Corona-GeschichtenEin Virus auf dem längsten Wanderpfad der Welt

Corona-Geschichten / Ein Virus auf dem längsten Wanderpfad der Welt
Zwischen vier und sechs Monaten dauert eine Wanderung auf dem AT. Dabei überquert der Thru-Hiker auch die White Mountains in New Hampshire. Foto: Editpress/Eric Hamus

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Allein in der Natur, keine Menschenseele weit und breit: Für viele begeisterte Wanderer wäre ein Fernwanderpfad gerade jetzt das beste Mittel, sich vor dem Virus zu isolieren. Was auf dem Papier nach einem optimalen Abenteuer in Krisenzeiten klingt, gestaltet sich in der Wirklichkeit aber als unmöglich. Eine Reportage vom längsten Wanderpfad der Welt.

Abstand halten, ausatmen, die sozialen Kontakte reduzieren – mitten im Wald fällt das nicht schwer. In Zeiten von Corona bietet ein kurzer Spaziergang in der Natur eine willkommene Abwechslung. Verboten ist es nicht, solange die nötigen Sicherheitsvorschriften eingehalten werden. Und doch schrillen beim Anblick eines überfüllten Parkplatzes an den Wanderwegen des Landes sämtliche Alarmglocken.

Bilder aus aller Welt machten in den letzten Tagen in den Medien und sozialen Netzwerken die Runde: Menschen, die nach Wochen der Isolierung kurz die frische Luft und tröstenden Sonnenstrahlen genießen wollen. Bilder, die – so verständlich sie auch sind – in Quarantäne-Zeiten Unbehagen auslösen. Doch solange Spaziergänger und Wanderer die Regeln sozialer Distanzierung einhalten, ist an einem kleinen Ausflug ins Grüne nichts auszusetzen. Schließlich sind Tätigkeiten im Freien in Luxemburg nicht verboten.

Gleiches gilt auch für die Vereinigten Staaten, wo sich das Wochenende in der Wildnis quasi in die DNA einer ganzen Gesellschaft eingraviert hat. Kaum ein Volk rühmt sich so seiner Freiheit wie die Amerikaner. Und nirgendwo fällt es den Behörden schwerer, die Menschen in ihren Bewegungen einzuschränken, als im Land der Trapper, Siedler und Pioniere. So sind die meisten staatlichen Parks und Nationalparks inzwischen geschlossen, von längeren Ausflügen in die Wildnis wird dringendst abgeraten.

Jersey, Beemer und Green Tea

„Verstehen konnte ich das zunächst nicht. Nirgendwo lässt es sich doch besser isolieren als auf einem Wanderpfad durch die Wildnis“, betont Michael Pearsson. Der junge Mann aus dem US-Staat New Jersey ist einer von rund 2.000 Fernwanderern, die sich zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Pandemie bereits auf dem Appalachian Trail (AT) befanden (siehe Kasten). Der rund 3.500 Kilometer lange Fernwanderweg wird in der Regel von Springer Mountain im südlichen Georgia nach Mount Katahdin im US-Bundesstaat Maine gelaufen.

„Mount Katahdin ist wegen der Witterungsbedingungen meist schon Ende September geschlossen. Da man aber rund sechs Monate braucht, habe ich mich dazu entschlossen, den Weg Anfang März in Angriff zu nehmen“, erzählt Pearsson, der von seinen Mitwanderern „Jersey“ genannt wird. Traditionell werden die sogenannten „Thru-Hiker“ in den ersten Wochen auf Trail-Namen getauft, die meist mit der Herkunft, einer Begebenheit oder einer Angewohnheit in Verbindung stehen.

Jersey ist einer von knapp hundert Wanderern, die entlang des Appalachian Trail gestrandet sind. Sie sind das Resultat einer zögerlichen Herangehensweise der amerikanischen Behörden in Sachen Covid-19. Lange waren sich die unterschiedlichen Instanzen nicht einig, wie sie der raschen Verbreitung der Pandemie entgegenwirken sollten. Behindert wurden die lokalen Behörden nicht zuletzt durch widersprüchliche Signale aus Washington.

