InterviewEin Militärexperte über Waffenlieferungen, Söldner und Luxemburgs Beitrag in der Ukraine

Interview / Ein Militärexperte über Waffenlieferungen, Söldner und Luxemburgs Beitrag in der Ukraine
Ein ukrainischer Soldat inspiziert eine NLAW-Panzerabwehrlenkwaffe – Luxemburg hat der Ukraine 100 dieser Waffen zur Verfügung gestellt Foto: AFP/Genya Savilov

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Der österreichische Oberst Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt ist derzeit ein gefragter Mann. Als Militärexperte spricht er im Interview über die Fehler der Russen und die Erfolge der Ukrainer – und darüber, warum man diese nicht überschätzen sollte.

Tageblatt: Warum ging die militärische Strategie Russlands bislang nicht auf?

Markus Reisner: Die russischen Streitkräfte haben zu Beginn versucht, möglichst schnell Kiew einzunehmen – als zentrales Symbol des Staates und damit des militärischen oder politischen Handelns. Das hat nicht geklappt. Zudem haben die Ukrainer die russischen Angriffe an günstiger Stelle abgewehrt. Weil sie direkt an der Front den Angreifern zahlenmäßig unterlegen waren, haben sie die Russen vorpreschen lassen und hinter ihrem Rücken, in den bereits eroberten Gebieten, ihre Versorgungslinien angegriffen.

Warum haben die Russen damit nicht gerechnet?

Normalerweise muss man damit nicht rechnen, weil Soldaten, wenn sie von einer Seite überrollt werden, sich meistens ergeben. Schließlich ist der Krieg für diese Soldaten dann vorbei und sie hoffen auf eine gute Behandlung in Kriegsgefangenschaft und darauf, bald nach Hause zu kommen. Das ist aber nicht passiert – und stattdessen gab es aus dem Hinterhalt heraus diese verheerenden Angriffe.

Wie kann man sich das vorstellen?

Das sind zum Beispiel zehn Tanklastwagen und vorne und hinten ein Bedeckungsfahrzeug. Werden die plötzlich angegriffen, können sie sich kaum wehren. In der Folge gelangen weder Treibstoff noch Munition oder Verpflegung zur kämpfenden Truppe, die dann warten muss, bis alles reorganisiert ist. Das war die böse Überraschung für die Russen.

Etliche Staaten, darunter Luxemburg, haben die Ukrainer mit Waffen versorgt. Sogar Luxemburg hat 100 schultergestützte Flugabwehrlenkwaffen für den Einsatz gegen Panzer an Kiew geliefert und damit nahezu seinen ganzen Bestand leergeräumt. Was haben diese Waffen den Ukrainern bislang gebracht?

Zu den Javelin und NLAW kommen noch ukrainische Systeme wie die Strela hinzu sowie Stinger-Raketen, die unmittelbar vor dem Angriff aus den baltischen Staaten geliefert wurden. Diese könnten den Russen durchaus einen schnellen Erfolg in Kiew vereitelt haben. Ich rate trotzdem zur Vorsicht – die Verluste der Russen bewegen sich im Rahmen. Sie haben im Schnitt pro Tag ein Flugzeug und einen Kampfhubschrauber verloren. Das ist, bei so einem Konflikt, in der Norm. Dasselbe gilt für die russischen Panzerausfälle. Um beispielsweise einen eingegrabenen ukrainischen Panzer auszuschalten, brauchen die Russen vier eigene Panzer – die drei ersten werden abgeschossen, der vierte aber knackt den ukrainischen Panzer und nimmt das Gelände in Besitz.

Bedeutet das nicht enorme Verluste für die Russen?

Aus unserer Sicht mag der Verlust groß scheinen. Er ist aber in der Norm des militärischen Angriffsverfahrens. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Russen ein ganz anderes Denken über ihre Kampffahrzeuge haben als wir. Diese Systeme sind Wegwerfsysteme. Wenn da etwas nicht mehr funktioniert, bleibt es halt liegen. Diese vom Westen gelieferten Waffensysteme haben zwar einen entscheidenden Einfluss, weil sie das russische Vorankommen verzögern. Wir dürfen aber nicht den Denkfehler machen und glauben, dass solche Waffensysteme den Ukrainern ausreichen, um diesen Krieg zu gewinnen. Sie können vielleicht eine Verhandlungsposition erzwingen, weil sie alles verzögern, mehr aber auch nicht.

Die Russen sind trotzdem alles andere als erfreut über diese Unterstützung der Ukraine aus dem Westen. Mit dem Raketenangriff gegen das Ausbildungszentrum nahe der polnischen Grenze am vergangenen Sonntag wollte Moskau doch genau diese Nachschublinie angreifen, oder nicht?

Mit diesem Schlag hat Moskau sicher Waffenlieferungen zerstört – und im Westen eine Schockwelle ausgelöst. Auch wegen der Art, wie der Angriff erfolgt ist, nämlich indem sie aus dem Schwarzen Meer mit schiffsgestützten Marschflugkörpern angegriffen haben. Ein solches Waffensystem hat man davor nicht im Einsatz gesehen. Putin hat so auch gezeigt: Seht her, das haben wir auch! Das Gleiche gilt für russische Drohneneinsätze, die wir zuvor kaum gesehen haben, die sich aber jetzt häufen.

Nach dem Angriff auf dieses Ausbildungszentrum wurden bislang vier tote ukrainische Soldaten begraben. Doch sehr wahrscheinlich befanden sich auch viele Europäer, die als Söldner für die Ukraine kämpfen wollen, auf dem Stützpunkt. Gibt es Informationen über Opferzahlen?

