ReportageIn der weißrussichen Provinz ist der Widerstand gegen Lukaschenko schwierig

Reportage / In der weißrussichen Provinz ist der Widerstand gegen Lukaschenko schwierig
Die Widerständler aus Wjalikaja Berastawica: Nur mehr wenige wagen es in der weißrussischen Provinz, dem Diktator in Minsk die Stirn zu bieten Foto: Paul Flückiger

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Im weißrussischen Dorf Wjalikaja Berastawica kam es nach Lukaschenkos Wahlfälschungen zur ersten Demonstration seit Ende der Sowjetunion. Doch inzwischen ist die Repression wieder übermächtig.

Bloß nicht auffallen, ist die Devise. Doch kaum ist die Leninstatue auf dem zentralen Dorfplatz fotografiert, fährt ein Polizei-Jeep langsam und drohend vorbei, der Aufpasser kurbelt die Fensterscheibe herunter und blickt düster.

Während die Proteste in der Hauptstadt Minsk auch sechs Wochen nach den dreisten Wahlfälschungen täglich weitergehen, sind sie in den kleineren Orten abseits der großen Städte zum Verstummen gekommen. Im 3.600-Einwohner-Ort Wjalikaja Berastawica, 60 Kilometer südlich der aufmüpfigen Gebietshauptstadt Grodno, ist die Opposition wieder in den Untergrund abgetaucht. Das Dorf ist dennoch typisch für den Widerstand in der landwirtschaftlich geprägten Provinz, die den Autokraten Alexander Lukaschenko 26 Jahre lang unterstützt hatte. Und wer einmal die Angst überwunden und protestiert hat, kann es auch wieder tun. Das macht die Lage für das Regime so gefährlich.

Sergej Schymel wartet am verabredeten Treffpunkt neben der Schule, springt in den Wagen und ist in seinem Redefluß kaum zu stoppen. Der arbeitslose Heizungsmonteur ist so etwas wie der lokale Revolutionsführer. Der 50-Jährige trägt einen weißen Hut, ein rotes T-Shirt und eine weiße Hose, die Farben des weißrussischen Volksaufstandes.

Keine Arbeit mehr nach Protest

Auch vor der Schule fährt der weiße Polizei-Jeep wieder vorbei. Doch Schymel hat vier seiner Mitkämpfer für freie und faire Neuwahlen zusammengetrommelt. Man trifft sich zwischen ein paar alten sowjetischen Garagen unweit eines Fußballplatzes. Es kommt ein lokaler Kleinunternehmer mit einem Angestellten, eine Verkäuferin und zwei Arbeitslose. Keiner von ihnen hat je für Lukaschenko gestimmt, drei der fünf haben die Wahlen einfach ignoriert. „Es war ja eh klar, wer gewinnt. Erst Swetlana Tichanowskaja hat mir Hoffnung auf eine Wende gegeben“, erzählt die Verkäuferin Natalia. „Seit ich gegen die Wahlfälschungen protestiere, kriege ich keine Arbeit mehr, so einfach ist das hier bei uns“, sagt Siarhei. Der ausgebildete Automechaniker hat in den letzten Jahren immer wieder in Russland gearbeitet, denn in dem strukturschwachen Bezirkszentrum unweit der polnischen Grenze gibt es nur wenige Verdienstmöglichkeiten. Größter Arbeitgeber sind die Verwaltung, die Schule und die privatisierte Kolchose „Milchwelt“. Am besten verdient man bei der Polizei. Doch auch dort kommt kaum jemand auf die offiziellen 500-Dollar-Löhne, derer sich Autokrat Alexander Lukaschenko immer wieder rühmt.

