ForumEin Tusch für die Heckenschützen? – Über den Kommentar-Irrsinn in der Online-Presse

Forum / Ein Tusch für die Heckenschützen? – Über den Kommentar-Irrsinn in der Online-Presse
  Foto: dpa/Fabian Sommer

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Sind Presseleute besonders leidensfähig? Mögen sie es, wenn ihre Arbeit runtergemacht wird? Haben sie nichts einzuwenden gegen gehäufte persönliche Verunglimpfungen? Diese Fragen drängen sich auf, wenn man sich vor Augen führt, was in den sogenannten Kommentarspalten der Online-Zeitungen passiert. Sagen wir es kurz und knackig: Leserinnen und Leser dürfen hier die Sau rauslassen. Das tun die meisten Beteiligten ohne Anstand und ohne Hemmung, und zwar in einem Ausmaß, das mittlerweile jeden Rahmen sprengt. Der Erkenntnisgewinn aus ihren „Kommentaren“ tendiert in der Summe nachweislich gegen null. Aber die unbeherrschten Trolle werden offenbar wohl oder übel von den Redaktionen hofiert.

Warum? Die einzig nachvollziehbare Erklärung wäre, dass mit jedem Klick das Gewicht der Zeitung gegenüber ihren potenziellen Anzeigenkunden wächst. Das mag so sein, aber zu welchem Preis verlässt man sich auf eine solch unterschwellige Milchmädchenrechnung? Unter dem Strich wären neue Anzeigen ja dann mittels menschenverachtender „Kommentare“ erschlichen. Ein wahrhaft unappetitlicher Deal. Die große Frage bleibt: Wieso lassen sich die Journalisten regelmäßig von den unflätigen „Kommentierenden“ abschießen? Ist die Online-Zeitung mittlerweile eine Schießbude mit Journalisten als wohlfeilen Trophäen? Das wäre nichts anderes als ein Ausdruck sonderbarer Selbstverachtung.

Betrachten wir ein krasses Beispiel. Am 21. April 2024 hatte RTL Jean Asselborn zum Interview eingeladen und darüber berichtet unter dem Titel: „Deen eenzegen Auswee ass, datt Palestina d’Recht huet op säin eegene Staat“. Jean Asselborn tat in dieser Sendung nichts weiter, als seine Position zu bekräftigen, die er schon als Außenminister immer wieder vertreten hat. Sofort fällt die anonyme Meute über ihn her, nach dem Motto: Ich finde alles zum Kotzen, und Asselborn ganz besonders. Im typischen „Humpejangen“-Sound wird der RTL-Gast aufgefordert, sofort das Weite zu suchen und sich nicht noch einmal einen öffentlichen Auftritt zu erlauben.

Die rechtschreibresistenten Attacken sprechen für sich: „Firwat de Jang vu stoneaway nach froen? Hien as an der Pensioun gott sei dank. Wat hien nach seet as net wichteg a war et nie, an recht hat hie selten.“ Oder: „Hien huet d’Land genuch ‚futti” gemaach.“ Oder: „Herr Asselborn dir sid net méi dobei.“ Das riecht stark nach Redeverbot aus Altersgründen. Hau endlich ab, Alter! Schnauze halten! Verdufte mit deinem Fahrrad dorthin, wo der Pfeffer wächst! Das nennt man wohl Maulkorb für Senioren im Ruhestand. Die flagrante Altersdiskriminierung schlägt inzwischen Purzelbäume in den Kommentarspalten.

Beim „sachbezogenen Argumentieren“ sieht es meist nicht viel besser aus. Ein User mit dem törichten Tarnnamen „Knuckel“ schreibt (hier erneut mit allen Rechtschreibfehlern wiedergegeben): „Palestinensescht Vollek gëtt ëtt nëtt, et sin Araber. Zu Jerusalem hun se iwwerhaapt néischt verluer.“ Diese Aussage erfüllt den Tatbestand der Volksverhetzung. Ihr Autor macht sich damit straffällig und gehört eigentlich vor Gericht. Trotzdem winkt RTL diesen blühenden Unsinn einfach durch. Wieso werden derartige Faktenverdrehungen veröffentlicht? Wie steht es denn mit der vielbeschworenen „Netiquette“? Sind die RTL-Netzkontrolleure nicht in der Lage, Wahres von Erfundenem zu unterscheiden? Haben sie noch nie etwas vom Faktencheck gehört? Oder sympathisieren sie etwa insgeheim mit all diesen hanebüchen drauflos schwadronierenden „Knuckeln“?

88 Kommentare erscheinen zum besagten RTL-Bericht, aber diese Zahl täuscht. Dahinter steckt nämlich ein verschwindend geringes Grüppchen von Kommentierenden, die sich mehrfach zu Wort melden, weil sie sich untereinander anfeinden und sich gegenseitig anschwärzen. Natürlich kann man in diesem trüben, um nicht zu sagen tiefbraunen Kommentarbrei auch ein paar vernunftbetonte und argumentative Beiträge ausfindig machen. Diese spärlichen Diskutanten treten übrigens nicht als Vermummte auf und zeichnen fair mit vollem Namen. Doch ihre Perlen sind bedauerlicherweise vor die Säue geworfen. Denn sie werden entwertet und abgewürgt von der Masse der respektlosen, rein viszeralen und primitiven Anrempelungen und Verhöhnungen. Warum filtert die Redaktion nicht wenigstens alle übergriffigen Anzüglichkeiten heraus? Könnte es sein, dass es ihr gar nicht um einen Aufruf zur Debatte geht, sondern nur um versteckte Anstiftung zum klickfördernden Krawall?