Hierzu gibt es keine konkreten Zahlen. Bislang sind nur drei Videos aufgetaucht von einem Briten, einem Brasilianer und einem Franzosen, die erzählen, wie es ihnen da ergangen ist und die sich fragen, ob sie dort für dumm verkauft worden sind. Es hat Dutzende Tote gegeben, aber wir werden hier weder vonseiten der NATO noch von den Ukrainern ein offizielles Statement bekommen. Diese Personen bewegen sich in einer Grauzone. Es sind Söldner, die auf Eigeninitiative hingereist sind und sich der ukrainischen beziehungsweise der georgischen Freiwilligenlegion als Untergruppe angeschlossen haben. Wir wissen aus Videos, dass viele nach diesem Angriff nicht weitergefahren sind und versucht haben, das Land wieder zu verlassen. Der Brite sagte in seinem Video, dass das gar nicht so einfach gewesen sei, weil die Ukrainer ihm gesagt hätten: Du bleibst jetzt da.

Die Ukraine verfügt über türkische Bayraktar-TB2-Kampfdrohnen, aber die USA gehen einen Schritt weiter und haben angekündigt, Kiew mit dem Switchblade-System auszustatten. Was hat es damit auf sich?

Wir sehen hier zweifelsohne eine neue Note bei den Waffenlieferungen. Bei Switchblade handelt es sich um Kamikaze-Drohnen, die auch aus großer Entfernung sehr präzise Ziele angreifen können, indem sie sich auf diese stürzen. Das wird sich auf die Einsatzführung der Russen niederschlagen, weil die Verluste entsprechend ansteigen. Die russischen Streitkräfte haben auch nicht die Abwehrsysteme, um derartigen Drohnen etwas entgegensetzen zu können. Die sind so klein, dass die Radarsysteme sie nicht erkennen.

Wie gelangen die Waffen aus dem Westen überhaupt in die Ukraine?

Die werden nach Polen geflogen, dort entladen, auf Fahrzeuge verfrachtet und zur Grenze gebracht. Da muss es dann die Übergabe geben. Wahrscheinlich wird es so sein, dass diese Fahrzeuge dann einfach weiterfahren. Wir wissen, dass dafür auch zivile Fahrzeuge verwendet werden. Davon gibt es bereits Bilder, zum Beispiel von Pick-ups, die mit deutschen Panzerfäusten beladen sind. Dann werden sie zu Verteilerzentren gebracht, wie dieses jüngst von Russland beschossene Trainingszentrum eines war. Von dort werden sie dann in die Tiefen des Landes gebracht, was die Ukrainer verdeckt machen. Es gibt auch schon viele Bilder von Russen mit erbeuteten Waffen aus dem Westen. Nicht wenige NLAW und Javelin sind inzwischen in russischer Hand. Die Russen haben sogar eine kurze Gebrauchsanleitung auf Russisch geschrieben, die den Umgang mit diesen Waffensystemen erklärt, und setzen sie wieder gegen die Ukrainer ein. Deswegen birgt dieser Konflikt auch wegen der ganzen Fliegerabwehrlenkraketen eine mittelfristige Gefahr. Die Frage wird irgendwann sein, ob die alle in der Ukraine bleiben oder ob das ein Land wird, wo man sich recht einfach solche Systeme besorgen kann.

Die Ukraine fordert auch eine Flugverbotszone und die Lieferung von Kampfflugzeugen.

Die ukrainische Seite versucht, diesen Konflikt zu internationalisieren. Das Verlangen nach solchen Maßnahmen zeigt leider auch, wie sehr die ukrainischen Luftstreitkräfte wahrscheinlich schon dezimiert sind.

Welche Risiken geht der Westen mit seinen Waffenlieferungen ein?

Der Zweck heiligt die Mittel, das ist Machiavelli in Reinkultur und sehr verständlich. Russland ist sehr deutlich der Aggressor, und unsere Sympathie liegt auf der Seite der Ukrainer, keine Frage. Trotzdem müssen wir aufpassen. Mich erinnert das oft an das Jahr 1914, wie es Christopher Clark in seinem Buch „Die Schlafwandler“ beschreibt. Es ist so ein Mit-Hurra-in-den-Krieg-Gefühl, das sich breitmacht. Gerade überschlagen wir uns mit Maßnahmenpaketen von Sanktionen bis hin zu Waffenlieferungen. Darauf kann Ernüchterung folgen, weil nicht das passiert, was wir glauben: Die Russen knicken nicht ein, der Konflikt hört nicht auf, die Flüchtlinge werden noch mehr. Auch ein gewisser Syrien-Effekt kann eintreten: Alle schicken Waffen, es kommt zu keiner Entscheidung und wir haben quasi ein Syrien vor der eigenen Haustür.

Na gut, aber wie geht man denn jetzt um mit der Ukraine?

Es ist eine fatale Situation. Theoretisch gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder man zieht an der Seite der Ukraine in den Krieg – was niemand wollen kann. Die andere ist, man betrachtet die Situation, wie sie ist und muss warten, wie sie ausgeht. Gerade versuchen wir, in fast schon homöopathischer Dosis Unterstützung zu leisten. Doch auch das kann fatal enden. In der Ukraine prallen konventionelle Streitkräfte massiv aufeinander. Waffensysteme wie diese Mehrfachraketenwerfer haben wir seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf europäischem Boden nicht mehr erlebt – das ist verheerend.

Oberst Markus Reisner im Zoom-Gespräch mit dem Tageblatt
Oberst Markus Reisner im Zoom-Gespräch mit dem Tageblatt Foto: Screenshot
W.D.
17. März 2022 - 14.29

Hier spricht ein kampferprobter Offizier einer schlagkräftigen, modernen Armee, der Strategie und Taktik wahrscheinlich im Homeoffice beim PC Spiel kennengelernt hat.