mit der er den Sound definiert, dem er mehr oder weniger bis heute treu geblieben ist: eine organische Verbindung von Soul, Blues, Folk, Gospel und Jazz. Das neue Klangbild besticht durch den Einsatz von Blechbläsern und einer Rhythmussektion, die an schwarze Soul-Acts wie James Brown oder B.B. King erinnern.
Dass ein weißer Sänger „einen auf Soul-Man macht“, ist zu Beginn der Siebziger noch durchaus neu. Im Eröffnungstrack „And it stoned me“ feiert Morrison als berauschende Droge zudem nicht etwa Marihuana, sondern die Natur. Mithilfe der Musik die Mysterien der Natur und des Menschen aufzuschlüsseln, wird zu einem der zentralen Antriebsmomente in der Kunst des Nordiren.
Auf der großen Europa-Tournee, aber auch in Los Angeles 1973, kommt es zu den Aufnahmen dieses brillanten Live-Doppelalbums, auf dem Van mit dem Caledonia Soul Orchestra alte Them-Titel, Coverversionen von Ray Charles, Sonny Boy Williamson, Willie Dixon und jüngere Morrison-Songs versammelt. Vor allem die berauschende Version von „Caravan“, in all seiner hier über neun Minuten währenden Herrlichkeit, ist so bewegend, dass der englische Autor Nick Hornby in seinem Essayband „31 Songs“ ernsthaft darüber sinniert, den Track – mitsamt der Vorstellung der Musiker – auf der eigenen Beerdigung spielen zu lassen.
Nachdem seine Ehe in die Brüche gegangen ist, kehrt Van nach Irland zurück, wandert die Naturschönheiten seiner alten Heimat ab und vertieft sich in die Lektüre von William Blake, William Butler Yeats und anderen Werken der englischen Romantik. Das Resultat dieser Reise in die Vergangenheit ist ein melancholisches, kontemplatives Werk, dessen Titel für wilde Spekulationen sorgt: Ist das Goldene Vlies aus der griechischen Mythologie gemeint? Vans Variante des Heiligen Grals? Das Coverfoto, das den Mann im feinen Anzug mit zwei irischen Wolfshunden vor dem Sutton House Hotel in Irland zeigt, sorgt für zusätzliche Verwirrung, passt jedoch irgendwie zur Musik: Folkmusik kombiniert mit Improvisationselementen des Jazz und der Leidenschaftlichkeit des Soul.
Nachdem sich der an allem Spirituellen interessierte Morrison einige Jahre mit Scientology befasst hat und dem Sektengründer L. Ron Hubbard auf dem Album „Inarticulate Speech of the Heart“ sogar eine Widmung hinterlassen hat, scheint er nun die Schnauze gestrichen voll davon zu haben und stellt in einem Interview unmissverständlich klar: „I have never joined any organisation, nor plan to. I am not affiliated to any Guru, I don’t subscribe to any Method and, for those People who don’t know what a Guru is, I dont have a Teacher either.“ Eine Rückkehr zum Irdischen ist also angesagt: Van singt von Kindheitserinnerungen, Gärten nach einem sommerlichen Regenschauer, vom sagenumwobenen Land der ewigen Jugend. Dazu strömt die Musik, von Streichern, Klavier und Sopran-Saxofon geprägt, warm und wohltuend.
Van nimmt sich auf diesem Album einer ganzen Reihe von Blues- und Rhythm-&-Blues-Nummern an und zeigt, dass ihn John Lee Hooker nicht zu Unrecht als „den besten weißen Bluessänger überhaupt“ bezeichnet hat. Mit ihm nimmt er eine fulminante Version von „Gloria“ auf. Ebenso fulminant klingen Sonny Boy Williamsons „Good Morning Little Schoolgirl“ und Bobby „Blue Boy“ Blands „I’ll take care of you“ im neuen Gewand.
Sind es die Bläser-Arrangements des Saxofonisten Pee Wee Ellis oder die perfekt platzierten Backing Vocals? Ist es die Hammond-Orgel von Georgie Fame, das subtile und doch druckvolle Schlagzeug-Spiel von Geoff Dunn oder etwa erneut die Mundharmonika des Meisters? Wahrscheinlich lassen all diese Elemente die zehn Eigenkompositionen Morrisons fantastisch klingen. Alle Involvierten musizieren so lässig und mannschaftsdienlich, dass Vans Stimme in ihrer ganzen Kraft und Nuanciertheit zum Ausdruck kommt. Der Titeltrack hat bereits seinen Platz in der Ruhmeshalle unsterblicher Soulsongs gefunden: „Here I am again; on the Corner again; where I’ve always been; in the Healing Game.“
Das Coverfoto ist Programm: Es zeigt einen heimeligen Plattenladen mit Scheiben von Ray Charles, Sam Cooke, Lightnin’ Hopkins, Muddy Waters u.a. in der Auslage, den man gerne betreten würde, um auf der Suche nach verborgenen Vinyl-Schätzen in den Kisten zu wühlen. Van macht sich „Georgia on my Mind“ des großen Ray auf geniale Weise zu eigen. Der Rest besteht aus eigenen Stücken, die in ähnlicher Manier von den oben erwähnten Altvorderen inspiriert sind: von der Rhythm-&-Blues-Nummer „Talk is Cheap“ über den swingenden Soul von „Hey, Mr. DJ“, in dem (ein ständig wiederkehrendes Motiv Morrisons) ein Radio-Discjockey angesprochen wird, in diesem Fall doch noch einmal einen langsamen Song für die Einsamen zu spielen, bis zum nostalgischen Country-Blues „Fast Train“.
Das 36. Studioalbum ist irgendwo zwischen Jazz und Soul angesiedelt. Der alte Griesgram klingt hier doch tatsächlich entspannt und gut gelaunt und liefert wie immer mehrere musikalische Perlen ab: z.B. „Going down to Bangor“, einen mitreißenden Chicago Blues, „The Pen is mightier than the Sword“, das von einem lässigen Shuffle getragen wird, oder das jazzige „In Tiburon“, eine Hommage an den Trompeter Chet Baker, den sich der Meister zu Hause am liebsten zum Entspannen auflegt.
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Täusche ich mich, oder klingt Van Morrison in den letzten Jahren zunehmend kuschelig? Sicher, auch ein akustisches irisches Rauhbein kommt in die Jahre.
Obwohl der Ire, der in besten Zeiten fast jedes irische Pop beschallte, immer wieder Perlen produzierte, bedurfte es zuweilen eines gewissen Durchhaltevermögens, Van Morrison eine ganze CD-Länge zuzuhören. Zu ungeschliffen, zuweilen auch zu monoton wirkten seine oftmals eher schlichten, aber durchweg eingängigen, an echtem Rock’n Roll oder Blues orientierten Aufnahmen. Eine seiner schönsten Aufnahmen – vielleicht die schönste überhaupt – lag vor etlichen Jahren wochenlang an der Spitze der deutschen RTL-Charts: If I told you lately. Das war wirklich Van Morrison vom Feinsten. Für Puristen war das damals allerdings reinster Kitsch.