Sichtflug nach dem LockdownVirologe Claude Muller über eine intelligente, faktenbasierte Exitstrategie

Sichtflug nach dem Lockdown / Virologe Claude Muller über eine intelligente, faktenbasierte Exitstrategie
Paulette Lenert und Xavier Bettel bei einer Krankenhausvisite: Virologe Claude Muller plädiert für an die verschiedenen Risikoszenarien angepasste Lockerungen  Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

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Prof. Muller arbeitet seit 25 Jahren am Luxembourg Institute of Health in der Überwachung von Viren und Virusepidemien in dutzenden Ländern Afrikas, Asiens und Europas. In seinem Gastbeitrag für das Tageblatt plädiert der Virologe für eine klare Kommunikation der Zahlen zu Neuinfektionen nach Alter und Risikofaktoren. Das würde die Eigenverantwortung der Menschen unterstützen. Der Sichtflug solle transparent sein – auch um den zunehmenden Bedarf an Glaubwürdigkeit zu decken.

Luxemburg befindet sich zurzeit in der kritischsten Phase des Lockdowns: den Lockerungen. Wie weit die Lockerungen gehen können, hängt letztlich von jedem Einzelnen ab: Je disziplinierter wir die Abstands- und Hygienemaßnahmen trotz Lockerungen einhalten, umso „lockerer“ können wir das andere Ufer erreichen. Das andere Ufer ist eine epidemiologisch relevante Herdenimmunität. Diese gilt es zu erreichen, sei es durch eine kontrollierte, protrahierte Exposition und/oder durch Impfen –  wenn es denn soweit ist.

Um diese Durststrecke mit möglichst wenig gesundheitlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, demokratisch-politischen Kollateralschäden hinter uns zu bringen, brauchen wir eine intelligente, Fakten-basierte Exitstrategie. Es war ein verbreitetes Missverständnis, dass nach dem Lockdown eine nennenswerte Herdenimmunität erreicht sei. Erwartungsgemäß haben gerade mal zwei Prozent der Bevölkerung die Krankheit in Luxemburg durchgemacht. Epidemiologisch hat sich bis zum Ende des Lockdowns also nichts geändert.

Der Lockdown gab uns die Zeit und die Einsicht, um zu planen, wie es danach weitergehen könnte. Wo und wie kommt es im landeseigenen sozioökonomischen Setting zur Ausbreitung des Virus, welche Bevölkerungsgruppen haben ein hohes Infektionsrisiko, welches sind die Risikoverhalten, die die Infektionsketten unterhalten. Welches Risikoprofil lässt eine Krankenhaus- oder gar Intensivbehandlung erwarten? Und wer stirbt an COVID-19?

Epidemiologisch hat der Lockdown nichts geändert

Die Regierung hat erst vor kurzem die Altersverteilung der CoVID-positiven Personen mitgeteilt (Stand 15.5.20): Die Jahrgänge von 15 bis 50 Jahre verzeichneten die meisten Fälle, aber niemand ist gestorben. 15 Prozent der Hospitalisierten waren unter 50. Unter den Patienten mit Intensivbehandlung waren 19 Prozent unter 50 und weitere 17 Prozent zwischen 50 und 60. Neun Prozent der Gestorbenen waren zwischen 50 und 69, zwei Drittel über 79. Besonders Menschen im höheren Alter wurden also Opfer von COVID.

Außer Alter und Geschlecht wurden bisher keine Patientendaten systematisch analysiert, teilte die Gesundheitsministerin auf eine parlamentarische Anfrage mit. Dabei wären Angaben zu den altersspezifischen Risikofaktoren einer Hospitalisation und Intensivbehandlung wichtige Eckdaten für die Exitstrategie, sowohl für den Einzelnen als auch für die öffentliche Gesundheit.

Als Ziel für den Rollback gibt die Regierung eine maximale Belegung der Intensivbetten vor. Nicht mehr als 40 bis 50 Intensivbetten sollten mit COVID-Patienten belegt sein. Das ist eine sinnvolle und realistische Vorgabe, sofern unsere Krankenhäuser dies nicht nur kurzfristig durchhalten. Denn: Eine relevante Herdenimmunität ist noch lange nicht in Sicht.

