Film„Uncut Gems“ ist vielleicht der Netflix-Streifen des Jahres

Film / „Uncut Gems“ ist vielleicht der Netflix-Streifen des Jahres
Howard Ratner (Adam Sandler) ist ein (a)soziales Chamäleon, getrieben vom puren Überlebensinstinkt Quelle: Netflix

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Wer Adam Sandler mit Fäkalhumor und pubertären Teenie-Komödien assoziiert, sollte zumindest für die Spielfilmlänge von „Uncut Gems“ umdenken: Dieser Thriller über einen getriebenen jüdischen Diamantenhändler, der den Deal des Jahrhunderts landen will, ist so ungeschliffen, faszinierend und wertvoll wie der äthiopische Opal, um den sich der Streifen dreht.

Die Filme der Gebrüder Benny und Josh Safdie sind unruhig, treibend und pulsierend. Wie ein Song der Postrock-Band Maserati kommen sie kaum zur Ruhe, die Brüder jagen ihre Figuren durch die dunkelsten Ecken von New York, porträtieren in einem hektischen Bildrausch sowohl den Glamour und die kulturelle Vielseitigkeit als auch die kriminellen Enklaven, die Armut und die verlorenen Existenzen, die durch die Metropole irren. Nachdem „Good Time“ (mit Robert Pattinson) den chaotischen Streifzug seiner Hauptfigur schilderte, die nach einem misslungenen Banküberfall Geld auftreiben musste, um ihren Bruder aus dem Knast freizukaufen, dreht sich in „Uncut Gems“ alles um einen vermeintlichen „Coup du siècle“.

Diamantenhändler Howard Ratner (grandios: Adam Sandler) erwartet die Lieferung eines seltenen, betörenden Opals aus Äthiopien. Nicht nur erhofft er sich vom Verkauf des Juwels, wie er es anfangs beteuert, einen Millionen-Deal: Eine Vielzahl von krummen Deals, leeren Versprechen und wirren Handelsabkommen mit Pfandhäusern haben Ratner in ein Labyrinth aus Schulden geführt, der Blutdiamant scheint sein letzter Ausweg zu sein.

Denn Ratner ist die Wall Street auf zwei Beinen. Bei ihm ist alles Spekulation, Drahtseilakt, institutionalisierte heiße Luft. Er ist ein Meister der Rhetorik, schlängelt sich aus jeder Situation heraus, passt sein Handeln, seine Mimik, seine Gesten stets dem jeweiligen Gesprächspartner an. Mal tritt er als säuselnder Schleimbeutel auf, Minuten später als aggressiver Rohling, hier ist er ein voyeuristischer Lustmolch, da ein genervter Familienvater – Ratner ist ein (a)soziales Chamäleon, getrieben vom puren Überlebensinstinkt. In seiner Weltsicht spielen Frauencharaktere keine große Rolle – Ratners Welt ist testosterongeladen, die weiblichen Figuren konsequenterweise (aber auch bedauerlicherweise) etwas oberflächlich gezeichnet.

Karma und Chamäleon

Als NBA-Star Kevin Garnett sich den Opal ausleiht und in der (vermeintlichen) karmischen Wirkung des funkelnden Steines den sicheren Weg zum Sieg sieht, nimmt er den Juwel erst für sich in Anspruch, schlägt dann vor, ihn Howard abzukaufen – letzterer erhofft sich aber, den eigentlichen Wert des Juwels bei einer Auktion zu vervielfältigen. Was folgt, ist ein einziger, in Blaustich getränkter, vom pulsierenden, ätherischen Soundtrack von Daniel Lopatin getragener Adrenalinrausch. Ratner versucht gar nicht erst, sein Berufs- oder Privatleben in den Griff zu kriegen: Sein Hauptanliegen ist es, die 134 Filmminuten zu überleben – jeder Tag, den er übersteht, ist gleichzeitig ein verbuchter Sieg und ein kleines Wunder.

Sandlers Figur bleibt dabei bis zum bitteren Ende undurchsichtig: Folgt Ratner einem grandios-verschachtelten Masterplan oder ist er ein naiver, spielsüchtiger Tölpel? Man kann durchaus davon ausgehen, dass Ratner selbst am wenigsten weiß, welche Umschreibung auf ihn zutrifft. Für Introspektion ist eh keine Zeit, für Familie noch weniger: Ratner ist allerdings kein Nomade im Sinne von Deleuze, er ist ein dem Kapital unterworfenes Wesen, das rastlos umherrennt. Während des Theaterauftritts seiner Tochter – die Familie ist nicht nur zerrissen, sondern ein bloßes Simulakrum, das während Pessach aufrechterhalten werden muss – textet Ratner seinem Arbeitskollegen, die Schuldeintreiber sitzen ein paar Reihen hinter ihm. Ratner ist überall und nirgendwo, er ist das kapitalistische Pendant zu Schrödingers Katze – diese Überlebensstrategie hat ihm bisher zwar wenig Erfolg eingebracht, ihn aber immerhin nicht das Leben gekostet.

