RetroWie Andy Schleck die Tour 2010 gewann (7/8): „Chef auf dem Tourmalet“ 

Retro / Wie Andy Schleck die Tour 2010 gewann (7/8): „Chef auf dem Tourmalet“ 
Andy als Sieger auf dem Tourmalet Foto: „Goldene Zeiten“/Petz Lahure/EPA

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Vor zehn Jahren beendete Andy Schleck die Tour de France hinter Alberto Contador auf dem 2. Platz, wurde aber am 6. Februar 2012 wegen einer positiven Dopingprobe des Spaniers zum Sieger erklärt. Das „Maillot jaune“ bekam er am 29. Mai 2012 im Mondorfer Casino übergestreift. In einer achtteiligen Folge erzählt Petz Lahure, wie es zu dem historischen fünften Luxemburger Tourerfolg kam. Heute (7/8): „Chef auf dem Tourmalet“.

Der Fakt, dass Alberto Contador ausgerechnet in dem Moment zum Angriff blies, als Andy Schleck wegen eines Kettendefekts vom Rad gestiegen war, wurde in der Tour-Karawane heftig kritisiert. Die Entschuldigung des Spaniers kam per Video, doch fiel es schwer, dieser verspäteten Bitte um Vergebung nachzukommen.

„Ich hoffe, dass mein Verhältnis zu Andy so gut bleibt wie bisher“, sagte Contador. „Als ich attackierte, hatte er ein mechanisches Problem. Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Es tut mir aufrichtig leid. In der entscheidenden Phase des Rennens denkt man nur daran, schnell zu fahren. Ich bin nicht glücklich über die Umstände, weil für mich Fairplay sehr wichtig ist.“

Ein Heuchler?

Der Rechtfertigungsversuch des neuen Tour-Leaders war für viele „suiveurs“ denn auch nichts anderes als eine Ausrede, um seinen Rennstall und die Sponsoren, die ihm bis zu fünf Millionen Euro pro Jahr zahlten, zufriedenzustellen.

Ehrlichkeit oder Heuchelei? Schwer zu beantworten! Schleck hatte am Tag nach dem Vorfall ein kurzes Gespräch mit Contador. Er nahm dessen Entschuldigung an und forderte das Publikum in Pau auf, die Pfiffe gegen den Spanier einzustellen. Andy zeigte dabei ein Fairplay, wie es nur ganz großen Champions eigen ist. Er wollte seine Revanche auf dem Terrain nehmen, dort, wo der Sport ja auch hingehört.

Eigentlich hatten die Organisatoren die Teilstrecke Bagnères-de-Luchon – Pau als Hauptetappe der Tour 2010 erkoren. Dies zur Erinnerung an den legendären Solo-Ritt von Eddy Merckx aus dem Jahr 1969. Damals legte „der Kannibale“, wie Merckx wegen seiner Sucht auf Etappen- und Schlusssiege genannt wurde, am Tourmalet den Grundstein für den ersten seiner fünf Tour-Siege.

Nicht wie Merckx

Bei der nach Mourenx-Ville-Nouvelle führenden Etappe attackierte Eddy im Anstieg und gewann nach einer über 130 km langen Einzelflucht mit rund acht Minuten Vorsprung. Bei der Tour 1969 trug Merckx noch fünf weitere Etappen davon: eine in den Vogesen, eine in den Pyrenäen, die Einzelzeitfahren bei Revel und Divonne-les-Bains sowie das abschließende „Contre-la-montre“ nach Paris. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, holte sich Eddy damals alle Wertungen: das „Maillot jaune“, das „Maillot vert“, das Bergpreisklassement und die erst 1968 eingeführte „Kombination“. Lang, lang ist’s her …

Die Etappe von 2010 nach Pau aber blieb in ihrer Intensität weit entfernt von dem, was Merckx 41 Jahre zuvor zum Besten gab. Nicht einmal Lance Armstrong, der sich in die „échappée du jour“ mogelte, konnte die Fahrt durch die prächtige Landschaft der Pyrenäen aus ihrer Lethargie erwecken. So gewann mit Pierrick Fedrigo einer, der am Berg nicht einmal stark ist. Der Franzose hatte schon 2006 (Gap) und 2009 (Tarbes) eine Tour-Etappe gewonnen. In Pau siegte er vor Sandy Casar, einem Landsmann. Damit durfte Frankreich den dritten aufeinanderfolgenden Etappenerfolg feiern, den sechsten insgesamt bei dieser Tour. Das gab es seit 1997 nicht mehr.

Alle zu Andy

Das „Psychodrama“ zwischen Schleck und Contador sollte also für weitere 24 Stunden via Medien fortgesetzt werden. Am Ruhetag logierten sowohl die Astana- als auch die Saxo-Bank-Mannschaft im Novotel Pau Lescar am „Rond Point“ der Route de Bayonne. Dort erwartete man am frühen Nachmittag des 21. Juli großes Gedränge, denn beide Teams setzten ihre Pressekonferenz auf 14.30 Uhr an.

Dann, urplötzlich, eine Änderung. Alberto Contadors Frage-und-Antwort-Spiel mit den Medien würde nicht stattfinden, ließ Presseattaché Jacinto Vidarte wissen. Der Tour-Leader habe am Vortag im Interviewraum alles gesagt, was zu sagen sei. Die Pressevertreter mussten sich also nicht in zwei teilen, als sie durch die Eingangstür des Novotel schritten. „Alle zu Schleck“, hieß die Devise. Und deshalb war die riesige Parkanlage hinter dem Hotel überfüllt mit Journalisten, Fotografen und vielen, die dort nichts, aber auch gar nichts zu suchen hatten.