Intensivbetten stehen der gesamten Bevölkerung zur Verfügung, werden aber je nach Alterskategorie, Komorbidität (und ggfs. anderen Risikofaktoren, die sich aus den bisher knapp 4.000 Patienten hätten ergeben können), sehr unterschiedlich in Anspruch genommen. Entsprechend sollte das Altersprofil und die Komorbidität der Neuinfektionen bewertet werden: Sind unter 50 Neuinfektionen nur acht 70-Jährige, so ist dies akzeptabel. Täglich fünfzig Neuinfektionen bei 70-Jährigen könnten das System dagegen schnell überfordern.

Strategie der drei Altersgruppen

Das Profil der Neuinfektionen liefert also wichtige Eckdaten für den Sichtflug nach dem Lockdown und für die Krankenhausplanung der darauffolgenden ein bis zwei Wochen. Dagegen schlagen Interventionen zur Lockerung oder Intensivierung der Restriktionen erst nach drei bis vier Wochen auf den Intensivbettenbedarf durch. Hier wären luxemburgische Zahlen hilfreich.

Für die Rollback-Strategie könnten grob drei Altersgruppen unterschieden werden, auch wenn alle zur Verbreitung des Virus beitragen. Die Gruppe bis zu etwa 50 Jahre braucht nur ausnahmsweise eine Intensivbehandlung. Sie bildet den aktivsten Teil der Bevölkerung. Sie ist von den Bewegungseinschränkungen am härtesten betroffen, als Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene, Eltern und (Haupt)erwerbspersonen. Sie macht den Großteil des öffentlichen Lebens aus.

Eigenverantwortung kann nur wahrnehmen, wer die entsprechende Information zur individuellen Risikoeinschätzung hat

Diese Gruppe einzuschränken, legt das wirtschaftliche Leben lahm. Als Arbeitnehmer sind sie auch in stärkerem Maße von Kurzarbeit, Lohneinbußen usw. betroffen, obwohl ihre Bereitschaft sich einzuschränken, vor allem ihren älteren Mitbürgern zugutekommt. Die Wahrscheinlich einer COVID-Infektion ist in dieser Gruppe aufgrund der Kontakte und der Aktivitäten besonders groß, aber zu Komplikationen kommt es vorwiegend bei Patienten mit Vorerkrankungen. Deshalb ist in dieser Alterskategorie der zusätzliche Schutz vor allem auf Personen mit Risikovorerkrankungen zu richten. Diese können aber durchaus landesspezifisch sein (z.B. wenn Hypertoniker oder Diabetiker hier besser medikamentös eingestellt sind als anderswo).

Bei den Älteren jenseits des 75. Lebensjahres nehmen die COVID-Morbidität und Komplikationsrate und damit der Bedarf an Intensivpflege rasch zu, insbesondere bei bestehenden Vorerkrankungen. Diese Menschen sind nicht mehr berufstätig, ihre Mobilität nimmt ab. Sie lassen sich wesentlich besser durch gezielte Maßnahmen schützen. Sind zu viele dieser Menschen unter den Neuinfizierten, steigen die Hospitalisierungsrate und der Bedarf an Intensivbetten rapide. Dies ist immer dann der Fall, wenn ihre Abschirmung unzureichend ist.

Maßnahmen gezielt nachbessern

Situativ-angepasste Maßnahmen müssen gezielt nachgebessert werden, ohne dass die gesamte Bevölkerung und das gesamte gesellschaftliche wie wirtschaftliche Leben in Mitleidenschaft gezogen werden. Diese Menschen werden sich letztlich abschirmen entsprechend ihrer spezifischen Lebens- und Wohnsituation, ihrer persönlichen Risikobereitschaft und -einschätzung. Leben sie alleine, können sie ihre Kontakte zwar selber steuern, aber sie bleiben in hohem Maße von der Rücksicht und Solidarität ihrer Angehörigen und Besucher abhängig. Im Altersheim endet die individuelle Freiheit da, wo das Schutzbedürfnis der Gemeinschaft beginnt.

Zwischen den 50- und 75-Jährigen befindet sich eine Altersgruppe, die zum Teil beruflich und privat noch sehr aktiv und mobil ist. Die meisten haben noch viele Qualitätsjahre vor sich. Sie sind als Gruppe schwer zu schützen und ihnen obliegt eine besonders hohe Eigenverantwortung für den Selbstschutz, getragen von gesellschaftlicher Solidarität und Empathie. So wie es Premier Bettel immer wieder zu Recht betont.

