„Der Fall Russland hat auch positive Aspekte“

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Im Tageblatt-Interview geht WADA-Generaldirektor Olivier Niggli auf die neuesten Entwicklungen im Fall Russland ein und erklärt, wie der Skandal um systematischen Betrug dabei ist, den Anti-Doping-Kampf zu verändern.

Olivier Niggli ist seit dem 1. Juli 2016 Generaldirektor der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA). Das Tageblatt hatte sich bereits im April 2016, kurz nach seiner Nominierung als Nachfolger des Neuseeländers David Howman an der Spitze der WADA, mit dem Westschweizer unterhalten. Damals hatte er einige ambitionierte Projekte angesprochen. Nun, knapp zwei Jahre später, sind einige bereits in die Tat umgesetzt worden, und das recht erfolgreich. So zum Beispiel das Whistleblower- oder Compliance-Programm, die einen großen Einfluss auf den Kampf gegen Doping haben. Das Tageblatt hat sich vergangene Woche in Lausanne erneut mit dem Juristen, der seit der Gründung der WADA 1999 im Anti-Doping-Kampf aktiv ist, unterhalten.

Tageblatt: Wie bewerten Sie die aktuelle Situation in Russland?

Olivier Niggli: Die momentane Situation in Russland ist etwas paradox. Zum einen haben wir eine Anti-Doping-Agentur, die mit der Hilfe von internationalen Experten neu aufgebaut wurde und recht gut funktioniert. Die Tests, die nun durchgeführt werden, bereiten mir jedenfalls kein Kopfzerbrechen, da ja auch immer noch die britische Anti-Doping-Agentur und internationale Experten mit der Rusada zusammenarbeiten. Auf der anderen Seite sind aber immer noch zwei Bedingungen nicht erfüllt, um Russland wieder als „code-compliant“ einzustufen.

WADA-Präsident Craig Reedie und Sie selbst haben zuletzt klare Worte an Russland gerichtet. Gehen Sie davon aus, dass Russland den McLaren-Report anerkennen wird?

Was wir von Russland verlangen, ist, dass es das systemische Ausmaß des Dopingproblems anerkennt. Russland hat schließlich auch akzeptiert, vom IOC von den Olympischen Winterspielen ausgeschlossen zu werden. Die Schmid-Kommission stützte sich zum Teil ja auf den McLaren-Bericht. Wir wollen eine schriftliche Erklärung von Russland, dass man das Problem anerkennt, so dass wir ein neues Kapitel aufschlagen können. Es geht auch darum, dass den russischen Athleten, Trainern und Betreuern klar gesagt wird, dass das, was vorgefallen ist, inakzeptabel war und man ab jetzt anders arbeiten wird. Der neue Rusada-Direktor hat erklärt, dass man ein Kulturwandel benötige. Dieser muss von ganz oben ausgehen, also von den russischen Behörden. Und ich hoffe, dass dieser auch stattfinden wird.

Und wenn nicht?

Wir haben einen klar definierten Prozess, den wir einhalten. Sollte Russland die Bedingungen aus unserer „Roadmap“ nicht erfüllen, wird sich unsere Compliance-Abteilung damit befassen und die Entwicklungen an das Foundation Board weiterleiten. Bislang hat das Foundation Board immer einstimmig beschlossen, dass Russland sämtliche Bedingungen erfüllen muss. Solange das nicht der Fall ist, wird sich wohl nicht viel an der aktuellen Lage ändern. Im Mai wird die nächste Versammlung stattfinden und dann werden wir sehen, wie sich die Situation entwickelt hat.

Wie hat der russische Doping-Skandal den Anti-Doping-Kampf beeinflusst?

So schlimm dieser Dopingskandal auch ist, hat er dennoch ein paar positive Nebenwirkungen auf die Anti-Doping-Bewegung. Konkret sehe ich, dass die WADA von den Regierungen sehr stark unterstützt wird. Der Anti-Doping-Kampf befindet sich mittlerweile auf einem wesentlich höheren Niveau als noch vor wenigen Jahren. Ich kann mich erinnern, dass wir jahrelang kämpfen mussten, um eine Budgeterhöhung von 0,5 oder einem Prozent zu erhalten. Letztes Jahr ist unser Budget um acht Prozent gestiegen und wir befinden uns momentan in Verhandlungen, um ein mehrjähriges Budget aufzustellen, welches ebenfalls substanzielle Erhöhungen beinhaltet. Zudem haben wir es innerhalb von sechs Monaten geschafft, klare Standards für die Compliance auszuarbeiten. Sollte es noch einmal zu einem ähnlichen Fall wie Russland kommen, haben wir nicht nur klar definierte Sanktionen, sondern auch der Prozess, der zu diesen Sanktionen führt, ist im Detail vorgegeben. Wenn man bedenkt, dass im Fall Russland lange Zeit unklar war, wer denn jetzt die Verantwortung übernehmen muss und welche Sanktionen ausgesprochen werden können, sind die Compliance-Standards ein großer Fortschritt. Ohne den Druck, der durch den Russland-Skandal auf sämtlichen Akteuren lag, hätten wir niemals innerhalb von nur sechs Monaten einen Konsens gefunden.

