Selbstmorde nach der Katastrophe

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Am zweiten Jahrestag der Nuklear-Katastrophe von Fukushima gingen überall in der Welt Tausende auf die Straße, um gegen die Atomenergie zu protestieren. Im Katastrophengebiet steigt indes die Selbstmordrate.

Ein Abschiedsbrief, geschrieben mit weißer Kreide auf die Wände des Stalls, in dem die Familie den Dung ihrer 36 Milchkühe aufbewahrte, ist alles, was Vanessa Kanno von
ihrem Mann geblieben ist. „Wenn nur das AKW nicht gewesen wäre“, steht dort noch immer in schiefen Lettern. „Ich hoffe, andere Bauern halten durch. Es ist schrecklich, der erste zu sein, der geht. Aber ich habe keinen Antrieb mehr zu arbeiten.“

Drei Monate nach der Kernschmelze im 50 Kilometer entfernten AKW Fukushima Daiichi hat sich Vanessas Mann erhängt. Wegen der hohen Strahlung in ihrer Heimat Soma durften die Kannos ihre Milch nicht mehr ausliefern, nahmen nichts mehr ein. Nur zwei Monate vor der Katastrophe hatte der 54-Jährige einen Kredit aufgenommen, um die Familienfarm zu vergrößern. Seine Schulden konnte er nicht mehr tilgen. Wie ihm ging es hunderten bäuerlichen Familienbetrieben. Nach einer Regierungsschätzung haben sich bis Ende 2012 mindestens 21 weitere Menschen wegen des Atomunfalls das Leben genommen.

Kannos Witwe will jetzt zusammen mit ihren beiden kleinen Söhnen den AKW-Betreiber Tepco auf Schadenersatz verklagen. 110 Millionen Yen (907.000 Euro) fordert die gebürtige Philippinin. „Ich will kämpfen, damit meine Kinder eine Zukunft haben“, sagt die 34-Jährige, die sich und die sieben und acht Jahre alten Jungs seit dem Tod ihres Mannes mit dessen Lebensversicherung über Wasser hält.

Tepco droht Sammelklage

Die Hoffnung auf eine schnelle außergerichtliche Einigung hat sie aufgegeben. „Tepco versucht, uns hinzuhalten“, schimpft Hiroshi Shinomiya, ein Dokumentarfilmer, der das Schicksal der ehemaligen Bewohner der Sperrzone um das AKW dokumentiert und Vanessa bei ihrem Rechtsstreit unterstützt. „Wir haben versucht zu verhandeln, aber wir können nicht immer wochenlang auf Antwort warten.“ In den nächsten Tagen wollen sie die Klage einreichen.

Angesichts ihrer zögerlichen Entschädigungspolitik drohe der Firma nun eine regelrechte Klagewelle, warnen japanische Anwälte. Erst vor wenigen Wochen hatte die Umweltorganisation Greenpeace Tepco vorgeworfen, die Opfer über den Tisch zu ziehen, indem sie beispielsweise den Wert von Grundstücken in der Sperrzone konsequent zu niedrig schätze. Nach eigenen Angaben hat Tepco bislang Entschädigungen in Höhe von 1,9 Billionen Yen (rund 15,7 Milliarden Euro) gezahlt. 160.000 Menschen können noch immer nicht in ihre Heimat zurück.

Pünktlich zum 11. März, dem zweiten Jahrestag des Megabebens, wollen mehr als 500 Einwohner der knapp außerhalb der Sperrzone gelegenen Stadt Iwaki die bislang größte Sammelklage gegen Tepco einreichen und eine Entschädigung für ihre psychischen Belastungen verlangen.

Flucht nach Manila

Kurz nach dem Atomunfall war Vanessa mit ihren Kindern auf die Philippinen geflohen – auf Anraten der Regierung in Manila. Wenige Stunden vor seinem Selbstmord rief ihr Mann ein letztes Mal an. „Ihr braucht nicht zurück nach Japan kommen“, sagte er. Am nächsten Morgen fand ein Mitarbeiter der örtlichen Agrarkooperative seine Leiche. Trotz ihrer Angst eilte Vanessa zurück nach Japan, um die Beerdigung auszurichten.

„Ich habe Angst um die Gesundheit meiner Kinder. Aber ich will ihnen auch nicht die einzige Heimat nehmen, die sie kennen“, sagt Vanessa. Schweren Herzens entschied sie, vorerst in Fukushima zu bleiben. Doch auf dem Familienanwesen war die Strahlung zu hoch. Vier Mikrosievert, etwa das 40fache der natürlichen Strahlung, hat Filmemacher Shinomiya gemessen. Kurz nach ihrer Rückkehr von den Philippinen zog Vanessa mit den Kindern in eine Kleinstadt in der Nähe mit etwas geringeren Strahlenwerten.

Nur weg von Fukushima

„Sobald die Tepco zahlt, will ich weg aus Fukushima“, sagt Vanessa. Irgendwo in Japan will sie ein neues Leben anfangen – egal wo, Hauptsache so weit weg von den Reaktorruinen, dass sie nicht mehr ständig an die Katastrophe erinnert wird.

Den Hof in Soma will sie dennoch auf keinen Fall verkaufen. „Da sind alle unsere Erinnerungen an das schöne Leben, das wir einmal hatten“, sagt Vanessa und kämpft mit den Tränen. „Ich hoffe, dass die Kinder irgendwann wieder dort leben können“, ergänzt sie. Für mehr Zukunftsträume hat sie noch keine Kraft.

Atomausstieg

Angesichts der vielen Opfer, wird überall in der Welt der Ausstieg aus der Atompolitik gefordert. Unter anderem in Paris haben Atomkraftgegner am Samstag mit einer Menschenkette für einen Atomausstieg demonstriert. Nach Angaben der Veranstalter beteiligten sich etwa 20 000 Menschen an der Aktion. Die Polizei sprach von 4000 Teilnehmern. Anlass war der zweite Jahrestag (11. März) der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima.

„Heute inaktiv, morgen radioaktiv» und «Nie wieder Fukushima“ stand auf Plakaten. Von den 19 französischen Atomkraftwerken befinden sich 3 in einem Radius von weniger als 250 Kilometern Entfernung zur deutschen Grenze.

Alles was älter als 30 Jahre ist, ausschalten

„Wir fordern die Stilllegung aller Reaktoren, die über 30 Jahre alt sind“, sagte ein Sprecher. Darunter fallen etwa 20 der insgesamt 58 Reaktoren, darunter auch die Anlage in Cattenom. Organisiert wurde die Menschenkette von dem Bündnis „Sortir du nucléaire“ (Raus aus der Atomenergie).

Frankreich ist nach den USA das Land mit den meisten Kernreaktoren in der Welt. Eine schwere Atomkatastrophe könnte in Frankreich volkswirtschaftliche Schäden in Höhe von mehr als 400 Milliarden Euro verursachen, haben französische Wissenschaftler kürzlich berechnet.