Bewegtes Leben / Ein rheinischer Poet: Zum 70. Geburtstag von Wolfgang Niedecken

Am 30. März feiert Wolfgang Niedecken seinen 70. Geburtstag – sich auf den Lorbeeren seiner Karriere ausruhen, kommt für den Musiker und Aktivisten aber nicht infrage
„Auf die Heiligen Drei Könige“ pflegt Wolfgang Niedecken vor jedem Auftritt mit seinen Musikern backstage zu prosten und huldigt damit seinen Helden Bob Dylan, Keith Richards und Ron Wood, die ihren gemeinsamen Auftritt beim Live-Aid-Happening 1985 in seinen Augen so grandios vergeigten, aber tapfer durchhielten. Der BAP-Sänger, Solokünstler, Autor, Maler und politischer Aktivist, der am 30. März 1951 in der Kölner Südstadt geboren wurde, blickt auf ein wahrhaft bewegtes Leben zurück und ist immer noch sehr aktiv.
So wie sich sein Idol Dylan seit Jahrzehnten auf der „Never Ending Tour“ befindet, so hält der Mann aus Köln seine Fans seit langem augenzwinkernd mit dem „Märchen vom gezogenen Stecker“ hin. Bereits mehrfach wurden Abschiedstourneen angekündigt, und dann geht es doch immer wieder weiter. Vor allem seit seinem dramatischen Schlaganfall im Jahre 2011 legt Wolfgang Niedecken einen ungemeinen Arbeitseifer an den Tag, „dankbar dafür, noch eine Zugabe geben zu dürfen“, wie er selbst sagt.
Alles begann, als der damalige Kunststudent 1976 ziemlich desillusioniert und voller Liebeskummer in seiner Wohnung abhing, mit den Akkorden von „Cowgirl in the Sand“ von Neil Young auf seiner Klampfe herumhantierte und folgende Textzeilen hinzunuschelte: „Wenn de janz kapott bess, weil op einmohl einer fott es, vun dämm de meins, dat de ahn ihm hängs.“ Sein Kumpel Hans Heres, später erster BAP-Gitarrist, war jedenfalls am folgenden Tag vom Endresultat des Gejammers ziemlich beeindruckt und meinte: „Da musste unbedingt mehr von schreiben!“
Dylan für Arme im Chlodwig Eck
Aus den Textschnipseln entstand schließlich „Helfe kann dir keiner“, das Stück, das die Freunde immer wieder hören wollten („Spielt doch noch mal das kölsche Lied“). Niedeckens Mitstreiter schlugen „Bapp“ als Bandname vor, weil sie die Anekdoten ihres Kumpels über dessen geizigen Vater so liebten. Der Songwriter und Sänger war einverstanden, strich lediglich das zweite P und forderte, dass alle drei Buchstaben großgeschrieben würden: BAP also, und unter diesem Namen spielte die Truppe dann erste Konzerte in kleinen Clubs und Kneipen wie ihrem Stammlokal Chlodwig Eck in der Kölner Südstadt. Weil mangels Equipment alles ziemlich schlicht und akustisch gehalten wurde, galt Niedecken mit seinen Begleitern lange als „Dylan für Arme“.
Das änderte sich schlagartig, als Gitarrist Klaus „Major“ Heuser nach der Veröffentlichung des ersten Albums „Wolfgang Niedecken’s BAP rockt andere kölsche Leeder“ einstieg. Zwar wurde (und wird bis heute) weiter auf Kölsch getextet, doch entwickelte sich diese Mischung aus Folkbarden und Bänkelsänger nun zu einer richtigen Rockband. Vom zweiten Tonträger „Affjetaut“ wurden bereits 20.000 Exemplare abgesetzt, und als die Gruppe Anfang der 80er Jahre nochmals umbesetzt bzw. erweitert wurde und einen Plattenvertrag bei der EMI erhielt, ging es plötzlich richtig los. Wolfgang Niedeckens Bapp war am 18. September 1980 gestorben, und als man sich zu den Proben für das neue Album traf, brachte der Sänger einen Song mit, in dem es um einen fiktiven Dialog mit seinem verstorbenen Vater ging.