Es wäre naiv anzunehmen, dass lediglich in Russland massiv betrogen wird. Wird sich der Russland-Skandal in einem anderen Land wiederholen?

Dadurch dass wir nun gerüstet sind für einen solchen Fall und klare Prozeduren ausgearbeitet haben, wird sich der Fall Russland nicht eins zu eins wiederholen. Eines Tages werden wir aber wahrscheinlich mit einer ähnlichen Situation zu tun haben, und dann werden wir bereit sein. Ich bin überzeugt, dass das System, das wir ausgearbeitet haben, auch funktioniert und deswegen bereitet ein möglicher Dopingskandal von großem Ausmaß auch nicht wirklich Kopfzerbrechen.

Der Fall Russland hat auch gezeigt, wie wichtig Ermittlungen im Kampf gegen Doping sind. Die WADA hat auch hier in kurzer Zeit eine neue Abteilung geschaffen. Hätten Sie damit gerechnet, dass sich diese so schnell entwickeln würde?

Als ich Günter Younger rekrutiert habe, war mir klar, dass wir umgehend eine solche Abteilung brauchen würden. Im Fall Russland wurden zwei Ermittlungen von unabhängigen Kommissionen durchgeführt, die uns viel Geld gekostet haben. Wir mussten dafür sorgen, solche Ermittlungen in Zukunft effizienter und ökonomischer zu gestalten. Dass die Abteilung also schnell ihre Arbeit aufnehmen und auch schnell wachsen würde, war mir klar. Was mich allerdings überrascht hat, war der große Erfolg unseres Programms für Whistleblower, „Speak up“. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sich so viele Leute bei uns melden würden. Auf der einen Seite ist es etwas besorgniserregend, auf der anderen Seite zeigt es aber auch, dass eine Vertrauensbasis zwischen der WADA und den Whistleblowern besteht.

Momentan kann die WADA lediglich 15 Prozent der eingegangenen Hinweise verarbeiten. Nicht gerade ein hoher Prozentsatz.

Da stimme ich Ihnen zu. Wir sind uns diesem Problem bewusst und wollen so schnell wie möglich die 50-Prozent-Marke erreichen. Für Whistleblower ist es wichtig zu sehen, dass wir ihren Informationen nachgehen. Die Zusammenarbeit mit den „lanceurs d’alertes“ ist aber auch sehr komplex. Wir müssen ihnen garantieren können, dass wir ihre Anonymität wahren, aber zugleich muss auch ein Vertrauensverhältnis für eine längere Zusammenarbeit entstehen. Es ist nicht so, dass ein Whistleblower uns eine Info weitergibt und wir ihn dann fallen lassen. Die Zusammenarbeit ist zeitintensiv und die neue Abteilung wird sich in Zukunft weiterentwickeln, um diesen Ansprüchen gerecht zu werden.

Wie wird sich der Anti-Doping-Kampf in den kommenden Jahren noch verändern?

Leider habe ich keine Kristallkugel. Es ist schwer vorauszusagen, wie sich der Anti-Doping-Kampf noch weiter verändern wird. Ein wichtiger Bereich ist die Erziehung und Bildung. Vor allem in Ländern, in denen das Bewusstsein im Kampf gegen Doping noch nicht so ausgeprägt ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der technologische Fortschritt und die Art und Weise, wie wir Daten auswerten werden. Es wird viel von künstlicher Intelligenz und Big Data gesprochen. Der Anti-Doping-Kampf ist ein Bereich, in dem sehr viele Informationen gesammelt werden, die nicht immer ausreichend verarbeitet werden können. Wir werden in Zukunft Studien und Forschungen durchführen müssen, wie wir die Informationsverarbeitung mit Hilfe des technologischen Fortschrittes effizienter gestalten können. Da gibt es noch sehr viel Potenzial.


Zur Person

Olivier Niggli ist seit dem 1. Juli 2016 Generaldirektor der WADA. Der aus La Chaux-de-Fonds in der Romandie stammende Schweizer ist ein Mann der ersten Stunde, wenn es um den Anti-Doping-Kampf geht. 1999, als Konsequenz aus dem Festina-Skandal (Juli 1998), wurde der Jurist gemeinsam mit anderen Personen damit beauftragt, eine unabhängige Anti-Doping-Agentur aufzubauen. Es war die Geburtsstunde der WADA. Niggli, der neben seinem Jura-Studium auch noch einen MBA-Abschluss hat, war von 2001 bis 2011 Finanzchef und Leiter der Rechtsabteilung. Anschließend war er bis zum 1. Juli 2016 als „Chief Operating Officer“ und „General Counsel“ aktiv.


Start der Doping-Serie

Das Tageblatt war letzte Woche auf dem jährlichen WADA-Symposium in Lausanne. Das Interview mit Olivier Niggli ist der Start einer Artikel-Serie über die Dopingbekämpfung. Bis einschließlich Samstag wird das Tageblatt täglich einen Aspekt des Anti-Doping-Kampfs beleuchten. Unten stehend die verschiedenen Themen unserer Serie.