„Und dann spielt die Natur der Amerikaner natürlich auch eine Rolle: Sie lassen sich nichts vorschreiben. Außerdem trauen viele den Medien nicht. Zu Beginn wurde die Pandemie von vielen als Panikmache abgetan“, sagt Jens Steuer. Der deutsche Optometrist teilt sich zurzeit eine Wohnung mit Jersey in der Nähe von Asheville, North Carolina. Es ist die ungewöhnliche Freundschaft zwischen einem amerikanischen Küchengehilfen und einem deutschen Augenspezialisten, wie sie nur ein Fernwanderpfad zustande bringt. Weil Steuer aus Bayern stammt und die Amerikaner den Freistaat mit rasanten Fahrten in einem Wagen der gleichnamigen Motorenwerke verbinden, wird der Deutsche nur noch „Beemer“ genannt.

Beemer und Jersey kennen sich seit dem ersten Tag und haben bereits mehr als 350 Kilometer absolviert. Beide genossen einen freien Tag in der Kleinstadt Asheville, als sie von der Entscheidung der US-Bundesbehörden erfuhren, sämtliche Hütten entlang der „National Scenic Trails“ zu schließen. „Da wussten wir: Die Lage ist ernst!“, so Beemer. Bis dahin seien noch viele Wanderer unentschlossen gewesen. „Auch waren die Informationen, die wir bis dahin erhielten, nicht schlüssig“, betont der Deutsche.

Ein weißer Strich begleitet die Wanderer auf ihrem Weg nicht nur durch die Grayson Highlands in Virginia. Der „white blaze“ ist ein ständiger Begleiter bis nach Maine.
Ein weißer Strich begleitet die Wanderer auf ihrem Weg nicht nur durch die Grayson Highlands in Virginia. Der „white blaze“ ist ein ständiger Begleiter bis nach Maine. Foto: Editpress/Eric Hamus

Zwar hatten manche Gemeinden entlang des Trails bereits Maßnahmen ergriffen, eine einheitliche Ankündigung der nationalen Behörden war aber ausgeblieben. Nur die „Appalachian Trail Conservancy“ (ATC) hatte die Wanderer mehrmals aufgerufen, ihre Fernwanderung zu unterbrechen oder zu verschieben. Nur: Die gemeinnützige Organisation kümmert sich zwar um den Unterhalt des Trails, hat letztendlich aber keine Entscheidungskraft.

Verheerende Folgen

Zusammen mit Jersey und einem dritten Fernwanderer hat Beemer daraufhin eine Wohnung gemietet, in der sie nun gemeinsam das Ende der Ausgangsbeschränkungen abwarten. Wie dem Trio geht es vielen Wanderern entlang des AT: Jahrelang haben sie auf dieses Abenteuer hingearbeitet. Viele haben Job und Wohnung aufgegeben, um sich diesen einmaligen Traum erfüllen zu können. Doch dieser liegt nun auf Eis: „Ich wusste zunächst ja nicht, wie lange das dauert. Deshalb bin ich geblieben“, erklärt Beemer immer noch zuversichtlich, bald wieder aufbrechen zu können.

Jersey hingegen hat kein Zuhause, in das er zurückkehren könnte: „Ich könnte zu meinen Eltern, doch beide gehören zur Risikogruppe“, sagt der junge Amerikaner. Er befürchtet, sich auf dem Heimweg zu infizieren und seine Eltern in Gefahr zu bringen. Auch ist es nicht ganz sicher, ob er es überhaupt nach New Jersey schafft. Manche Staaten lassen keine Reisende mehr durch, viele Hotels empfangen nur noch Besucher, die professionell unterwegs sind.

Der Dritte im Bunde, Tyler „Green Tea“ Greenleaf, hat für die Schließung überhaupt kein Verständnis: „Hier sind wir den Gefahren doch viel mehr ausgesetzt als auf dem Trail. Den Proviant können wir im schlimmsten Fall doch liefern lassen“, sagt Green Tea und spricht damit genau jenes Problem an, das manche Thru-Hiker nicht wahrhaben wollen.

„Wandern ist für viele die reinste Form sozialer Distanzierung. Bei einem oder zwei Wanderern stimmt das auch. Wenn nun aber jeder den Aufruf der ATC ignoriert hätte, wäre jetzt ein kontinuierlicher Fluss mehrerer Tausend Wanderer unterwegs, die alle die gleichen Oberflächen in den Hütten benutzen, in die Trail-Ortschaften einfallen, dort in den gleichen Hotels und Herbergen verkehren, in engen Shuttles zusammen hocken und mit der Lokalbevölkerung in Kontakt kommen“, gibt Colin „Zen“ Gooder zu bedenken. „Dabei haben diese Ortschaften meist nicht mal ein Krankenhaus für die eigene Bevölkerung. Das Resultat wäre verheerend!“

Als ehemaliger Thru-Hiker und Betreiber der Herberge „Gooder Grove“ in der Kleinstadt Franklin kennt Zen die Szene. Die kleine Gemeinschaft im Süden von North Carolina ist eine der ersten Trail-Gemeinden, die Thru-Hiker auf ihrem Marsch nach Norden erreichen. Er selbst hat sich schon früh mit der Pandemie befasst, rang sich auch als einer der ersten Betreiber überhaupt zur Schließung seiner Herberge durch. Ein Schritt, für den er von vielen Kollegen und Wanderern angefeindet wurde.