Verdamp lang her
Das Lied, das das Leben der Band verändern würde, sollte erst mal gar nicht mit aufs neue Album „Für usszeschnigge“, dann wurde es nicht als Single veröffentlicht und stattdessen „Frau, ich freu mich“ ausgekoppelt. Erst als die Radiostationen das Ding rauf- und runterspielten und es zum Megahit machten, weil die Zuhörer es immer wieder in die internen Hitparaden der Sender wählten, musste die EMI eine Single veröffentlichen, die bereits Nummer eins war. Niedecken hat des Öfteren zu Protokoll gegeben, dass er „Verdamp lang her“, seit es das Lied gibt, zu Ehren seines alten Herrn bei jedem einzelnen BAP-Konzert gespielt hat.
Auch hat er mehrfach darauf hingewiesen, wie dankbar er ist, dass er und auch die anderen Bandmitglieder damals bereits Ende 20 waren, als der ganz große Erfolg über sie hereinbrach und man sich daher nicht so leicht habe überrumpeln lassen und auch niemand übermäßig abgehoben sei. Das war auch gut so, denn Niedecken war fortan dank seiner subtilen Texte, der mitreißenden Musik seiner Band, aber auch dank seiner kumpelhaften, bescheidenen Art, das Vorbild einer ganzen Generation von Jugendlichen. Wenn man in den 80ern in den Teenagerjahren, sprich auf der Suche nach der eigenen Identität war und auch begann, sich politisch zu positionieren, war er der Typ, der irgendwie zu jedem Thema das sagte, was man selbst dachte, aber niemals so treffend hätte formulieren können.
Von „Rock gegen Rechts“ bis „Gemeinsam für Afrika“
Dieser Typ ist er noch heute, auch wenn seine Mannen und er nicht mehr der ganz große Knüller sind, aber das wird ihm sicherlich recht sein, schließlich hat er über Jahrzehnte an vorderster Front gekämpft. Musikalisch in (mit Überlappungen) vier verschiedenen, aber jeweils spannenden BAP-Besetzungen sowie unterschiedlichen, aber ebenso spannenden Soloprojekten und politisch oder sozial unermüdlich (aber nie selbstgefällig) für das Gute unterwegs.
Stellvertretend für das politische Engagement des Kölners seien hier einige Songtitel erwähnt, hinter denen jeweils mehr als nur ein sozialkritischer Text steckt, sondern die aktive Unterstützung einer Bewegung oder Organisation: 10. Juni; Kristallnaach; Nackt im Wind; Almanya; Sandino; Arsch huh, Zäng ussenander; Noh Gulu usw. Für einige Initiativen, die sich hinter den Liedern verbergen, wurde dem Mann, der seit 1994 in zweiter Ehe mit der Fotografin Tina Golemiewski verheiratet ist und dessen zwei Töchter – leicht inspiriert vom großen Bob – Isis-Maria und Joana-Josephine heißen, 1998 das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Und all das hat seinen Ursprung in einem „Millionedorf ahm Rhing“ in einer „Sprooch, die mer övverall erkennt; die mer’n Düsseldorf zwar Rheinisch, doch em Rest der Welt Kölsch nennt”, wie Niedecken sie in einem seiner schönsten Songs „Für ‘ne Moment“ scherzhaft kokett und pathetisch beschreibt. „Auf die Heiligen Drei Könige – maach et joot, Wolfgang!“
Zehn bedeutende Alben aus Niedeckens Schaffen mit oder ohne BAP:
1) BAP: Für usszeschnigge (1981)
BAP starten mit ihrem dritten Album voll durch und wollen einfach in keine Schublade passen: Ihre Musik hat weder etwas mit der Neuen Deutschen Welle zu tun, die dabei ist, zu ihrem kommerziellen Höhenflug anzusetzen, noch ist sie passend für die Birkenstockfraktion, die in Woodstock hängen geblieben ist. Es ist einfach gute Musik mit engagierten Texten, bei denen man in den Anfangsjahren ihrem Urheber noch dankbar ist für die Übersetzungen ins Hochdeutsche, die dieser stets im Platteninneren mitliefert.
Beste Tracks: „Jupp“, die Lebensgeschichte eines Obdachlosen, bei dessen Intro sich Horden von Nachwuchsgitarristen beim Nachspielen die Finger brechen; „Frau, ich freu mich“, eine Art Roadmovie und natürlich das unverwüstliche „Verdamp lang her“ mit seiner ebenso unverwüstlichen Police-Gitarrenfigur in Moll, diesem „Takatakatakatak“.
