RetroWie Andy Schleck die Tour 2010 gewann (3/8): „Das Aus für Frank Schleck“

Retro / Wie Andy Schleck die Tour 2010 gewann (3/8): „Das Aus für Frank Schleck“
Tour-Arzt Gerard Porte eilte Frank Schleck damals zur Hilfe. In der Klinik von Valenciennes stellten die Mediziner nach der Röntgenuntersuchung einen dreifachen Bruch des Schlüsselbeins fest. Foto: AFP/Joel Saget

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Vor zehn Jahren beendete Andy Schleck die Tour de France hinter Alberto Contador auf dem zweiten Platz, wurde aber am 6. Februar 2012 wegen einer positiven Dopingprobe des Spaniers zum Sieger erklärt. Das „Maillot jaune“ bekam er am 29. Mai 2012 im Mondorfer Casino übergestreift. In einer achtteiligen Folge erzählt Petz Lahure, wie es zu dem historischen fünften Luxemburger Tourerfolg kam. Heute (3/8): „Das Aus für Frank Schleck“.

Lance Armstrong muss ein Hellseher gewesen sein, als er im Vorfeld der dritten Etappe über die Kopfsteinpflaster vor einem „Blutbad“ warnte. Armstrong sagte einen „hektischen Tag“ voraus, an dem nur noch 30 oder 40 Fahrer vorne bleiben würden. Im selben Zusammenhang sprach Jens Voigt (immer noch vor der Etappe) von einer „überflüssigen Gefährdung der Gesundheit der Radprofis“. Originalzitat: „Wir werden den einen oder anderen Fahrer mit gebrochenem Arm oder Schlüsselbein auf der Strecke lassen.“ Und Bjarne Riis wies darauf hin, dass man auf den „Pavés“ die Tour nicht gewinnen, aber durchaus verlieren könnte.

Der böse Sturz

Wie recht sie doch alle hatten! Niemand aber wagte auch nur im Entfernsteten daran zu denken, dass es die eigene Mannschaft treffen könnte. Kaum war das zusammengeschrumpfte Peloton in den „Pavé“-Sektor Nummer fünf in Sars-et-Rosières eingebogen, als auch schon Alarm geschlagen wurde. Frank Schleck war ohne fremde Einwirkung das Hinterrad weggerutscht. Der Luxemburger Meister konnte sich nicht gegen den Sturz wehren und schlug hart auf dem Boden auf. Frank blieb regungslos liegen, das linke Schlüsselbein war lädiert. In der Klinik von Valenciennes stellten die Ärzte nach der Röntgenuntersuchung einen dreifachen Bruch fest.

Noch am späten Abend wurde Frank nach Luxemburg ins „Centre hospitalier“ überführt, wo er bis um 3.00 Uhr in der Nacht operiert wurde. Das Schlüsselbein des prominenten Patienten musste mit einer metallenen Platte verschraubt werden (acht Schrauben). Schleck durfte tags darauf nach Hause, wo er die Etappe Cambrai – Reims im Fernsehen verfolgte.

Vom Glück verlassen

Ironie des Schicksals: Am gleichen Tag lagen zwei unserer besten Sportler in demselben Krankenhaus. Kim Kirchen, der nach seinem Herzstillstand bei der Tour de Suisse und der Behandlung in der Uni-Klinik von Zürich im CHL neue Kräfte sammelte, schaute sich die Tour 2010 in seinem Krankenzimmer an. Am 8. Juli brachte seine Frau Caroline nebenan in der „Clinique Dr. Bohler“ die Zwillingsbuben Mika und Liam zur Welt. Kim durfte bei der Geburt dabei sein.

Das Glück, das Frank Schleck, dem zweimaligen Fünften der Tour de France, bei all seinen vorherigen Stürzen auf den Straßen Europas zur Seite gestanden hatte, war auf einmal hin. Für ihn war die Tour, bei der er aufs Podium fahren wollte, frühzeitig beendet. Dasselbe galt auch für den Franzosen David Le Lay (Schlüsselbein- und Ellbogenbruch) und den Australier Simon Gerrans (schwere Gesichtsverletzungen).

Ungefähr um die gleiche Zeit, als Frank Schleck zu Boden ging, blies Fabian Cancellara, der die Schlecks über die Kopfsteinpflaster führen sollte, zur Attacke. Mit Franks Bruder Andy am Hinterrad preschte er den Tour-Mitfavoriten Alberto Contador und Lance Armstrong davon.