In dieser Altersgruppe hängt das individuelle Risiko neben dem Alter maßgeblich von den bestehenden Vorerkrankungen ab. Für diese Gruppe sind Informationen zum Profil der in Luxemburg hospitalisierten, intensivbehandelten und gestorbenen Patienten, also der spezifischen Risikovorerkrankungen besonders wichtig. Diese sollten dringend untersucht werden, offen kommuniziert werden und nicht aus angeblichen Datenschutzgründen zurückgehalten werden.

Öffentliche Quarantäneräumlichkeiten

Auch Risikosituationen und -verhalten sollten kommuniziert werden. Typischerweise kommen bis zu 50 Prozent der Fälle in definierten Risikocluster vor. Zum Beispiel in Haushaltscluster! Da mutmaßlich viele Infektionen gerade durch oder trotz häuslicher Quarantäne an nicht-infizierte Haushaltsmitglieder oder sonstige soziale Kontakte weitergereicht werden, sollten öffentliche Quarantäneräumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden, in denen COVID-Positive unter medizinischer Beobachtung genesen können. Dies käme dem Wunsch der Ärzteschaft nach einem COVID-Krankenhaus ein Stück näher.

So könnten Infektionsketten unterbrochen werden, die über die Haushalte laufen, besonders wichtig in Mehrgenerationenhaushalten. Hier könnten auch positiv-getestete Personen aus Sammelunterkünften oder ohne Wohnsitz aufgefangen werden. Andererseits sollte auch die Möglichkeit zur reversen Quarantäne angeboten werden für Personen, die selber gesund sind, aber in ihrem häuslichen Umfeld Kontakte zu COVID-positiven Patienten (in Quarantäne) potenziell ausgesetzt sind. Auf sie könnte das Angebot der Regierung für eine entsprechende, sichere Unterbringung ausgeweitet werden.

Für jeden Einzelnen gelten die vorgeschriebenen und empfohlenen Distanzierungs- und Hygienemaßnahmen. Für die genannten Gruppen ist zusätzlich ein abgestimmtes kollektives wie auch individuelles Vorgehen erforderlich, auch nach der individuellen Risikoeinschätzung. Diese Eigenverantwortung kann aber nur wahrnehmen, wer die entsprechende Information hat. Zahlen zu Neuinfektionen sollten deshalb deutlich nach Alter und Risikofaktoren kommuniziert werden, um den Sichtflug transparent zu machen und den zunehmenden Bedarf an Glaubwürdigkeit zu decken.

TNT
25. Mai 2020 - 13.01

Grosso modo, hoffentlech sinn aer plaeng mei präzis, soss klappen aer konstrueiert Buuden awer zesummen ewei een Kaartenhaus. Eben mal einfach Pi mal Daumen. Weiter SO, aber nichts mehr bauen. BITTE! Denken Sie an die Gesundheit des Bauherren.... wann een dovun ausgeet datt keen gestuerwen ass deen mei jonk wär wie 50). Dovun ausgeht, sagt doch schon einfach alles. Architecte mit Statikabschluss oder ohne?

Architecte
25. Mai 2020 - 11.50

@TNT "Neun Prozent der Gestorbenen waren zwischen 50 und 69, zwei Drittel über 79. Und die restlichen 25%??" Ma wahrscheinlech grosso modo zweschen 69 a 79 geif ech alt mol soen....(wann een dovun ausgeet datt keen gestuerwen ass deen mei jonk wär wie 50).

Andrea
24. Mai 2020 - 22.04

@dnt "Virologen, habt ihr nicht schon genug Schaden angerichtet??" Nein, Sie und ihre Kollegen Impfgegner kriegen das allein fertig. "..Wo sind ihre 4000- 15000 tote. " Sie haben wirklich gar nichts verstanden.

J.C.Kemp
23. Mai 2020 - 20.19

Der ganze Lockdown war doch bloss ein Sichtflug, durch dichten Nebel. Hat mehr Schaden angerichtet als genutzt. Überstürzte Massnahmen. gefolgt von 180° Richtungswechsel (keine Masken nötig - Maskenpflicht) und wieder neue Massnahmen, Strafandrohungen und Strafbescheide auf wackligen Füssen mit zweifelhafter Verfassungsmässigkeit. Hört auf! Hört endlich auf!