2) BAP: Vun drinne noh drusse (1982)
Die Band hat eine gigantische Tournee gestartet, spielt Deutschland rauf und runter und auch in Luxemburg entwickelt sich nach ersten Auftritten in Grevenmacher und Born eine ansehnliche und treue Fanbase. Die Kölner stehen mit dem Vorgängeralbum auf Platz 1 der deutschen Charts, als sie sich entgegen dem Rat aller Verantwortlichen ihrer Plattenfirma dafür entscheiden, die neue Platte herauszubringen. Man schafft das Kunststück, sich selbst von Platz 1 zu verdrängen und so führen BAP fortan die beiden Spitzenpositionen der deutschen Albumcharts an.
Beste Tracks: „Kristallnaach“ über Rassismus im Alltag; „Do kanns zaubere“, das wohl schönste Liebeslied aus der Feder Niedeckens, und „Nit für Kooche“, mit dem die Musiker ihre Abneigung gegen den Kölner Karneval zum Ausdruck bringen.
3) BAP: Zwesche Salzjebäck un Bier (1984)
Viele Fans halten dieses fünfte Studioalbum für das beste BAP-Album überhaupt. Niedecken & Co. verarbeiten darin unter anderem ihre gescheiterte Tournee durch die DDR. Die Songs haben einen sehr tighten Sound; man experimentiert im Studio mit Bläsern und Streichern; es gibt keinen einzigen Lückenfüller. Und schon erfolgt die nächste Tour, bei der BAP auch wieder bei uns haltmachen, und zwar am 12. Dezember in der Differdinger Sporthalle, wo sie ein sehr, sehr gutes Konzert abliefern. Für weniger als dreieinhalb Stunden tritt die Band zu jener Zeit nicht an.
Beste Tracks: das betörende „Bahnhofskino“ (beste Zeile: „Castaneda, Karl May, Brecht, Wilhelm Busch, Chuck Berry un Fritz Lang pokern öm et Patent vum Perpetuum mobile“); das rockige „Alexandra“ und „Sendeschluss“, in dem die Geschichte einer jungen Ausreißerin mit Orchesterbegleitung erzählt wird.
4) Wolfgang Niedecken & Complizen: Schlagzeiten (1987)
Nach dem sonderbaren, überproduzierten Album „Ahl Männer, aalglatt“, bei dessen Einspielung es zu Spannungen mit dem Starproduzenten Mack, aber auch unter den Musikern gekommen ist, stellt Niedecken eine eigene Band zusammen und macht erst mal sein Ding. Das Album enthält u.a. den zehnminütigen Brocken „Nie met Aljebra“, den wohl persönlichsten und eindringlichsten Song, den Niedecken je geschrieben hat. Er verarbeitet darin seine Kindheitserinnerungen und deutet hier bereits an, dass er von einem katholischen Pater während seiner Internatszeit missbraucht wurde, was er später konkret bekannt machen wird.
Beste Tracks: „Nie met Aljebra“; „Vatter“, eine Anklage gegen Gott, der zu viel Leid zulässt und Politiker, die im Namen Gottes Menschen unterdrücken, sowie das swingende und sehr witzige „Neuleed“, das die Jazzlegende Paul Kuhn arrangiert hat.
5) Wolfgang Niedecken: Leopardefell (1995)
Mitte der 90er stellt Niedecken noch einmal eine Solo-Truppe zusammen, diesmal aus Teilen der Lindenberg- und Maffay-Band wie Gitarrist Carl Carlton oder Schlagzeuger Bertram Engel, nennt sie Leopardefellband und nimmt ein Album mit ausschließlich sehr eigenwilligen Bob-Dylan-Interpretationen auf. Seine Nachdichtungen sind mutig, ziehen die eigene Erlebniswelt mit ein und sind auch musikalisch ein mehr als gelungenes Experiment.
Beste Tracks: „Unfassbar vill Rään“ (A hard rain’s a-gonna fall); „Leopardefellhoot“ (Leopard skin pillbox hat); „Sara“ (Sara).