„Stärker geworden“

Andy Schleck, der in der Gesamtwertung acht Sekunden hinter seinem Rivalen lag, hatte nur e i n e Wahl: Er musste angreifen, wenn er diese Tour gewinnen wollte. Das versprach er bei der Pressekonferenz immer wieder, wobei er eine derartige Gelassenheit und Überzeugungskraft ausstrahlte, dass die Mehrzahl der Anwesenden ihm zutraute, seinen Plan in die Realität umsetzen zu können.

„Nie zuvor habe ich vor so vielen Journalisten geredet“, sagte Andy, „da bin ich um eine Erfahrung reicher geworden. Im Radsport, meinem Beruf, sammele ich diese Erkenntnisse seit dem 19. Lebensjahr. Ich bin im sechsten Jahr Profi, weiß also, was ich kann und wo ich hin will. Ich war nie so stark wie momentan. Seit Rotterdam sind fast drei Wochen vergangen. Ich bin ausdauernder und kraftvoller geworden.“

„Ein grosser Champion“

„Andy ist ein großer Champion, der zu allem fähig ist“, meinte Bjarne Riis, der Andy bei der Pressekonferenz unterstützte. „Wir haben uns am Morgen den Col de Marie-Blanque angeschaut und sind danach ins Tal nach Luvie-Juzon gefahren“, sagte Riis, wobei er auf die Frage eines Journalisten, ob Andy vorhabe, im Marie-Blanque-Anstieg anzugreifen, flachste: „Ja, genau dort wird er angreifen.“

„Wenn’s ums Ganze geht, sind Alberto und ich allein“, prophezeite Andy im Hinblick auf diese letzte Pyrenäenetappe, die auf den Gipfel des Col du Tourmalet führte, der 2.115 m über dem Meeresspiegel liegt. Es handelte sich um die schwerste Bergankunft der Tour 2010. Der Weg von Bagnères-de-Bigorre nach Barèges wurde von Napoleon III. hergerichtet. Die Einweihung fand am 30. August 1864 statt, also 46 Jahre bevor sich die Tour-de-France-Fahrer erstmals über den von unserem Landsmann Alphonse Steinès für den Radsport entdeckten Berg quälten.

„Der Chef“

Tourmalet bedeutet „schlechter Umweg“. Ein solcher Weg war der Anstieg allerdings weder für Contador noch für Schleck. Der Luxemburger tat, was man von ihm erwartete. So wie er es angekündigt hatte, attackierte er. Ein kurzer Antritt genau 10 km vor dem Ziel sollte die Vorentscheidung bringen. Andy Schleck löste sich vom Feld, doch „sprang“ der aufmerksame Contador sogleich in sein Hinterrad, um dieses bis praktisch an den Zielstrich nicht mehr zu verlassen.

Nur einmal übernahm er im Schlussanstieg für kurze Zeit die Führung. Zu fahren blieben in dem Augenblick noch 3,9 km. Der Überraschungscoup aber misslang. Der souveräne Schleck schloss sofort wieder zu seinem Gegner auf und warf ihm einen warnenden Blick zu. „In diesem Anstieg bin ich der Chef“, schien er zu sagen.

Wieder Sarkozy

Andy brachte es zwar nicht fertig, seinen Gegner in der langen Steigung zu distanzieren, doch feierte er oben auf dem Berg seinen zweiten Etappensieg, den 69. für Luxemburg in der Geschichte der Tour. Den ersten Erfolg holte Schleck in Morzine-Avoriaz, sodass er bei der Tour 2010 je einmal in den Alpen und in den Pyrenäen als Sieger über den Strich fuhr.

Contador, der dem Luxemburger praktisch die ganze Führungsarbeit überlassen hatte, war nicht unverfroren genug, um Andy auf der Zielgeraden anzugreifen und ihm den Etappenerfolg abzujagen. So durfte Schleck neben dem Siegerstrauß auch die Sonderprämie von 5.000 Euro für den „Souvenir Henri Desgrange“ einheimsen, der mit dem Etappenerfolg verbunden war. „Vous venez toujours quand un de nous gagne“, sagte Andy auf dem Podium zum französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy. Im Jahr 2009 war dieser auch in Le Grand-Bornand anwesend, als Andys Bruder Frank den Sieger stellte.

Weiter träumen

„Ich habe das Maximum gegeben“, meinte Andy, „doch war es unmöglich, Alberto abzuhängen“. Der Luxemburger versuchte wirklich alles, drückte im Anstieg aufs Tempo und verlangsamte ab und zu. Durch den fortwährenden Rhythmuswechsel wollte er den Spanier aus dem Konzept bringen. Dieser aber fuhr äußerst konzentriert, blieb schön brav im Hinterrad seines Gegners und zeigte in keinem Moment eine Schwäche. Hunderttausende von Zuschauern, darunter viele exzentrische, die die Fahrer oft behinderten, sorgten im Nebel und Regen für eine historische Etappe am Tourmalet.

„Ich halte die ganz große Form“, sagte Andy. „Beim Zeitfahren werde ich bis an die Grenzen meiner physischen Belastbarkeit gehen. Die Tour ist noch nicht vorbei. Für mich ist weiterhin alles machbar.“

Andy bei der Pressekonferenz in Pau
Andy bei der Pressekonferenz in Pau Foto: Marie-Paule Schock

Serie

In einer achtteiligen Serie von Petz Lahure blickt das Tageblatt auf den Tour-Sieg von Andy Schleck aus dem Jahr 2010 zurück. Der 8. und letzte Teil, „Die Apotheose“, folgt am Samstag, dem 25. Juli.