Diesen Polizeibeamten stehen sich die fünf versammelten Aktivisten immer wieder gegenüber, seit es in Welikaja Berastawica am 14. August zur ersten Demonstration in den letzten 30 Jahren gekommen ist. „Wir kennen uns aus der Schule, es sind unsere Nachbarn, deshalb schlagen sie nicht so brutal zu wie in Minsk“, sagt Siarhei. Sie würden ja nur ihre Arbeit tun, müssten eben ihre Familien über die Runden bringen, erklärten die Dorfpolizisten in privaten Gesprächen. 400 Kilometer sind es von hier in die Hauptstadt. Die ersten drei blutigen Protesttage von Minsk und anderen Gebietszentren hat man im Dorf wegen der totalen Internetblockade gar nicht mitbekommen. Wer hier gegen die offensichtlich gefälschten Wahlresultate protestieren wollte, wurde sofort von der Polizei verjagt. Doch die wütenden Bürger wurden immer mehr. Am fünften landesweiten Protesttag kam es auch in Wjalikaja Berastawica zu einer Demonstration. 400 Leute seien vor dem Lenindenkmal gestanden, hätten „Lukaschenko, hau ab!“ gerufen und patriotische Lieder gesungen, erinnert sich Sergej Schymel. Die ersten weiß-rot-weißen Flaggen der Opposition seien aufgetaucht. „Tags darauf haben wir für den Abend eine riesengroße Flagge genäht“, erzählt Natalia, eine zierliche Mittdreißigerin, strahlend. Die Fünfergruppe beginnt, in Erinnerungen ihrer vier großen Protesttage zu schwelgen, als plötzlich wieder der weiße Polizei-Jeep auftaucht. „Nichts wie weg hier!“, sagt der bisher wortkarge Kleinunternehmer Igor.

Die Polizeieinsätze wurden massiver

Das Treffen mit der Auslandspresse wird mehrere Kilometer außerhalb des Dorfes im Wald unweit des Weilers Dworec fortgesetzt. Die Sicherheitskräfte könnten auf die Geolokalisierung der Handys zurückgreifen, doch haben sie offenbar Wichtigeres zu tun. Oder es hat einfach zu lange gedauert. Die Gruppe um Sergej Schymel, der als Einziger schon früher für Oppositionskandidaten Unterschriften gesammelt hat, erzählt nun vom Zusammenbruch der Massenbewegung im Dorf. Zuerst hatte der Bezirksvorsteher offenbar Angst vor einem Machtwechsel bekommen und die Veröffentlichung der lokalen Wahlprotokolle versprochen. Doch es blieb bei Worten, und die Polizeieinsätze wurden massiver, erste Festnahmen folgten. Aus rund 400 Demonstranten seien bald nur noch 50 geworden und inzwischen seien keine Demonstrationen unter der Leninstatue mehr möglich. „Jeder kennt jeden hier, jeder hat einen Verwandten, der beim Staat arbeitet, Privatunternehmer wie mich gibt es eh fast keine“, erzählt der Baufachmann Igor. Bloße Anspielungen, wer die Stelle verlieren könnte, wenn weiter demonstriert würde, genügen so in den meisten Fällen.

Die Gruppe um Schymel stellt sich lachend wie Partisanen zum Foto in dem dichten Laubwald auf. Vom allabendlichen Protest vor dem Lenindenkmal ist sie zu einer Art Fußball-Protest übergegangen. Jeden Abend um 19 Uhr Lokalzeit treffen sich ein gutes Dutzend unzufriedener Bürger zum Kicken und Gespräch auf einem der beiden Fußballfelder des Dorfes. „Und jeden Abend ist die Polizei unser größter Fan im Publikum“, lacht Schymel schelmisch. Kein Spiel würden die Dorfbullen auslassen. Noch hält sein Team einen beträchtlichen Optimismus hoch und verweist auf die Bilder des Widerstands im fernen Minsk. Dort dürften auch am nächsten Wochenende wieder Zehntausende gegen Lukaschenko demonstrieren.

„Ich warte noch einen Monat, wenn der Präsident dann nicht weg ist, fahre ich über die nahe Grenze nach Polen und stelle dort einen Antrag auf Asyl“, sagt Siarhei. „Wenn wir nicht siegen, dann sacken sie uns einen nach dem andern ein“, meint Schymel, der gerade zu einer hohen Buße wegen unerlaubten Demonstrierens verurteilt wurde. Fünf Minuten dauerte seine Gerichtsverhandlung. „Mich kann keiner vertreiben“, gibt sich einzig die Verkäuferin Natalia kompromisslos.