6) BAP: Amerika (1996)
Niedecken scheint die Energie des Leopardefell-Projektes auf die Einspielung des neuen BAP-Albums zu übertragen, das sehr frisch und teilweise musikalisch ähnlich gewagt klingt. Jedenfalls gilt auch hier: weg von der antiquierten Klampfenseligkeit.
Beste Tracks: „Amerika“, eine musikalische Großtat über die Befreiung Kölns durch amerikanische G.I.s; „Nix wie bessher“, ein ebenso nostalgischer wie mitreißender Song, der sich lange im Liverepertoire der Band hält, und „Novembermorje“, ein intensives Stück über den verstorbenen Maler Michael Buthe.
7) BAP: Tonfilm (1999)
„Major“ ist weg: ein schwerer Schlag für viele Fans, da der Gitarrist neben Niedecken als der wichtigste Mann bei der Firma BAP angesehen wurde, wohl aber auch sehr egozentrisch war. Zwei weitere Urgesteine lösen ebenfalls ihren Vertrag auf: Keyboarder „Effendi“ Büchel sowie „Fonz“ Wollrath am Mischpult. Die neuen BAP nehmen erst mal ein Übergangsalbum auf: Zu gleichen Teilen gibt es ältere BAP-Songs in alternativen Versionen und neue Kompositionen.
Beste Tracks: „Vum donnernde Lääve“ von Wolf Biermann; der beste neue Niedecken-Song „Rita, mir zwei“ sowie das Kultstück „Ruut, wiess, blau, querjestriefte Frau“ in einem fulminanten Arrangement.
8) BAP: Aff un zo (2001)
Okay, dass der Titelsong, mit dem BAP einen ziemlichen Hit landen, recht einfach gestrickt ist – geschenkt! Dafür gibt es andere tolle Stücke. Die neue Band um Gitarrist Helmut Krumminga, Keyboarder Michael Nass und Perkussionistin Sheryl Hackett hat sich definitiv gefunden und gibt auch live wieder richtig Gas, was sie u.a. bei „Rock am See“ in Weiswampach unter Beweis stellt.
Beste Tracks: „Shoeshine“, das uns skurrile Menschen im Grand Hotel in San José vorstellt und auch musikalisch lateinamerikanische Elemente enthält; die Hommage an Niedeckens Mutter „Chippendale Desch“ sowie das abschließende „Dir allein“, in dem Hackett bei den Backing Vocals und Trommler Jürgen Zöller am Ende alles geben.
9) Wolfgang Niedecken & Die WDR Big Band Köln: Niedecken Koeln (2004)
Diese WDR Big Band, ansonsten in Diensten von Jazzgrößen wie Carmen McRae, Maceo Parker oder Joe Zawinul, ist eine der besten ihrer Zunft. Spontan begleitet das Ensemble Niedecken bei einem Fernsehauftritt, wobei die Idee zu einer Zusammenarbeit entsteht. Heraus kommen diese mit Liebe zum Detail arrangierten 13 jazzige Liebeserklärungen an das „Millionedorf ahm Rhing“. Ein paar Monate später sind BAP Headliner beim „Rock um Knuedler“ und lassen sich während des Gigs den ominösen gestohlenen Oleander von den luxemburgischen Dieben überreichen, die seit geraumer Zeit ein schlechtes Gewissen plagt.
Beste Tracks: „Für ’ne Moment“ – Nostalgie pur!; „Amerika“ – auch in diesem Gewand Spitzenklasse, sowie „Unger Krahnebäume“, das zeigt, dass eine Bigband auch rocken kann.
10) Niedeckens BAP: Alles fließt (2020)
Und wieder sind neue Musiker am Start, wie (seit 2014) der sehr talentierte Gitarrist Ulrich Rode, der auch einen großen Teil der Musik geschrieben hat auf diesem vorerst letzten Werk Niedeckens.
Beste Tracks: „Ruhe vorm Sturm“ – als ob der Prophet Niedecken den Angriff auf das Kapitol vorausgesehen hätte; „Mittlerweile Josephine“, die bezaubernde Liebeserklärung an seine Tochter Joana-Josephine, sowie „Jenau Jesaat: Op Odyssee“, weil der Track die vorliegende Rahmenerzählung so schön abschließt mit der Textzeile: „Wie Ronnie, Keith un Bob, will ich leever rocken, bess dä Herrjott säht: Kumm ropp!“
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