Am Abend des 26. Oktobers 1962 drang die Polizei in die Redaktionsräume des Hamburger Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ ein. Die Beamten beschlagnahmten sämtliche Schreibmaschinen sowie 30.000 Blatt Papier. Kurze Zeit später wurde Rudolf Augstein, der Herausgeber des Magazins, verhaftet.
Eine böse Überraschung erlebte auch Conrad Ahlers, der stellvertretende Chefredaktor des „Spiegels“, der gerade in Torremolinos in den Ferien weilte: Um drei Uhr morgens stürmte die spanische Polizei sein Hotel und nahm ihn fest. Wie sich später herausstellte, hatte Verteidigungsminister Franz Josef Strauss (CSU) den Haftbefehl über seinen Militärattaché in Madrid erwirkt.
„Bedingt abwehrbereit“
Anlass dieser Nacht-und-Nebel-Aktion war eine von Ahlers verfasste Titelgeschichte des „Spiegels“, die den Namen „Bedingt abwehrbereit“ trug und bereits am 10. Oktober veröffentlicht worden war. Darin wurde ausführlich von den Ergebnissen des Nato-Stabsmanövers „Fallex 62“ berichtet. Die Bundeswehr, so Ahlers, wäre niemals fähig, einem Angriff des Warschauer Paktes standzuhalten, da sie viel zu schlecht gerüstet sei und über zu wenig Personal verfüge. Zudem gebe es gravierende deutsch-amerikanische Differenzen in Fragen der Kriegsführung.
Einen Teil seiner Informationen hatte Ahlers von Alfred Martin, einem (ebenfalls verhafteten) Obersten vom Führungsstab der Bundeswehr. Martin hatte sich an den „Spiegel“ gewandt, weil er wusste, dass Strauss eigene deutsche Atomwaffen anstrebte; der Offizier war deshalb in großer Sorge.
„Ungeheurer Verrat“
Bereits am 11. Oktober hatte der Würzburger Rechtsprofessor Friedrich-August von der Heydte den Spiegel wegen Geheimnisverrats angezeigt. Gemäß dem Journalisten Dieter Wild, der damals für den „Spiegel“ arbeitete, handelte es sich bei diesem Mann um einen „konservativen Ultra“, der erst noch von Hitler persönlich mit einem Orden ausgezeichnet worden war.
Seltsamerweise teilte man aber im Verteidigungsministerium Heydtes Auffassung, obwohl der „Spiegel“ keine Informationen veröffentlicht hatte, die nicht schon zuvor in anderen Zeitungen zu lesen gewesen waren. Strauss beklagte sich bei Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU), der Spiegel habe „einen ungeheuren Verrat brisanter militärischer Geheimnisse“ begangen. Am 23. Oktober stellte der Erste Staatsanwalt Siegfried Buback (später von der RAF ermordet) die Haft- und Durchsuchungsbefehle aus.
Heftige Reaktionen
Große Teile der Öffentlichkeit waren nicht bereit, das harsche Vorgehen der Staatsorgane widerspruchslos hinzunehmen. Fast täglich fanden in den Universitätsstädten Studentendemonstrationen statt, bei denen Slogans wie „Spiegel tot, Freiheit tot“ oder „Augstein raus, hinein mit Strauss“ skandiert wurden.
Dennoch dachte Strauss zunächst gar nicht daran, von seinem Amt zurückzutreten. Schließlich genoss er die uneingeschränkte Unterstützung des greisen Bundeskanzlers Adenauer, der am 7. November im Bundestag sogar von einem „Abgrund von Landesverrat“ sprach.
Weniger begeistert war allerdings die FDP, die Koalitionspartnerin der CDU/CSU im Bund, denn Strauss hatte es nicht einmal für nötig gehalten, den eigentlich zuständigen FDP-Justizminister Wolfgang Stammberger von der geplanten Aktion auch nur zu informieren. Nachdem alle fünf Bundesminister der FDP am 19. November unter Protest zurückgetreten waren, musste Strauss elf Tage später doch noch seinen Hut nehmen. Die Koalition konnte im Dezember durch eine Kabinettsumbildung gerettet werden.
Liberalisierungsschub
Im Mai 1965 lehnte der Bundesgerichtshof die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen Conrad Ahlers und Rudolf Augstein ab. Andere Beschuldigte wurden freigesprochen. Die Bonner Staatsanwaltschaft warf Strauss zwar „Amtsanmassung“ und „Freiheitsberaubung im Amt“ vor, doch zu einer Verurteilung kam es nicht.
Die „Spiegel-Affäre“ machte deutlich, dass die Bundesrepublik in den 13 Jahren ihres Bestehens einen erstaunlichen Liberalisierungsschub erlebt hatte. Offenkundig waren die überkommenen obrigkeitsstaatlichen Traditionen bei einem großen Teil der Bevölkerung unpopulär geworden. Viele dürften dem Bonner Politologen Karl Dietrich Bracher zugestimmt haben, als er in der „FAZ“ eine „obrigkeitliche Staatsideologie“ kritisierte, „die den Bürger zum Untertanen degradiert und der Ordnungs- und Militärverteidigung die Prinzipien der Demokratie unterwirft“. Jahrzehnte später resümierte der Historiker Heinrich August Winkler: „Die Bundesrepublik war westlicher geworden, als es der Vater der Verwestlichung (gemeint ist Adenauer, R. M.) vorhergesehen und erstrebt hatte.“
Conrad Ahlers diente übrigens von 1966 bis 1969 der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) als Stellvertretender Leiter des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Finanzminister in jenem Kabinett war – Franz Josef Strauss.
De Maart

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