Pures Chaos

Es dauert ein wenig, bis dem Zuschauer ein Überblick über die verworrene Handlung geboten wird – ab der ersten Szene wird ununterbrochen geredet, geschrien, Ratner führt mindestens vier Gespräche gleichzeitig, er handelt, komplimentiert, kommandiert, weist zurück, die Dialoge überlagern sich, man versteht nicht nur sein eigenes, sondern vor allem auch das Wort der anderen nicht mehr. „Uncut Gems“ ist purer Stress – Ratner wird via Telefon, SMS beansprucht, er schuldet der halben Stadt Geld, aus allen Ecken tauchen Schuldeintreiber auf.

Der Film stellt dieses Chaos formal perfekt nach: Bis man geschnallt hat, wem Ratner wie viel schuldet, ist man bereits so tief in diesen Adrenalinrausch eingetaucht, dass man trotz Ratners Unausstehlichkeit mit ihm mitfiebert. Denn „Uncut Gems“ gelingt etwas Unwahrscheinliches: Der Film kommt ohne einen einzigen Sympathieträger aus – und funktioniert dennoch. Das liegt unter anderem, aber nicht nur an der (un)geschliffenen Ästhetik des Films.

In der Mitte des Films gibt es eine einzige Verschnaufpause – vor dem Schlafengehen trägt Ratner den Müll raus. Der Zuschauer ist zu diesem Zeitpunkt bereits so sehr in die Welt von Ratner eingetaucht, dass ihn selbst dieser kurze handlungslose Moment ruhelos lässt – und man der fast schon poetischen Belanglosigkeit dieser Szene nicht traut: Ungeduldig durchforstet man den Hintergrund auf der Suche nach dem nächsten Gauner, der Ratner auf die Pelle rückt.

Selten hat eine Fiktion ein perfekteres Gleichgewicht zwischen Form und Inhalt gefunden: Die Aneinanderreihung der Pläne ergibt einen formlosen, schwindelerregenden Streifen, in dem New York wie ein Labyrinth an Gängen und Sackgassen erscheint. Bevor sich „Uncut Gems“ auf das Wirrwarr der Großstadt fokussiert, verschwimmt in der Anfangssequenz ein äthiopischer Diamantenschacht mit Ratners Innereien: Die Welt der Safdie-Brüder ist ein einziger, auswegloser Irrgarten – „Uncut Gems“ ist Borges auf Kokain.

Pessach, NBA und The Weeknd

In „Uncut Gems“ flüchtet Howard Ratner vor allem vor sich selbst. Sein Leben ist eine Sackgasse, aus der dieser schlüpfrige, schmierige Juwelier nicht mehr herauskommt. Identität ist dabei ein zentrales, aber nie plakativ behandeltes Thema. In einem wahnsinnig chaotischen Telefongespräch mit seinem Hausarzt reden die beiden über die Resultate seiner Endoskopie. „Juden und Dickdarmkrebs“, lacht Ratner erleichtert, der von der Familie bereits zum traditionellen Sederabend erwartet wird – und auf den wertvollen Opal nur deshalb gestoßen ist, weil er in einem Dokumentarfilm über eine afrikanisch-jüdische Gemeinde in Äthiopien sah, wie diese verarmte Gemeinschaft ihre Tora mit schwarzen Diamanten verziert.

Dabei ist seine jüdische Identität eine leere Hülle, er trägt sie wie seine schwarze Lederjacke und seinen Ohrring – bei Ratner ist alles ein Klischee. Ratner tut gleichzeitig so, als wolle er unbedingt zur afroamerikanischen Gemeinschaft dazugehören – auf dem The-Weeknd-Konzert wirkt er allerdings wahnsinnig fehl am Platz, und als er seine Affäre Julia beim Drogenkonsum mit dem Star (wie Kevin Garnett spielt The Weeknd sich selbst) auf der Toilette erwischt, rastet er aus. Schnell stellt man fest: Auch diese Zugehörigkeit ist gespielte, markttaugliche Milieu-Identifikation – Ratner praktiziert kulturelle Aneignung, um sich die Sympathie seiner Käufer zu sichern.

In Ratners endlosen Flucht nach vorne, in diesem trostlos schillernden Labyrinth, in dem die Safdie-Brüder schnelle Dialoge und dissonante Soundschnipsel über hektische Bilder setzen, schlägt das kalte, unbarmherzige Herz des Neoliberalismus. Ratner ist die perfekte Figur des Systems – er hat sich selbst ein System der Schuld, der Versklavung und der Getriebenheit geschaffen, aus der er keinen Ausweg mehr findet – und in dem sich seine eigene Identität immer mehr auslöst. Ratner flüchtet vor der Zugehörigkeit seiner religiösen und familiären Wurzeln – die Welt, in der er landet, ist wie ein Zerrspiegel, der ihm stets nur seine „doofe Fresse“ oder einen mit glitzernden Diamanten behangen Furby widerspiegelt. Im hässlichen Labyrinth des Kaufrausches ist der Mensch so viel wert wie eine gefälschte Uhr beim Pfänder: Solange wir authentisch wirken, überspielen wir die Wertlosigkeit unserer Existenzen.

In den Safdie-Brüdern haben Scorsese und Guy Ritchie ihre Meister gefunden: Die bittere Poesie des kriminellen Alltages verdichtet den Albtraum der neoliberalen Welt, die zwar stilistisch atemberaubend, aber schonungslos daherkommt. Und so ganz nebenbei ist der Film spannender als jeder Krimi.