Das Ende der „Pizza-Zeit“?

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Es ist kein arabischer Frühling, denn der Zuckerhut liegt nicht am Tahrir-Platz. Aber die Proteste in Brasilien sind nicht minder politisch wie die einst in Kairo. Im WM-Gastgeberland herrscht Aufbruchstimmung.

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff hat neue Verbündete gefunden – und zwar auf der Straße. „Ich höre Euch!“, sagte die Staatschefin den Hunderttausenden vor allem jungen Brasilianern, die seit Tagen und Wochen für ein besseres Brasilien ohne Korruption demonstrieren. Sie will das Momentum der historischen Massenproteste nutzen, um Reformen durchzusetzen, die oft genug in den Weiten ihrer heterogenen Regierungsallianz versanden. Jetzt sieht sie die Stunde gekommen, um eine umfassende politische Reform anzugehen. Kein ungefährliches Unterfangen ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl.

Fast hat man den Eindruck, als wäre die Staatschefin erleichtert. Die 65-Jährige kennt den Druck und die Macht der Straße, war selbst in der Militärdiktatur aktiv im Widerstand, steht nicht im Verdacht, die Stimme des Volkes von Amtswegen zu ignorieren. „Brasilien ist heute als stärkeres Land aufgewacht“, sagte sie vorige Woche nach den ersten Massenprotesten. Die Demonstrationen wurden stärker und sie legte nun nach: Eine Verfassungsversammlung soll eine umfassende Politikreform in Angriff nehmen, und die Regierung will das durch eine Volksabstimmung legitimieren lassen. Die Krux: Nur der Kongress – der Senat und das Abgeordnetenhaus – kann dieses Plebiszit einberufen.

Volkswillen

„Es ist sehr gut, dass das Volk dies alles in lautem und gutem Ton sagt. Es liegt an jedem von uns – Präsidentin, Ministern, Gouverneuren und Bürgermeistern – diese neue und entschiedene Dimension des Volkswillens zu erfüllen. Wir wissen alle, wo die Probleme liegen“, machte die Präsidentin klar. Es geht um Glaubwürdigkeit, denn das Misstrauen bei den Demonstranten ist groß. Die Proteste richten sich auch gegen das politische Establishment, das in Verruf geraten ist durch zahllose Korruptionsskandale. „Das Volk vereint braucht keine Parteien“, war immer wieder auf Plakaten bei den Demos zu lesen, die vorige Woche weit über eine Million Menschen auf die Straße brachten.

Fahnen und Delegationen von Parteien wurden bei den Protesten nicht geduldet. Die Demonstranten wollen sich nicht vereinnahmen lassen und fürchten aus Erfahrung das in Brasilien geflügelte Wort: „Tudo acaba em Pizza“ (Alles endet bei Pizza). Damit wird die Situation beschrieben, dass politische Kontrahenten sich in Brasilien gerne auf öffentlicher Bühne nach allen Regeln der Kunst beharken und sich abends in trauter Runde beim Italiener um die Ecke zum Pizza-Essen treffen. So versanden Korruptionsaffären, so wird Vetternwirtschaft vertuscht und so laufen Proteste ins Leere. „Alles endet bei Pizza“ – doch diesmal könnte es anders kommen, hoffen die Demonstranten.

Zündstoff

Der Vorschlag nach einer verfassungsändernden Versammlung für eine Politikreform birgt Zündstoff. Die Idee ist nicht wirklich neu, stand immer wieder mal auf der Agenda, ging aber auch immer wieder unter. Mit dem Nimbus der Präsidentin hat der Vorstoß neues Gewicht. Eine Kommission soll ohne direkte Kongressbeteiligung Vorschläge für Verfassungsänderungen erarbeiten, so schwebt es Rousseff vor. Themen könnten das Wahlrecht sein, die öffentliche Parteien- und Wahlkampffinanzierung, Begrenzung der Mandate auf eine Amtszeit, eine Fünf-Prozent-Klausel – all dies fand sich auch als Forderung auf Protest-Plakaten.

Auch wenn der Vorstoß erst noch das gefürchtete Taktik-Wirrwarr des Kongresses in Brasília überstehen muss, haben die Demonstranten bislang schon viel erreicht. Die Fahrpreiserhöhungen für Busse und U-Bahnen wurden landesweit zurückgenommen, in São Paulo legte der Gouverneur die Maut-Erhöhungen für Straßen auf Eis, und in einem Bundesstaat wurden Strompreiserhöhungen kassiert. Und jetzt hat sich faktisch die Präsidentin an die Spitze der friedlichen Proteste gestellt. Der „Primavera brasileira“ („Brasilianische Frühling“) hat den „Grünen Giganten“ in Bewegung gebracht.