Soziale Distanzierung ist auf dem Appalachian Trail quasi unmöglich. Immer wieder haben Wanderer auch Kontakt zur lokalen Bevölkerung, etwa um Proviant zu besorgen.
Soziale Distanzierung ist auf dem Appalachian Trail quasi unmöglich. Immer wieder haben Wanderer auch Kontakt zur lokalen Bevölkerung, etwa um Proviant zu besorgen. Foto: Editpress/Eric Hamus

Mehr als nur Panikmache

„Viele Thru-Hiker waren der Meinung, es sei alles nur Panikmache, das Virus nicht schlimmer als die normale Influenza. Viele wollten es nicht wahrhaben, dass ihr Traum nun vorbei ist. Mir geht es ja auch nicht anders“, erklärt Beemer. Rückendeckung erhält er von Kelley „Ghost“ Harden, der dieses Jahr bereits zum dritten Mal auf dem AT antrat. Verletzungen haben ihm in den vergangenen Jahren einen Strich durch die Rechnung gemacht. Entsprechend schwer ist ihm die Entscheidung gefallen, wieder nach Hause zu reisen.

Kelley „Ghost“ Harden am ersten Tag seiner Wanderung im Amicalola State Park. Mittlerweile ist er zurück in Atlanta.
Kelley „Ghost“ Harden am ersten Tag seiner Wanderung im Amicalola State Park. Mittlerweile ist er zurück in Atlanta. Foto: privat

„Eigentlich habe ich auch niemanden gesehen, der krank war. Doch die Hütten habe ich komplett gemieden, ebenso wie größere Gruppen auf dem Trail“, erinnert sich Ghost. „Ansonsten reden Wanderer nur über Material und Packgewicht. Dieses Jahr aber dominiert nur ein Thema: Corona. Dabei haben viele nur eine Rechtfertigung gesucht, weiter wandern zu können“, so der junge Mann aus der Nähe von Atlanta.

Er verstehe seine Mitwanderer: „Die meisten haben kein Zuhause mehr oder müssen weite Reisen auf sich nehmen. Ich aber komme aus Georgia. Es wäre unverantwortlich gewesen, zu bleiben. Logistisch wäre es im Endeffekt unmöglich geworden, mich weiterhin in der Wildnis isolieren zu können“, begründet der junge Mann seine Entscheidung.

Auch Zen hatte zunächst noch versucht, „Gooder Grove“ so gut es geht auf die Umstände einzustellen. „Trotz unserer besten Anstrengungen aber war es unmöglich, die Herberge jeden Tag so zu desinfizieren, dass wir dem Virus hätten Einhalt gebieten können.“ Die Einsicht sei gekommen, als er kein Desinfektionsmittel mehr auftreiben konnte. Zwei Wochen später hätten auch die Gemeindeverantwortlichen von Franklin reagiert und Herbergen und Läden geschlossen.

Er habe sich früh Gedanken um eine Eindämmung des Virus gemacht. „Ich wollte mit dem guten Beispiel vorangehen“, so Zen. Leider seien manche Kollegen von einer Überreaktion seinerseits ausgegangen. Auch nachdem die Gemeinde für Kurzzeitbesucher geschlossen wurde, hätten viele davon weiter Wanderer empfangen. „Manche stellen den Gewinn über Menschenleben“, so sein Fazit.

Colin „Zen“ Gooder hat als Betreiber einer Herberge in Franklin enge Verbindungen zur Trail-Gemeinschaft
Colin „Zen“ Gooder hat als Betreiber einer Herberge in Franklin enge Verbindungen zur Trail-Gemeinschaft Foto: privat

Tatsächlich ist der Appalachian Trail für viele Gemeinden eine der Haupteinnahmequellen: „Thru-Hiker tragen enorm zur lokalen Wirtschaft bei“, weiß auch Gooder. In den letzten fünf Jahren lag der Beitrag der Fernwanderer im Schnitt zwischen 1,5 und 2 Millionen US-Dollar im Jahr. „Angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre ging die Gemeinschaft in diesem Jahr sogar von 3 Millionen Dollar aus“, sagt der Besitzer von „Gooder Grove“. Der Verlust dieser Einnahmen sei ein schwerer Schlag für die lokalen Unternehmen.

