Expertin über Demo am 4. Dezember„Zur Radikalisierung kann es in allen Bildungsschichten kommen“

Expertin über Demo am 4. Dezember / „Zur Radikalisierung kann es in allen Bildungsschichten kommen“
Eine Minderheit der Demonstranten legte beim Protest gegen die Corona-Maßnahmen radikale Tendenzen an den Tag Foto: Editpress/Claude Lenert

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Wie kommt eine Radikalisierung bei Menschen zustande? Mit dieser Frage hat sich das Tageblatt an Karin Weyer, Direktorin der Vereinigung „SOS Radicalisation“, gewendet. Fazit: In Bezug auf die Corona-Maßnahmen beginnt der Prozess im Internet und findet – wie am vergangenen Samstag gesehen – als Rückwirkung darauf Einzug ins „Offline“-Leben.

Tageblatt: Was können Sie als Direktorin von „SOS Radicalisation“ über die Ausschreitungen am vergangenen Samstag in Luxemburg-Stadt sagen? Was waren das für Leute?

Karin Weyer: In Bezug auf die Bildung haben wir noch keine genauen Daten. Allgemein über Radikalisierung beziehungsweise Extremismus kann man allerdings feststellen, dass es keinen Bildungseffekt gibt. Zur Radikalisierung kann es in allen Bildungsschichten kommen. Zum Teil gibt es Trends: Am 9/11 war die Mittel- bis Oberschicht beteiligt. Die waren hoch ausgebildet, während es bei den Attentaten in Paris rund um das Bataclan eher die Verlierer der Gesellschaft waren. Bei den Leuten, die wir sehen, scheint es quer durch den Garten zu gehen. Man kann nicht sagen, dass es sich um ein Bildungsproblem handelt und wenn man dies lösen würde, hätte man alles im Griff.

Radikal ist ja nur eine Minderheit, die bei der Demo am Samstag dabei war. Manche haben Plakate am symbolträchtigen Sockel der „Gëlle Frau“ vorgezeigt, die den QR-Code des Impfpasses mit dem Judenstern gleichstellen. Ist das eine Form der Radikalisierung?

Ja, das ist ganz klar eine Form der Radikalisierung. Es ist eine Verharmlosung der Shoah. Es ist Antisemitismus. Es ist gar keine Frage, dass dies Sachen sind, die absolut nicht gehen. Radikalisierung bedeutet auch, Angst- und Bedrohungsszenarien aufzubauen. Bisher haben wir eine Radikalisierung in Bezug auf die Corona-Maßnahmen im Internet klar beobachten können. Das waren unter anderem antisemitische Äußerungen wie etwa die Gleichstellung mit dem Judenstern, die dort immer wieder aufgetaucht ist. Das, was nun am Samstag passiert ist, kann man als Rückwirkung ins „real life“ verstehen. Ziel des Terrorismus ist es, Angst zu machen. Diesen Duktus benutzen diese Leute auch. Sie wollen Angst verbreiten. Das war offensichtlich. Das ist eine Dimension, die wir in Luxemburg zum Glück noch nicht hatten und die sich hoffentlich auch nicht etablieren wird.

Beabsichtigen diese Leute anhand der Verbreitung von Angst, dass die sanitären Maßnahmen gelockert werden könnten?

Bei den Elementen, die eher aus den rechtsextremen Kreisen stammen, bin ich mir gar nicht sicher, ob das bezweckt werden soll. Ziel dieser Kreise ist es, die Demokratie und die Gesellschaftsform infrage zu stellen und die Demokratie ins Wanken zu bringen oder sogar zu kippen. Corona ist ein willkommenes Mittel dazu. Die sanitären Maßnahmen helfen ihnen dabei, Leute zu finden, die sich hinter sie stellen. Ob die Lockerung der sanitären Maßnahmen ihr erstes Ziel ist, kann ich nicht sagen.

Viele Leute haben ja nicht gewusst, dass es am vergangenen Samstag zu Grenzübertretungen kommen würde. Jetzt wissen sie es ja und sollten sich dementsprechend davon abgrenzen.