„Nach vorne schauen“

„Es tut mir wirklich sehr leid um Frank“, meinte Cancellara, als er in Arenberg das „Maillot jaune“ zurückerobert hatte. „Wir durften nach dem Malheur nicht zurück-, sondern mussten nach vorne schauen. Ich sagte Andy, es wäre jetzt an der Zeit, den andern Konkurrenten Sekunden abzuknöpfen. Wir mussten rollen, es blieb uns keine andere Wahl.“ In Arenberg konnten „Canci“ und Andy mit ihrer Bilanz zufrieden sein. Beide waren die großen Gewinner des Tages. Cancellara streifte das „Maillot jaune“ über, das er tags zuvor an Sylvain Chavanel verschenkt hatte, während Andy Schleck sich in der Gesamtwertung auf den sechsten Rang nach vorne arbeitete, mit 1’09“ Rückstand auf seinen Schweizer Teamgefährten. Dabei wandelte er einen 42-Sekunden-Rückstand gegenüber Alberto Contador in einen Vorsprung von 39 Sekunden um.

Andy und Frank bildeten das Gesprächsthema Nummer eins in der Tour-Karawane. Sie waren als Bruderpaar ein willkommener Aufhänger für die internationalen Medien, zumal ihr exemplarisches Zusammengehörigkeitsgefühl seinesgleichen in der Sportwelt suchte.

Das Einmaleins

Diejenigen, die überrascht waren, dass Andy so gut auf den berüchtigten „Pavés“ mithielt, wussten nicht um die Vergangenheit des jungen Fahrers. Andy war ein ausgesprochenes Talent, das sich in allen Situationen zurechtfand. Als blutjunger Fahrer bestritt er viele Querfeldeinrennen, die ihn im Umgang mit seiner Rennmaschine auf ebenen und unebenen Terrains vertraut machten. Bei diesen Prüfungen lernte er das Einmaleins der Körperbeherrschung, das ihm auf der Straße nach Arenberg von unschätzbarem Nutzen war.

Schon 1997 stand Andy als Minime ganz oben auf dem Podium beim Cyclocross von Rümelingen. Zu Beginn seiner Querfeldein-Karriere wurde er einmal Meister (Junioren, 2002) und zweimal Vizemeister (Débutants, 2000, 2001). Obwohl er am 6. Juli 2010 seinen ersten Renntag auf dem Kopfsteinpflaster erlebte, schlug er sich überraschend gut. Seine „Jungfräulichkeit auf den Pavés“, wie er lachenden Mundes bei der Pressekonferenz vor der Tour sagte, verlor er kurz zuvor im Training mit seinen Mannschaftskollegen. Bei diesem Training wurde die Marschroute für die „Blutbad“-Etappe (dixit Armstrong) festgelegt. Vorne die Lokomotive Cancellara, dahinter die Waggons Schleck, so stand es im Drehbuch von Bjarne Riis.

Mit den Worten „Wir durften nach dem Malheur nicht zurück-, sondern mussten nach vorne schauen“, hatte Fabian Cancellara (vorne) seinen Teamkollegen Andy Schleck angespornt
Mit den Worten „Wir durften nach dem Malheur nicht zurück-, sondern mussten nach vorne schauen“, hatte Fabian Cancellara (vorne) seinen Teamkollegen Andy Schleck angespornt Foto: AFP/Bernard Papon

Gemischte Gefühle

Dass alles anders kam und die Rechnung nur halb aufging, wollte das Schicksal. Nicht eingeplant war, dass Frank Schleck auf dem „Pavé“-Sektor von Sars-et-Rosières unglücklich stürzen und aufstecken würde. Im Team Saxo Bank herrschten am Abend gemischte Gefühle. Frank Schleck hatte man „verloren“, gleichzeitig aber das Gelbe Trikot zurückgewonnen und Andy Schleck in eine aussichtsreiche Position gebracht.

Alberto Contador, der Toursieger von 2007 und 2009 (13. auf 1‘13“), und Lance Armstrong, den ein Reifenschaden auf 2‘08“ zurückwarf, waren die großen Geschlagenen der Etappe. Der Amerikaner lag in der Gesamtwertung auf Rang 18 mit 1‘21“ Verspätung auf Andy Schleck. Er schien aus dem Rennen um den Gesamtsieg zu sein, während neben Contador nun Cadel Evans (3. der Gesamtwertung auf 39“) zum gefährlichsten Konkurrenten von Andy Schleck avancierte. Den jungen Geraint Thomas (2. im Gesamtklassement auf 23“) und den erstaunlichen Ryder Hesjedal (4. auf 46“) aber durfte man auch nicht aus dem Auge verlieren.