Er werde schon irgendwie mit dem Ausfall klarkommen, gibt sich Zen zuversichtlich. Er sei nur glücklich, dass die meisten Fernwanderer Einsicht gezeigt hätten. Er und andere Betreiber helfen nun den Nachzüglern, wieder nach Hause zu kommen oder sich entlang des Wanderweges zu isolieren. Er selbst gehe von 60 bis 80 Thru-Hikern aus, die immer noch auf dem AT unterwegs seien. Manche hätten nicht gleich mitbekommen, was los sei. Andere seien zu stur und empfänden den Aufruf der Gemeinschaft als persönlichen Affront.

„Viele davon glauben, es sei ihr Recht, den Pfad weiter zu genießen, während viele andere ihre Träume aufgegeben haben, um andere nicht in Gefahr zu bringen“, ärgert sich Zen. „Die Kultur des amerikanischen Exzeptionalismus gilt nun mal aber nicht für Viren.“ Die Kultur des Appalachian Trail hingegen sei mit all seinen Traditionen und Gemeinschaften stark genug, auch diese Krise zu meistern. Davon sind auch Jersey, Green Tea und Ghost überzeugt: Nächstes Jahr werden sie es wieder versuchen.

Der längste Wanderweg der Welt

Der rund 3.500 Kilometer lange Appalachian Trail gehört zu den längsten Wanderpfaden der Welt. Auf seinem Weg von Springer Mountain (Georgia) zum Mount Katahdin (Maine) durchquert der AT 14 Staaten an der amerikanischen Ostküste.

Dabei absolviert der Wanderer in Höhenmetern gleich 16 Besteigungen des Mount Everest. In der Regel brauchen die sogenannten „Thru-Hiker“ vier bis sechs Monate für die Strecke. Geschlafen wird in Zelten, Wildnis-Hütten oder Herbergen. In den angrenzenden Trail-Ortschaften können die Wanderer Kleider waschen und sich mit frischen Lebensmitteln eindecken. Jedes Jahr versuchen mehrere Tausend Menschen, die rund 2.200 Meilen an einem Stück zu wandern. Tendenz steigend.

Seit der Verfilmung der Beststeller „A Walk in the Woods“ von Bill Bryson und „Wild“ von Cheryl Strayed sind die Besucherzahlen auf den Fernwanderwegen der Vereinigten Staaten quasi explodiert. Allein auf dem AT hat sich die Zahl der Thru-Hiker in den letzten fünf Jahren verdoppelt. Für 2019 registrierte die „Appalachian Trail Conservancy“ – jener gemeinnütziger Verein, der sich um den Unterhalt des Weges kümmert – 3.300 Starts in Georgia und 328 in Maine.

Der überwiegende Teil der Fernwanderer läuft den Trail von Süden nach Norden. Für sogenannte Nobos (northbound) startet die Saison bereits Mitte Februar, wobei man sich auch im Süden der USA noch auf frostige Temperaturen einstellen muss. Wegen der hohen Besucherzahlen entscheiden sich allerdings immer mehr Wanderer für eine Südwanderung, auch Sobo (southbound) genannt. Schätzungen der ATC zufolge waren Ende März bereits mehr als 2.000 Thru-Hiker im Süden der Appalachen unterwegs. Zum Zeitpunkt des Corona-Ausbruchs dürften sich die meisten davon zwischen Hiawassee (Georgia), Franklin und Hot Springs (beide North Carolina) aufgehalten haben.

In der Regel schafft rund ein Viertel die 2.200 Meilen lange Wanderung. Doch viele Wanderer werfen bereits in der ersten Woche das Handtuch. Weitere Knackpunkte sind der „Great Smoky Mountains National Park“ nach etwas mehr als 200 Meilen und die Halbwegsmarke in Harpers Ferry (West Virginia). Aus Luxemburg waren Tageblatt-Informationen zufolge 2019 drei Wanderer auf dem AT und ein Wanderer auf dem PCT unterwegs. Einer jungen Frau aus Esch ist es gelungen, den AT erfolgreich abzuschließen, während eine Fußverletzung einen zweiten Wanderer nach rund 1.200 Kilometern zur Aufgabe zwang. Ein weiterer Thru-Hiker aus dem Großherzogtum hat den PCT erfolgreich gemeistert.