Karin Weyer, SOS Radicalisation

Dann nehmen diese Leute Corona beziehungsweise die sanitären Maßnahmen nur als Vorwand, um Krawall zu machen?

Ja, aber nur die „Pusher“ nehmen dies als Vorwand. Jene, die das Event organisiert haben, und jene, die sich bei bestimmten Aktionen in Pose gesetzt haben. Es gibt sehr viele Leute, die einfach nur mitgezogen sind, weil ihnen die sanitären Maßnahmen auf die Nerven gehen.

Was sind das denn für Leute, die so radikal sind? Wieso sind sie radikal?

Wir sagen immer, dass es verschiedene „Push“- und „Pull“-Faktoren gibt, die einen dazu bringen. Sie sind sehr vielfältig. Ein Element ist die Auffassung, dass viele der Radikalen nun eine lange Zeit dazu verdammt waren, inaktiv zu sein beziehungsweise sich ruhig zu verhalten, damit man die Pandemie in den Griff bekommt. Da ist genau dies eine Möglichkeit, jetzt aktiv zu werden, um eine Position zu vertreten. Das ist ein sogenannten „Pull“-Faktor. Sicherlich spielen auch Frust und Unzufriedenheit eine Rolle sowie die Angst vor dem Impfstoff, den sanitären Maßnahmen oder einfach dem, was in unserer Gesellschaft passiert. Angst ist ein Gefühl, das relativ schlecht auszuhalten ist und gerne in Wut ausartet. Die Wut ist auch kein schönes Gefühl, aber damit kommen wir Menschen viel besser klar, weil wir durch die Aggression dieser Wut agieren können. Wenn wir dann in die Verschwörungstheorien eintauchen, finden wir einfache und spannende Erklärungen für diese blöde Situation durch ein blödes Virus, in der wir uns nun befinden. Der Mensch braucht Erklärungen, weil er verstehen will, was passiert. Lieber also eine falsche Erklärung als gar keine.

Und was ist mit den „Push“-Faktoren?

Die „Push“-Faktoren stammen eher von den Personen selber: Frust, Angst, Unsicherheit. Wenn diese Sachen zusammenkommen und dahinter eine funktionierende Rhetorik steckt, kann das dazu führen, dass man einen Schritt weiter geht, als man es bislang getan hat.

Und dann kann man von „radikal“ sprechen?

Ja.

Wie kann man denn nun vorgehen, um solche Szenen zu verhindern?

Präventiv geht es darum, wie wir unser Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft gestalten. Und vor allem gilt die Frage, wie wir die Demokratie organisieren, wenn wir hochemotionale Themen und große Kontroversen haben. Ein Teil ist die Demokratiebildung. Dazu gehört auch die Feststellung, dass eine Demonstration Regeln hat. Sie ist ein Teil eines demokratischen Rechtssystems. Eine Demonstration melde ich an und spreche mit der Polizei ab, welche Route wir einnehmen. Ist das eine Bildungsfrage? Vielleicht. Für manche Leute gilt das sicherlich, weil sie sich dessen nicht bewusst sind, für andere weniger, weil sie es bewusst falsch machen.

Demokratiebildung sollte natürlich in den Schulen stattfinden, wobei man Demokratie nicht ex cathedra lernen kann. Die muss man leben. Bei unseren Schulen in Luxemburg handelt es sich allerdings nicht wirklich um demokratische Institutionen. Da brauchen wir andere Pisten. Die Schulen müssen demokratischer, also partizipativer werden. Aber wir brauchen zudem noch andere Stellen, wo auch Erwachsene, die nicht mehr in der Schule sind, gelebte Demokratie lernen können. Unsere Demokratie hat Defizite. Ein Teil der politischen und kontroversen Debatte ist sicherlich auch teilweise zu kurz gekommen. Ganz am Anfang war es legitim, im „Etat de crise“ auf Krisenmodus umzuschalten. Aber dies haben wir irgendwie nie für beendet erklärt. Es ging zwar zurück in die „Chamber“, aber es kam nie wirklich zu einer Debatte, die das Ringen um den richtigen Weg abdeckte.