Schutz der journalistischen Arbeit

Luc Marteling, der künftige RTL-Informationschef, wird kein leichtes Spiel haben. Um der Information endlich zu ihrem Recht zu verhelfen und die überbordende, auch sprachlich miserable Desinformation einzudämmen, muss er buchstäblich einen riesigen Augiasstall ausmisten. Er muss energisch verhindern, dass die RTL-Redaktionsstuben endgültig zu Müllkippen für Verbalfäkalien verkommen. Es sei denn, man signalisiert ihm aus der Chefetage: Lass mal gut sein, Junge. Uns interessiert nur die Klick-Intensität. Also das ausufernde Daumen-rauf-Daumen-runter-Spielchen, unsere berüchtigte Ködertechnik für potenzielle Anzeigenkunden. Ethik und Deontologie sind uns schnuppe.

Das Luxemburger Wort hat vor einiger Zeit vorgeführt, wie es auch anders geht, indem es in seiner Online-Ausgabe alle Kommentarmöglichkeiten kurzerhand abschaffte. Das ist zunächst nichts Geringeres als eine wirksame Maßnahme zum Schutz der journalistischen Arbeit. Unterdessen toben sich die immer gleichen Kommentarwüteriche auf der Facebook-Seite derselben Zeitung weiterhin ungeniert aus. Was schlüssig belegt, wie weit die Verrohung bereits Raum greift und sich auf unzähligen Plattformen vervielfältigt und verfestigt.

Guy Rewenig ist Schriftsteller. Sein aktuelles Buch im Binsfeld-Verlag heißt „La coupe est pleine“.
Guy Rewenig ist Schriftsteller. Sein aktuelles Buch im Binsfeld-Verlag heißt „La coupe est pleine“. Foto: Editpress/Didier Sylvestre
Grober J-P.
13. Mai 2024 - 20.41

"Online-Ausgabe alle Kommentarmöglichkeiten kurzerhand abschaffte" Wie wär's wenn man wieder mit seinem richtigen Namen kommentieren könnte. Leider sind die meisten dazu zu feige! LW fürchtet sich vor, was eigentlich? Habe gefragt, jedoch keine Antwort bekommen. Kommentare sind doch das Salz in der Suppe, wenn sie denn nicht unter Pseudonym erscheinen.

CG
8. Mai 2024 - 15.08

@luxmann Schreibt man bei RTL irgendeinen Kommentar der sich kritisch mit der Vogehensweise der israelischen Regierung auseinandersetzt wird dieser Kommentar mit Sicherheit ansatzlos gestrichen. Ist mir schon eonige Male passiert. Von wegen keine Zensur.

max.l
7. Mai 2024 - 13.46

ëch gin Iëch Recht, wat verschidde Commentaire ugeet, déi misste vläicht nët grad veröffendlëcht gin.. ët ass awer och hei ans do wichtëch, dat Dër och mol können eng aaner Meenung hun, wéi vläicht d'Allgemengheet, déi mussen dann nët gläich verdaamt gin, dat Recht huët Jiddereen, sëch eng Meenung vun Eppes ze bilden, och wann ët dem Engen oder dem Aaneren nët passt.. well ët ass nët ëmmer einfach zë verstoën mä ët ka Jiddereen eng eege Meenung hun.. oft gi mër All zu Eppes verleet ze din, oder zë denken, oder och nach zë handelen, wat engem nët passt.. mir sën nun mol All verschidden an ët gin och Läit déi Alles gleewen wat së gesoot kréien, dat ass nach schëmmer..

fraulein smilla
7. Mai 2024 - 13.00

Waere Mir die Sottise von Knuckel aufgefallen ,haette Ich sie gemeldet ( auf Mellen klicken ) und sie waere bestimmt auf der Stelle geloescht worden .Hat Rewenig das nicht fuer noetig befunden ? Dass das Wort ueber Nacht klammheimlich die Kommentarmoeglichkeiten abschaffte war doch eher eine Frechheit und Repektlosigkeit gegenueber seinen Abonnenten den sich nur eine vom Staat subventionierte Presse leisten kann . Journalistische Arbeit schuetzen ,indem man zu manch manichaeischen Kommentar nichts mehr sagen kann, A la Bonheur !

luxmann
7. Mai 2024 - 7.30

Dass bei RTL lu. eine kleine gruppe von ultrarechten netanyahu fanboys und girls den ton angibt unter den kommentaren zum gaza konflikt ist schon auffaellig. Etwa eine trollfabrik aus tel aviv...oder gibt es das nur in moskau?