Die Sprinter

Etappensieger in Arenberg wurde der norwegische Meister Thor Hushovd, dessen Wut vom Vortag über den „neutralisierten“ Sprint in Freude umschlug, als er das „Maillot vert“ übergestreift bekam. Für Hushovd war es der siebte Sieg bei der Tour de France.

Nach dem Massenspurt von Reims, bei dem Alessandro Petacchi seinen Gegnern zeigte, dass er trotz seiner 36 Lenze noch lange nicht zum alten Eisen gehörte, war auf der fünften Etappe von Epernay nach Montargis erneut mit einer Ankunft des kompakten Feldes gerechnet worden. So wie im Jahr 2006, als letztmals die mit ihren 127 Brücken als „Venedig des Gâtinais“ bekannte 15.000-Einwohner-Stadt angesteuert wurde und der Australier Robbie McEwen sich durchsetzte. Diesmal ließ Mark Cavendish nichts anbrennen. Er wurde meisterhaft von seinem australischen Kumpel Mark Renshaw auf die Zielgerade gelotst und ergriff 400 m vor dem Strich selbst die Initiative. Zwei Tage später wiederholte der Brite seinen Etappensieg in Gueugnon.

Fuentes und kein Ende

In der Tour-Karawane wurde unterdessen vehement über einen Artikel der französischen Sportzeitung L’Equipe diskutiert, in dem der belgische Manager Rudy Pevenage offen bekannte, dass sein jahrelanger Schützling Jan Ullrich, der bekanntlich die Tour 1997 gewonnen hatte, in die Doping-Affäre „Operacion Puerto“ verwickelt war. Pevenage gestand u.a., Ullrichs Flüge zum spanischen Dopingarzt Eufemiano Fuentes organisiert zu haben. „Ja, ich habe die Reisen von Jan nach Madrid zu Fuentes geplant. Ich habe aber selbst nie Dopingprodukte gekauft oder verkauft.“

Laut Pevenage trafen sich Ullrich und Fuentes in dieser Zeit „fünf- bis sechsmal pro Jahr“. Von Blutbehandlungen bei Ullrich habe er, Pevenage, jedoch „keine Kenntnis gehabt“. Vielmehr sei er von seinem Schützling, der oft Probleme mit dem Übergewicht hatte, gebeten worden, den Kontakt zu Fuentes herzustellen.

Und Armstrong?

Pevenage verdächtigte auch Ullrichs stärksten Widersacher Lance Armstrong des Dopingmissbrauchs: „Wir waren keine Idioten. Wir kannten Armstrong vor seiner Krebserkrankung. Die Verwandlung nach seiner Rückkehr war unglaublich. Wir haben schnell begriffen, dass es keine andere Wahl gab.“ In einem Bericht des Bundeskriminalamtes, der 2009 im Nachrichtenmagazin Der Spiegel erschien, hieß es: „Der Beschuldigte Ullrich nutzt das Dopingsystem des spanischen Arztes Dr. Fuentes, um sich vertragswidrig mit leistungssteigernden Mitteln und Methoden auf seine Wettkämpfe vorzubereiten.“ Die Bonner Staatsanwaltschaft ermittelte, verzichtete am Ende aber gegen eine Zahlung von 25.000 Euro auf ein Verfahren gegen Pevenage. Auch Jan Ullrich einigte sich durch einen zehnmal höheren Betrag mit der Behörde.

* In seinem Buch „Nichts als die Wahrheit“, das kürzlich im Delius-Klasing Verlag erschienen ist, spricht Pevenage offen über „die Dopingpraktiken Ende der 1990er bzw. Anfang der 2000er Jahre“.

Serie

In einer achtteiligen Serie von Petz Lahure blickt das Tageblatt auf den Tour-Sieg von Andy Schleck aus dem Jahr 2010 zurück. Der 4. Teil, „Andys erster Streich“, folgt am Samstag, den 11. Juli.

Technische Probleme

Wegen eines technischen Problems hatte sich in der Samstagsausgabe der Tour-Serie ein Fehler eingeschlichen: Autor des zweiten Teils ist Petz Lahure. Wir bitten um Entschuldigung.