An einen Demokratie-Unterricht in der Schule kann ich mich jedenfalls nicht erinnern …

Ich weiß auch nicht, ob das funktionieren würde. Ich hatte mal einen „Civique“-Unterricht, in dem man lernt, welche Institutionen es in einer Demokratie gibt, aber das alleine reicht sicherlich nicht. Demokratie ist etwas Lebendiges. Demokratie heißt, dass man sich auf unterschiedliche Weisen einbringen kann. Im Parlament, aber nicht nur dort. Demokratie passiert auch, wenn ich mich an einer Demonstration beteilige. Es ist ein legitimes und absolut demokratisches Recht, mich auf diesem Weg zu äußern, wenn es keinen anderen Weg gibt.

Die Demonstration am Samstag hat aber ein paar demokratische Regeln missachtet.

Ja, das gehört definitiv nicht zum Demokratieverständnis.

Was sollte man denn tun, um das Demokratieverständnis zu fördern?

Wir haben in Luxemburg eher eine Konsens-Mentalität. Was uns vielleicht fehlt, ist eine Streitkultur, in der man emotionale Konflikte innerhalb eines Rahmens debattieren kann und nach bestmöglichen Lösungen sucht. Es wäre wichtig, dies in den Bildungsinstitutionen einzuführen. Dort sollten die jungen Leute ermutigt werden, Position zu ergreifen, zu debattieren und zu argumentieren. Das sind Sachen, die man durchaus lernen kann.

Wie kann man präventiv vorgehen, um die Radikalisierung zu unterbinden?

Um präventiv vorzugehen, sollte man sich die Frage stellen, wie Radikalisierung funktioniert. Welche Methoden benutzen diese Leute, um andere in ihren Bann zu ziehen? Denn die Anhänger suchen nach einer Bestätigung ihrer Meinung. Wenn ich das weiß, dann hilft das ein Stück weit, dagegen anzukämpfen. Dann fällt mir eher auf, was ich gerade dabei bin, zu tun.

Sind Sie der Meinung, dass diese radikalen Elemente auch bei der nächsten Demo wieder zum Einsatz kommen, sich die Stimmung vielleicht weiter aufheizt oder glauben Sie eher, dass sich die Lage nun beruhigt?

Ich hoffe, dass viele Leute am Samstag dabei waren, die dies nicht so wollten. Ich hoffe, dass diese Leute nun sagen, dass sie sich nur noch jenen Demos anschließen, die regulär angemeldet sind und die ohne Anwendung von Gewalt funktionieren. Ich glaube eher, dass die Gruppe der friedlichen Demonstranten sich dessen bewusst geworden ist, was dort abging und andere Möglichkeiten finden wird, wie sie ihren berechtigten Unmut weiter äußern kann.

Das hat auch etwas mit Verantwortung zu tun. Viele Leute haben ja nicht gewusst, dass es am vergangenen Samstag zu Grenzübertretungen kommen würde. Jetzt wissen sie es ja und sollten sich dementsprechend davon abgrenzen.

Wenn die Leute so reagieren, indem sie sich abgrenzen, dann ist ja etwas in den Köpfen dieser Menschen passiert.

Genau. Ich hoffe, dass ich da richtig liege. Wir müssen abwarten, was nächstes Wochenende passiert.

SOS Radicalisation Asbl

Die „SOS Radicalisation Asbl“ beschäftigt sich mit den Themen Prävention, gewalttätige Radikalisierung, Deradikalisierung sowie mit den unterschiedlichen Formen von Extremismus. Ihre Entstehung geht auf einen Beschluss des luxemburgischen Regierungsrats 2016 zurück. Mitte 2017 hat die Vereinigung, die im Internet auf der Seite respect.lu zu finden ist, ihre Arbeit aufgenommen.