Jean-Marie Grober
23. Mai 2020 - 20.06

Ach, die "wundersamen" Ratschläge des Herrn Professor! Ein Tempo-Taschentuch in die Mundschutzmaske schieben, dann kann auch die Wegwerfmaske mehrmals benutzt werden, den Covid-19-Infizierten eine "rote Mütze" verpassen, um sie kenntlich zu machen. und ein Covid-19-Spital einrichten, damit dort die Patienten in Quarantäne gesetzt werden können usw. Virologen und Epidemiologen scheinen sehr "spezielle" Menschen zu sein. Vom Gag mit dem Tempo-Taschentuch in der Maske mal abgesehen, aber die "rote Mütze" ist nicht mehr weit von anderen Stigmata entfernt (rosa oder gelbe Sterne u.a.) und auch die Aussonderung von Covid-19-Patienten in speziellen Krankenhäusern hat einen äusserst fragwürdigen Beigeschmack. Das Tageblatt hat dem Herrn Professor CPM eine ganze Seite eingeräumt. Wobei mir der Beitrag von Dr. Robert Hemmer (Point de vue) weitaus wichtiger erscheint, weil dieser sicherlich mindestens genauso fachlich kompetent ist wie der des Herrn Professor und darüber hinaus eine viel grössere soziale und menschliche Kompetenz aufweist. Diese scheint verschiedenen Epidemiologen und Virologen definitiv abhanden gekommen zu sein, wie es jenseits der Mosel der Liebling der Talkshows, der Herr Professor Doktor Epidemiologe und SPD-Politiker Karl Lauterbach (aka Dr Doom) jedes Mal beweist, wenn er den Mund auftut.

dnt
23. Mai 2020 - 4.16

Virologen, habt ihr nicht schon genug Schaden angerichtet?? Wie könnt ihr euch noch jeden Tag in den Spiegel anschauen ?? ..Wo sind ihre 4000- 15000 tote. Ich kann das nicht mehr hören....Lügen über Lügen....

Familie Psycho
22. Mai 2020 - 18.21

Wir, meine Frau und ich wollten nach 10 Wochen Zuhause, in unserem Garten oder im Wald mal sehen wie das so ist unter Leuten nach so langer Zeit. Wir waren durch die Eifel bis nach Trier, da hier ja noch immer wie im Knast ist, oder wie es eben Frau Lehnert und ihrem Sohn so passt. Fazit: Wir können keine Menschen mehr sehen, man bekommt Angst unter Leuten. Gibt es Hilfen in dieser Situation.

Charles HILD
22. Mai 2020 - 16.48

Die Strategie der drei Altersgruppen ist wohl ein dummer Witz. Mir hat man immer gesagt, dass alle Menschen gleich sind. Niemand darf auf Grund seines Alters diskriminiert werden. Der prominenteste Vertreter der Herdenimmunität ist derzeit Präsident der Vereinigten Staaten. Bitte Herr Muller, suchen Sie eine vernünftige und menschliche Strategie. Viele ihrer Kollegen vertreten weitaus schlauere Modelle.

TNT
22. Mai 2020 - 16.45

auch um den zunehmenden Bedarf an Glaubwürdigkeit zu decken. Zweimal!! wir dies im Artikel wiederholt. Bedarf und Glaubwürdigkeit! umso „lockerer“ können wir das andere Ufer erreichen. Welches Ufer, das der Glaubwürdigkeit....? UND Definiere Lockerer! Das andere Ufer ist eine epidemiologisch relevante Herdenimmunität. Die Menschheit ist also eine Herde, OK, pas mal net schlecht, ja, treue brave Schafe. Epidemiologisch hat der Lockdown nichts geändert. Also warum blieben die Käfigtüren zu?? demokratisch-politischen Kollateralschäden, verbergen oft QUERSCHLÄGER. Neun Prozent der Gestorbenen waren zwischen 50 und 69, zwei Drittel über 79. Und die restlichen 25%?? Fragen über Fragen. Aber keine Antworten. wer die entsprechende Information zur individuellen Risikoeinschätzung hat. Welche Information? und/oder durch Impfen – wenn es denn soweit ist. Bald, sehr bald